Aber – Und

Gestern blieb ich in den ersten sieben politischen Seiten der aktuellen Ausgabe (Jg. 80/ Nr. 40) der Süddeutschen Zeitung stecken. Die Beiträge zum Tod Alexej Nawalnys, vor allem die Bestandsaufnahme zur Wirkung des Toten in der politischen Landschaft Russlands auf der Seite 3, und der Kommentar von Cathrin Kahlweith auf der Meinungsseite (S. 4), machten mich nachdenklich. Wer war Alexej Nawalny? Wie lassen sich seine Strategien erfassen? Wie hätte Russland unter seiner Präsidentschaft ausgesehen, wenn er als zugelassener Kandidat die Wahl 2018 gewonnen hätte? Wie beschrieben sich die Beziehungen Europas und Deutschlands zu diesem Russland? Ich weiß, historische Spekulationen haben allenfalls metatheoretische Bedeutung. 

Gedanklich festgesetzt wurde ich durch die Berichte im Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz. Das Interview mit Bundeskanzler Scholz (S. 2), der sich zunehmend zum Trommler für die militärische Stärke Europas macht, mit den ihm eigenen Ungenauigkeiten im Rhythmus und ungelenken Wirbeln, die so niemals ein dynamisches, klares und mitreißendes Fundament für solide Politik abgeben können, der analytische Kommentar von Stefan Kornelius zu „Krieg und Frieden“, der Sequenz, in der V. Putin Politik denke, macht mich mutlos. Ist eine martialische Aufrüstung die einzige Sprache, die der Kreml versteht? Atommacht Europa? Lassen wir uns vom Kreml und den ihm zuspielenden anderen Staaten zurückwerfen in das Jahr 1983, wo „in Ost und West ‚nachgerüstet‘ und ‚nach-nachgerüstet‘“ wurde (Schulte u.a., 1984, Vorwort)?

Entsetzt hat mich der Beitrag „Eingemauert in Schmalkalden“ (S. 7). Dort wird von der dritten aggressiv-militanten „Protest“-Aktion nach Biberach und Schorndorf nun in Floh (Schmalkalden) gegen Politiker der GRÜNEN berichtet. Worte sind wirksam. Vor allem die „Aber“-Worte, wie sie aus den Reihen der beiden „Christlichen“ Parteien und den „Freien“ Wählern gegen die grüne Partei und deren Politiker:innen gesetzt werden. Norbert Frei, Professor für Neue und neueste Geschichte und Kolumnist in der Süddeutschen verweist dazu in seinem Beitrag „Der Unterschied“ (S. 5) auf die Macht der Worte, die eben deshalb mit Bedacht und Verantwortung zu wählen seien, gerade in den aktuellen Demonstrationen gegen Rechts. Mir selbst fielen die sprachlichen Unschärfen und auch manche gut gemeinte und gleichzeitig entgleiste Formulierung in einer Demo auf, an der ich teilnahm. 

Mir steht bei allem der Gedanke auf: Wieviel „Aber“-Denken steckt in alldem, in den Reaktionen zum Tod A. Nawalnys, der sehr rasch als Mord benannt wurde? In dem nach dem Februar 2022 zweiten Rüstungsaufschrei europäischer Politiker? In den aggressiven Handlungsweisen protestierender Gruppen gegen eine demokratische Regierungspartei?

Die Wirkung von „Aber“ und „Und“ werden in der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (Wengenroth, 2012) und der Achtsamkeitspsychologie (Huppertz, 2022) untersucht. Schauen wir uns das genauer an: Hinter der Konjunktion Aber verbirgt sich eine adversative Denkfigur. „Aber“ signalisiert im Satzgefüge den Widerspruch, die Schmälerung der Geltung einer Annahme oder Behauptung durch den Einwand. Die Verwendung des „Aber“ operiert damit, dass manches wünschenswert ist, aber eben nicht möglich. Fragwürdig ist der Hinderungsgrund: Ist jener real (Tatsachen, Gegebenheiten) oder „bezieht [er] sich auf innere Reaktionen (Gefühle, Erinnerung), die mit der Umsetzung der entsprechenden Handlung verbunden wären“ (Wengenroth, 2012, S. 51)? Dieses zweite, affektive Aber wirkt genauso ausschließend wie das erste, realistische Aber: Wir Europäer würden ja gerne Machtpolitik auf dem Weg ökonomischer Repression (Sanktionen) machen, aber die Aggression des Kremls zwingt uns jetzt militärische Machtausübung auf. Welchen Charakter hat dieses „Aber“? Ist es nicht auch durch das Hilflosigkeitsgefühl gekennzeichnet, weil eben vielen Staaten das Hemd näher ist als die Jacke und die verhängten, massiven Sanktionen gegen Russland auf vielfältige Weise umgangen wurden? Wir werden im Sinne des „Aber“-Denkens in den kommenden Monaten in der Politik auch folgendes Argument  hören: „Wir sehen die sozialen Härten, die Notwendigkeit einer progressiven Klimapolitik durchaus, aber uns sind die Hände finanziell durch die Rüstungsausgaben und die Ukrainehilfen gebunden.“ Dagegen lassen sich leicht neue Aber-Sätze formulieren, die die demokratische Mitte durch diverse gefühlte Unzufriedenheiten immer weiter zermürben. 

Deshalb empfiehlt die Psychotherapie in Situationen des eher affektiven Widerstands: „Aus einem Aber ein Und machen!“ (Wengenroth, 2012, S. 51) Was heißt das? „‚Und‘ ist ein Wort, das den Umgang mit der Vielfalt, der Unveränderlichkeit und dem Chaos um uns herum erleichtert.“ (Huppertz, 2022, S. 43) Zugegeben, es fällt uns schwer, das Viele zunächst einmal ungeordnet nebeneinander stehen zu lassen. Denn Chaos macht Angst. Wir sind als Europäer mit unserer philosophisch-griechischen und römisch-pragmatischen Denktradition gewohnt, mit dem präfrontalen Verstandeshirn das Chaos „in Angriff“ (!) zu nehmen: planende Attacke, strikte Regeln, eindeutige Strategien und logische Realitätsreduktion bestimmen unseren Umgang mit der Vielfalt der Wirklichkeit. Ziel der ganzen Operation: Sicherheit als Vermeidung von Angst! Kann es nicht sein, dass die rationale Vereinfachung auch die Einfalt fördert, die affektiv leicht infizierbar ist und rasch zu massenhafter Ausbreitung von Bedrohungsgefühlen und Angst führt? Sehen wir der Tagespolitik nicht ihre Verzweiflung angesichts der Überkomplexion des Realen und Digitalen an? Mit jedem neuen Gesetz werden -zig Ausnahmen verabschiedet. Das ist nicht zuerst der Unfähigkeit der Politiker zu zu schreiben, ob mit oder ohne Ausbildungsabschluss (siehe M. Söders Einlassung am Politischen Aschermittwoch zu seinem gut ausgebildeten Schutzhund im Gegensatz zu zwei Politiker:innen der Regierungsparteien ohne Ausbildungsabschluss, zit. in: Süddeutsche Zeitung, S. 7). Die Hilflosigkeitsanmutung ist auch der Diversität gesellschaftlicher, ökonomischer und globaler Realitätsanforderungen geschuldet. Wer der Diversität mit vorwiegend schmälerndem und ausschließendem „Aber“-Denken begegnet, verirrt sich zunehmend im Dschungel von Verschwörungsannahmen, propagandistischen Vereinseitigungen, auf der rationalen Verstandesebene schwer widerlegbaren Zuspitzungen. 

Worin nun besteht der Charme des „Und“? Es „ermöglicht eine Leichtigkeit des Umgangs mit mehr oder weniger schwierigen Situationen“ (Huppertz, 2022, S. 43). A. Navalny entschied sich angesichts der Gesundung nach dem Giftanschlag des Kremls zur Rückkehr nach Russland. „Er hat das immer damit begründet, dass ein Navalny im Exil ein zu großes Geschenk für den Kreml gewesen wäre.“, schreiben S. Bigalke und F. Nienhuysen in der Süddeutschen (S. 3). Er hätte jedem „Aber“ Vorschub geleistet: Navalny ruft zum Widerstand gegen den Kreml auf, „aber“ er selbst lebt im Westen. Was immer der Westen für Russen an Vorstellungen evoziert! „Ein Oppositioneller hinter Gittern aber, das ist eine ständige Erinnerung an Putins große Schwäche, dass er es nie gewagt hatte, sich Nawalny bei einer Wahl zu stellen.“ (S.3) Das „aber“ in diesem Satz sollte zum „und“ redigiert werden: Opposition und Gefängnis, Lebenspräsenz und Todesrisiko. So würde ich Navalnys Einstellung pointieren. Er stellte sich nach seiner Wiederherstellung in Deutschland dem „Und“-Denken: Ich bin wieder soweit genesen – und was geschieht noch? Navalny waren bei seiner Rückkehr nach Russland neue und harte Repressalien des Kreml sicher. Das entsprach den Anmutungen und der Atmosphäre des Putinregimes. Und es entsprach den Anmutungen und der Atmosphäre Navalnys und seiner Organisation, sich dem zu stellen. Er sah wohl beides nebeneinander – und nicht als sich „aberhaft“ ausschließend. Das begründete seine machtvolle Wirkung.

Der Politik täte es gut, öfter einmal das „Und“-Denken zu favorisieren: Rüstung und Friedensarbeit, Sparsamkeit und erforderliche Investitionen, Migration und innere Sicherheit, Rechtsstaat und demokratische Gewaltenteilung, Freiheit und Verantwortlichkeit! Das „Und“-Denken macht uns deutlich, dass Klarheit und Unübersichtlichkeit zusammengehören. Klarheit stellt den Blick auf einen bestimmten Wirklichkeitsbereich scharf. Und die Scharfsichtigkeit für den Focus bedeutet Inkaufnahme von Unschärfe um den Focus herum, an den Rändern der Wahrnehmung. M. Huppertz (2022, S. 143) fasst dies aus der Perspektive einer achtsamkeitspsychologisch orientierten Erkenntnistheorie in die Frage: „Was wäre, wenn Orientierung und Desorientierung, Klarheit und Unklarheit keine Gegensätze wären und nicht erst Antworten neue Fragen erzeugen, sondern all das gleichzeitig und miteinander kommt und geht? … Was würde das an unserer Denkweise ändern?“ 

Quellen

  • Süddeutsche Zeitung Nr. 40 (Jg. 80), S. 1 – 7
  • Huppertz, M. (2022). Die Kunst da zu sein. Mabuse-Verlag
  • Schulte, C., Seebaß, G., Thöle, B. & Tugenhat, E. (1984). Philosophie und Frieden. Verlag Europäische Perspektiven
  • Wengenroth, M. (2012). Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT). Beltz-Verlag