Zukunftsfähigkeit durch Regression oder Sorge?

Die SZ vom Samstag (Nr. 99 vom 29./30.04/01.05.2023, S. 1) titelte: „Die Grünen in der Falle: Die Partei des Wirtschaftsministers Habeck ist in der Ampel zunehmend isoliert.“ SPD und FDP bremsen die Grünen aus. Sie stempeln die Grünen als „Verbotsorganisation“ ab. Bundeskanzler Scholz und Finanzminister Lindner rücken angesichts zunehmend schwerer zu vermittelnder grüner Projekte wie Klimaschutz, Heizungsreform, Kindergrundsicherung, Finanzierung der Migrationsfolgen enger zusammen. Die Stichworte apostrophieren zukunftsorientierte Projekte. Sie drücken das Interesse am Überleben unserer Erde, Europas und unserer Gesellschaft aus. Welche politischen Agenden sind tatsächlich zukunftsoffen? 

Statt dessen gerät derzeit grüne Zukunftsverantwortung unter Ideologieverdacht. Statt dessen wird das „Weiter so“ als „Technologieoffenheit“ verkauft. Zukunftsfähigkeit wird auf die technologische Frage verkürzt, die den alterhergebrachten Machbarkeitswahn einer früher einmal erfolgreichen Industrialisierung codiert, der neben dem unablässigen Fortschritt auch die Reparatur aller Folgeschäden zugetraut wird. Dabei ist gerade in Deutschland Ressentiment gegenüber Digitalisierung und KI zu beobachten – ein Widerspruch zum Vertrauen in die Technologie? Oder entlarvt „Technologieoffenheit“ das konservative Bekenntnis zu den bewährten Industrieformen, Auto, Werkzeugbau, Chemie?

Die protechnologische Argumentation weiter Teile der FDP und der CDU/CSU wird mit dem Ideologieverdacht gegenüber grünen Projekten verbunden, um von der eigenen Ideologie einer marktliberalen Konservativität abzulenken. Dabei hat der neoliberale Politikwechsel die westlichen Demokratien innerlich zunehmend destabilisiert (Habermas, 2022, S. 36 f.). Nicht zuletzt dadurch, dass neoliberal geprägte Demokratie erlaubt, „eine verkehrte Welt innerhalb des Systems zu installieren“ (Sasse, 2023, S. 33). Denken wir an zunehmend autokratische Anmaßungen, wie wir sie in der Präsidentschaft Trumps oder im „Querdenken“ während der Pandemie erlebten. Silvia Sasse (2023) weist darauf hin, dass demokratisch verfasste Gesellschaften vor der Entstehung autokratischer Dominanz- und Machtstrukturen in ihrer Mitte nicht sicher sind. Was als Umcodierung von Begriffen beginnt (Technologieoffenheit als Code für neoliberal-konservative Regression angesichts der Klimaveränderung), führt zu Verkehrungen der Interpretation der Absichten (Klimaschutz als ideologisches Kontrollbedürfnis der Grünen) und letztlich zum „Zwiedenken“, wie es G. Orwell in seinem Roman „1984“ beschreibt. Jenes „spekuliert auf die Fähigkeit des Menschen, mit und in Antinomien leben zu können“ (Sasse, 2023, S. 113). Wir sehen uns Klimaphänomenen konfrontiert, die zunehmend irritierend wirken, im überfluteten Ahrtal 2021 für 133 Menschen tödlich waren  (Quelle: https://reportage.wdr.de/chronik-ahrtal-hochwasser-katastrophe). Dennoch verhalten wir uns kaum anders. Wir halten den Widerspruch zwischen der erlebbaren Realität des Klimawandels und den Versprechungen, mit ausreichender Technologieoffenheit bekommen wir das alles geregelt, aus. Wir stöhnen unter den ohnehin zusammengestutzten grünen Projekten zum fraglichen Erreichen der Klimaziele. Wir neigen dazu, den Ideologieverdacht dagegen zu übernehmen und den Politikern zu glauben, die uns ein geringfügig modifiziertes „Weiter so“ auf der Grundlage bewährter Technologie suggerieren. 

Demokratische Verantwortung in der politischen Diskussion sieht anders aus: Was wir brauchen, sind nicht bequeme Versicherungen. Was wir lernen sollen, ist, uns den unbequemen Verunsicherungen zu stellen. Nicht nur in der Klimapolitik, sondern auch in der Wirtschafts-, Sozial-, Bildungspolitik. Außenpolitisch zwingt uns der andauernde und brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine das Umdenken und Umsteuern in einen kritischen Pazifismus auf, der für politisch grün-orientierte Bürger:innen den Bruch mit dem vertrauten Friedensdenken bedeutet. Ähnliche Änderungsbereitschaft der Perspektive, der Einstellung und des Verhaltens wird in den anderen Politikbereichen auch notwendig sein. 

Was tut not? Nicht eine Ideologisierungsdebatte, um das konservative Projekt zu retten und dabei die Zukunft zu verspielen. Vielmehr: Sicherheit als größtmögliche Wahrscheinlichkeit verstehen zu lernen, Denken in offenen Prozessen einüben; „Betrauerbarkeit“ (Butler, 2021, S. 99) als Kriterium für das Wertvolle, das durch selbstgewählte Blindheit verloren geht, ernstnehmen; statt das unbequeme, Sorgen und Befürchtungen auslösende Denken ab zu tun, uns auf die Endlichkeit des Lebens und des Lebendigen einzulassen. Weil die Lebensprozesse endlich sind und wir Menschen mutmaßlich die einzigen Lebenden sind, die ein ausdrückliches Wissen davon entwickeln können, ist es unsere ethische Pflicht, die Zeit, die wir haben, als Möglichkeitsraum, sinnvoll zu sein und zu handeln, nutzen. Etwas mehr öffentliche Reflexion und weniger quotengenerierender Talk ist dabei ein Schritt unter vielen anderen. 

Robert Habeck zeigte in den ersten Monaten der Ampel, wie öffentliche Reflexion kommunikativ gestaltet werden könnte. In der Dauerdefensive, in der sich die Grünen derzeit befinden, ist der Raum und die Energie dafür eng geworden. Es fehlen die Hörbereitschaft für die leisen Töne, die Ruheräume für die Reflexion, die Kommunikationshoheit der politischen Institutionen gegenüber den ausufernden Polittalks und den „disrupted public spheres“ der Social Media (Habermas, 2022, S. 64). Wir dürfen uns – und das ist eine der Intentionen des Aufrufens eines „postfaktischen Zeitalters“ – nicht an „die Gleichzeitigkeit von Lüge und Wahrheit“  (Sasse, 2023, S. 114) gewöhnen. Wir sollten uns bewusst machen, das die Behauptung eines „postfaktischen Zeitalters“, das mit eben dieser Gleichzeitigkeit spielt, eine „bewusst gewählte Machtstrategie“  für eine „Subversion von oben“ sein kann (Sasse, 2023, S. 148). Jeder kann ihr widersprechen, sich ihr entziehen, wenn wir lernen, mit unserer Endlichkeit und damit auch mit der Sorge darum, wie es weiter geht, entschieden zu leben: Zur Grundverfassung des Menschen gehört ebendiese Sorge (Riedel, 2023, S. 25). Die Freiheit, sich von der Macht subjektiv zu emanzipieren, befindet sich ganz in deren Nähe (Foucault, 2009). Und die Verantwortung? Sie liegt direkt bei uns.

Quellen:

  • Butler, J. (2. Aufl. 2021): Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen. Suhrkamp
  • Foucault, M. (2009): Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/82. Suhrkamp
  • Habermas, J. (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp
  • Orwell, G. (22. Aufl. 1974): 1984. Ein utopischer Roman. Diana-Verlag
  • Riedel, C. (2023): Dasein als Sorge. Die Cura-Fabel bei Heidegger und die antike Sorgekultur (epimeleia), in: Praxis Palliative Care Nr. 58/2023, S. 22 – 25
  • Sasse, S. (2023): Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machtttechnik. Matthes & Seitz

Philosophie: die „Lücken im Verhau“

„Es wird viel geredet, aber nur selten ernst gemacht. Nur so kann viel geredet werden. Denn der Ernst verschlägt einem die Sprache.“ Hannes Böhringer macht in seinem Buch „Lücken im Verhau“ (2023, S. 7 / Seitenangabe im Blog dito) Ernst mit der Philosophie. Wie gut, dass der Denker Böhringer in seinem Text die Lücke findet, die seine Eingangsthese lässt: Er redet nicht viel. Er macht Ernst. Sein Denken vollzieht er so, dass er uns Lesende in die Bewegung des Denkens mit aufnimmt. Wir denken uns bei allem Verhau in die Lücken. Das Denken zeigt sich darin als menschlich. Darum geht es ihm. Darum geht es uns. Wer sind wir?

„Sokrates kommt zu spät.“ (S. 33). Vielleicht hatte er jemand getroffen, der frag-würdig war, des Fragens würdig. Vielleicht begab sich vor der Tür Wichtiges. Etwa so, wie es Diotima in Platons Gastmahl (Symposion) in ihrer Rede erzählt. Sokrates hatte in seiner eigenen Rede Philosophie als erotisches Verlangen nach Weisheit charakterisiert. Das erscheint fragwürdig. Die Frage ist: „Wer ist Eros?“ Diotima, die Priesterin, antwortet, Eros Eltern seien dem Mythos zufolge Poros und Penia. „Poros: Durchgang, Öffnung, Weg, und Penia: Armut, Mangel“ (S. 24) Denken ist zuweilen kryptisch. Vor allem wenn es um Bestimmung, um Definition, um die Abgrenzung eines Begriffs geht, arbeitet sich Denken nach den „Lücken im Verhau“ ab. Dabei gewinnt das Denken durch die mythologische Erzählung Aufschub. „Der Aufschub vom Ernst des Lebens verschafft Erleichterung, Freiheit.“ (S. 10)

Dazu passt das Gastmahl, währenddessen Diotima den Mythos von der Geburt des Eros erzählt, um zu einer Antwort durchzufinden, wer er sei. Die Götter, so hebt der Mythos an, feiern die Geburt der Aphrodite. An der Tür bettelt Penia. Sie wird nicht eingelassen. Da kommt Poros betrunken heraus und Penia legt sich zu ihm, empfängt Eros. Als Sohn des göttlichen Poros kommt Eros über die Schwelle zu den Göttern. „Eros findet den Durchgang, aber er macht aus ihm keinen befestigten Weg, keine Methode. Was Eros zu Wege bringt, entgleitet ihm immer wieder, ‚fließt weg‘“. Das Wissen wird ihm kein Besitz. … In der erotischen Spannung von Mangel und Weg, Poros und Aporia (Weglosigkeit), geschieht nach Platon das Philosophieren, zwischen Unverstand und Wissen.“ (S. 25)

Böhringer lädt seine Leser:innen zum philosophischen Denken ein. Er bringt uns an die Tür, vor der wir betteln, bis wir erotisiert den Weg über die „Türschwelle zwischen Begrenztem und Unbegrenztem“  (S. 29) nehmen. „Die Tür öffnet und schließt ähnlich wie die Erkenntnis einen begrenzten Raum. Doch anders als die Tür kann die Erkenntnis den Raum öffnen, indem sie ihn begrenzt.“ (S. 29) Erkenntnis grenzt das Unübersichtliche mit den „Lücken im Verhau“ ein. Die Lücken können so auch Orientierungspunkte sein. Philosophie führt zur „Bescheidenheit des selbstbewussten Nichtwissens“ (S. 55). 

Die Bescheidenheit wird durch die gegenwärtig veränderten Bedingungen des Philosophierens, die „neue Unübersichtlichkeit“ (J. Habermas), bestätigt. „Wir reden immer noch von Tür, Haus und Stadt und leben längst in Ballungsräumen, Agglomerationen. Glomus, eng verwandt mit Globus, ist ein klebriger Klumpen, Kloß, ein kaum zu entwirrendes Knäuel. Die Agglomeration, Rückseite der Globalisierung, verkleistert nicht nur Stadt und Land, sondern auch Politik und Ökonomie, Frieden und Krieg, das Private und Öffentliche, das Eigene und Fremde, das Provinzielle und Internationale, Freiheit und Knechtschaft, Kritik und Affirmation, Stimmungen und Entscheidungen, Täuschungen und Erkenntnisse. Sie erneuert das philosophische Bewusstsein der Schwäche, der Unfähigkeit, klare Unterscheidungen zu treffen.“ (S. 31) Werden wir je wissen, wer wir sind?

Wir wissen ja kaum mit Entschiedenheit, wer wir waren. Das zeigt der Blick Böhringers, immer auf der Suche nach „Lücken im Verhau“, auf die „schaukelnde Wiege“ (S. 97) der Anthropologie. Wer sind wir?  Affen aus Europa? „Ich äffe Vorbilder nach, die Alten aus Griechenland und Rom.“ (S. 96) Oder ist es das: Beharrlichkeit im „Verfolgen selbstgesetzter Ziele“ (S. 97)? „Die Menschen scheinen immer wieder einholen zu müssen, was sie glauben, überholt und hinter sich gelassen zu haben. Darum Geschichte.“ (S. 94) Denn: „In der Natur ist der Mensch nichts Besonderes. Ist es seine Besonderheit, sich bewusst werden zu können, nichts Besonderes zu sein?“ (S. 84) Die Anthropologie orientiert, was die Antworten auf die Fragwürdigkeit des Menschen angeht, nur mühsam im „Verhau“. Vielleicht hilft die Musik weiter, die wohl seit Menschengedenken zum Menschen gehört.

Hier lauscht der Philosoph mit Verweis auf  G. Deleuze und F. Guattari auf das „Ritornell“ (S. 108 ff.), die kleine Rückkehr, mit der sich der Kreis schließt. „Man ist wieder angekommen, von wo man aufgebrochen war. Aber inzwischen ist viel passiert. Darum ist das Ende anders als der Anfang.“ (S. 108) Ritornelle sind Zwischenspiele, in der Dichtung wie in der Musik. Sie „spielen zwischen Durcheinander und Ordnung, Zwischenspiele zwischen Chaos und Kosmos“ (S. 109) Sie gliedern durch die rituelle Wiederholung. Der Ritus schafft Vertrauen im Unklaren, Unsicheren. Das Ritornell wird bei Böhringer zur Form der Erinnerung, weil es „sich neuen Ereignissen öffnet und die Wiederholung aus ihrem Kreis entlässt“ (S. 113). Bei aller Verpackung, Etikettierung und allem Containering für das Verpackte (S. 115 ff.) ist es sinnvoll, sich der Musik zuzuwenden, den Ritornellen zu lauschen. Sie ist ebenso menschlich wie das Ordnen im Container und durch das Etikett, „doch öffnet die Musik den Kreis über die Menschheit hinaus“ (S.114). Sie vermittelt zwischen dem Dativ, dem sich Gegebenen, der Nähe, dem Subjektiven, und dem Akkusativ, dem Verweisenden und Wertenden, der Distanz, dem Kosmischen. Vielleicht macht das uns Menschen aus: die Fälle von einander unterscheiden zu können, bewusst die Nähe und die Distanz zu suchen – und so die zu sein, die immer wieder wissen, dass etwas fehlt, und auf der Suche sind nach dem, „was wirklich fehlt“ (S. 74).

Da sind sie wieder: Penia, der Mangel und die Armut, Poros, der Durchgang und der Weg, und Eros, der über die Schwelle kommt, ohne bei dem zu bleiben, was er weiß. Welch ein Verhau um uns und in uns! Welch‘ ein philosophisches Buch, das den „Lücken im Verhau“ mit Witz und im Ernst nachgeht.

Böhringer, H. (2023): Lücken im Verhau. Berling (Matthes & Seitz)

Helga Schubert: Der heutige Tag

„Jahrelang hat Derden nachts in die Sterne gesehen, hat die Unendlichkeit ausgehalten. Ich bin ihm dorthin nie gefolgt. Es war mir unheimlich, ich konnte mich als Staubkorn unter dem weiten Sternenhimmel nicht begrenzen, wurde eins mit dieser Schwärze. Kaum ein Unterschied, so muss es im Tod sein, dachte ich.“ (S. 240)

Es ist ein Buch der Sätze geworden. Einzelne ragen heraus wie Monolithe im Erzählfluss einer liebenden Zweisamkeit. „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. Ich liebe ihn sehr.“ (S. 7 f.) Das Meiste ist damit schon gesagt. 

Derden, Helga Schuberts zweiter Mann, ist schwer krank und pflegebedürftig. Sie gab ihm für das Buch diesen Namen, den es wie ihre Google Recherche zeigt, noch nicht gibt. Einmalig sollte er sein. Einmalig und unvergleichbar wie dieser Mann, mit dem sie seit 58 Jahren zusammen ist. Sie lässt als Ich-Erzählerin uns Leser:innen am Leben mit Derden teilhaben. Sie als Studierende, er als Dozent für Psychologie lernen sich an der Universität kennen. „Wortlos ohne Zudringlichkeit“, so beschreibt H. Schubert eine der Begegnungen (S. 16). Sie schildert, wie sie beide ihre Ehen, Familien verlassen, um zusammen zu leben. Sie lässt uns Leser:innen die Veränderung des Professors für Psychologie, der Derden inzwischen geworden ist, sehen: Er wurde zum Maler und Grafiker. Derden erleidet einen Hinterwandinfarkt, der ihn zum palliativ betreuten Patienten werden lässt. Die Aufnahme in ein Hospiz lehnt er ab, weil er dort zwar malen kann, aber auch übernachten muss. „Seitdem sind Jahre vergangen. Und er hat zuhause mehr als dreißig Ölbilder gemalt.“ (S. 33)

„Bald wird er sie nicht mehr erkennen“, sagt eine Palliativärztin zu ihr, die ihren Mann unbedingt pflegen will. Sie beantwortet die Information der Ärztin, spät im Text, auf eigene Weise: „Ich fühlte so ein Verlangen, mich nicht abzufinden, ihn in der Welt zu halten.“ (S. 257) Das Leben mit dem Geliebten verlangt ihr viel ab. Es ist nicht nur die Liebe, das gemeinsame Beginnen des Tages. Es sind nicht nur die wachen, auch einmal kritischen Dialoge, die mit Derden immer einmal gelingen. Es ist auch das Andere, Zehrende, Enttäuschende, was sie erzählt. „Manchmal trauere ich nur um mich, die Traurigkeit ist einsam und kalt. Sie ist voll Vorwurf und Bitterkeit. Manchmal suche ich Trost im Bett, im Dunklen, kaue eine Tafel weiße Schokolade wie ein Stück Brot, denke an unsere weichen Körper, wie sie zusammenpassten, so verschlungen, so vertraut, die Bettdecke ist wie seine streichelnde Hand …“ (S. 56 f.). Es fällt schwer, in der Gegenwart zu bleiben. „Die Amsel sang wieder einmal so schön, Derden hörte sie, und ich dachte an die Ärztin, die mir kürzlich sagte, nun müssen Sie aber auch seinem Köper die Möglichkeit geben zu sterben!“ (S. 93)

Der Widerspruch zwischen der Unvorstellbarkeit, dass Derden nicht mehr sein wird, und dem Wissen und Erleben seines Sterbens inmitten eines langen und erfüllten Lebens, das ihn immer öfter zu quälen scheint, nimmt uns Leser:innen mit durch die Gezeiten, in denen die beiden leben. Dieses Leben ruft auch Widerstand hervor, Trotz zuweilen. „Das Absurde, das Erbarmungswürdige, das Rührende, das Furchterregende, das Komische, das Egoistische, das unmaskiert in mein Leben einbrach. Es wechselt in einer Minute.“ (S. 238) Es erschöpft auch und ermüdet. „Manchmal möchte ich tot sein, endlich ohne Verantwortung und Pflichten“, schreibt die Ich-Erzählerin (S. 189). Zu allem schwer Erträglichen gehört genauso das Zusammensein, das den Raum für sie selbst aufschließt: „Als ich den Laptop hochfuhr, war ich vollkommen glücklich. Draußen stürmte es. Und es war dunkel. Das Babyphone blinkte neben mir, ich hatte den Eco-Modus eingestellt, der Bildschirm war meist dunkel, so ruhig schlief er. Und ich war ganz in meiner Welt.“ (S. 254)

Helga Schubert gelingt es, das Zusammenleben mit dem hochbetagten, schwerkranken, geliebten Mann zu beschreiben. Sie erreicht dabei die vielen Dimensionen dieses gemeinsamen Lebens, das sich gerade nicht in der Pflege erschöpft. Deutlich wird, was das zusammen Leben fordert und womit sich die beiden Liebenden beschenken. Die Autorin weicht der Beschwerlichkeit nicht aus. Sie berichtet von den Schwierigkeiten, Vertretungen zu finden, die Konflikte mit den Kindern aus der ersten Ehen. Sie erzählt von der Betroffenheit durch das Sterben Anderer aus Nachbarschaft, Beruf und engerem Bekanntenkreis bis hin zur Auseinandersetzung mit den palliativen Beratungen. Sie schildert ihre eigenen Konflikte, ihr Hadern mit dem egoistischen Anspruch auf den geliebten Partner, den sie nicht verlieren will. Sie erzählt die wunderbaren, zauberhaften Momente einer immerwährenden, zärtlichen, leidenschaftlichen Liebe. Anders als Annie Ernaux, der es gelingt, als Ich-Erzählerin die Dritte-Person-Perspektive auf ihr Leben einzuhalten, sieht Helga Schubert realistisch, unbeschönigt, immer aus dem Blick der Ersten-Person auf das Leben. Das war in der Erzählsammlung „Vom Aufstehen“ (2021) so; das gelingt ihr auch im sensiblen Sujet des vorliegenden, neuen Buches.

Ich las dieses Buch schon auch mit den Augen des hospizerfahrenen Therapeuten, Und manchmal dachte ich, genau das sind die ungewollten Grausamkeiten, die in häuslicher Pflege entstehen. Letztlich gehören sie ebenso zum Leben wie die überwältigenden Momente, die die beiden, Derden und sie, miteinander erleben. Wenn Sterben zum Leben gehört, dann fordert dieses Leben eben auch seinen Preis. Es ist ein wichtiges Buch – aus meiner Sicht endlich ein literarisch gelungenes – für alle, die im Kontext Hospice und Palliative Care arbeiten: Leben ist Leben, auch wenn es Sterbenden bindungsbedingte Herausforderungen zumutet. Es ist ein wichtiges Buch für uns alle, die wir mit dem Sterben, auch dem eigenen leben.

Schubert, H.: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe (2023), dtv-Verlag (Im Blog mit Seitenzahlen zitiert)

Schubert, H.: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten (2021), dtv-Verlag

Leben, wenn Gott tot ist

„O große Not, Gott selbst liegt todt“. So beginnt ein reformiertes Karfreitagslied von J. Rist. (Zit. nach: Moltmann, J. (2. Aufl. 1993: Der gekreuzigte Gott. München (Kaiser), S. 221) Am Karsamstag gibt die christliche Theologie dem Tod Gottes Raum. Es geht mir nicht darum, die theologischen Deutungen und Spekulationen dazu nach zu verfolgen. Mir geht es um einen anderen Gedanken, der um eine Lebenserfahrung kreist: Wie ist das Leben, wenn Gott tot ist?

Die Erfahrung begann als philosophisches Experiment. Nachdem ich mich entlang der verschiedenen Vorlesungsreihen Johann G. Fichtes zur Wissenschaftslehre aus den Jahren 1804/05 zum entscheidenden (wörtlich!) Disjunktionspunkt vorgearbeitet hatte, tat sich ein „Hiatus irrationalis“ auf. Im Blick auf den „Hiatus irrationalis“ ist alles (wörtlich!) möglich: Wahrheitsbegründung, absolute Philosophie, Theologie und vernünftige Argumente für einen religiösen Glauben, Agnostizismus, Relativismus, Nihilismus. Es hängt an der Entscheidung des Reflektierenden, welchen weiteren Weg er verfolgen will (wörtlich!). Ob er auf Wahrheit und Geltung verzichtet, ob er die Geltungserhebung der Wahrheit nachvollzieht, es ist die Entscheidung des Reflektierenden. Für die wissenschaftliche Arbeit musste ich der Wahrheit nachreflektieren, um die These meiner Dissertation zu erfüllen. Im Leben entschied ich mich für den Verzicht auf Wahrheit und Geltung. Ein unermessliches Freiheitsgefühl erfasste mich dabei: keine absolute Wahrheit, keine letzte Geltung, kein Gott.

Das ist jetzt 30 Jahre her. Am Anfang war das alles spannungsvoll. Schwer erkrankt ging es darum, die Hoffnung auf ein Weiterleben aus mir, meinem Leben, meinen Bindungen zu schöpfen. Ich suchte im Zusammenhang meines Lebens die sinnvollen Möglichkeiten für den Wiederaufbau meiner Gesundheit, die wertvollen Motive für die Entscheidungen über den weiteren Lebensweg, das Erleben, das das Leben wieder genussvoll macht. Als ich auf die vielen Jahre Rekonvaleszenz und Regeneration zurückblickte, erstaunte ich; denn ich hatte dies alles im Vertrauen auf meine tragenden Lebenszusammenhänge, durch konzentrierte Reflexion und zuweilen durch Neigungsentscheidungen bewältigt. Da war keine „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ (M. Horkheimer). Interessanterweise konnte ich, was berufsbedingt zu meinen Aufgaben gehörte, Religion unterrichten, theologisch argumentieren, Ratsuchende in deren Lebens- und Glaubensnot pastoral ernst nehmen, kirchliche Rituale mit gestalten. Natürlich standen Zweifel an meinem philosophischen Experiment auf. Denn eine Reihe meiner Lebensinhalte passten nicht mehr zu meiner Lebenshaltung. Neue Entscheidungen waren zu treffen.

Heute, im Ruhestand, nach zwanzig Jahren psychotherapeutischer Praxis, nach zehn Jahren aktiver Hospizarbeit mit sterbenden und trauernden Menschen, der zweiten beruflichen Lebenshälfte, ist mir der menschliche, zugleich fachlich begründete Blick zur Haltung im Leben geworden. Menschen menschlich begegnen, das bedeutet mir, für Menschen da sein, mit allem, was ich philosophisch und psychotherapeutisch, zuweilen auch theologisch weiß. Menschen menschlich begegnen, bedeutet mir, nicht von einer einzigen Wahrheit ausgehen, sondern nach dem Wahrhaftigen suchen, das uns verbindet und auch unterscheidet. Was wahrhaftig zu sein beansprucht, prüfe ich auf Rationalität, Sinnhaftigkeit und Lebbarkeit im Rahmen von Freiheit und Verantwortlichkeit, achte dabei immer aufmerksamer auf die „Körperweiser“ dazu und fälle mutige Entscheidungen, zu denen ich auch stehen kann. Es sind nicht immer angenehme Folgen, die sich daraus ergeben. Wenn sie sinnvoll sind, dann lassen sie sich – zuweilen mit einiger Lebensmühe – ertragen. Vor allem machen mir die komplexen Prozesse der Prüfung und des Diskurses, in dem Wahrhaftiges bestehen soll, deutlich: Was für mich gilt, muss nicht für andere gelten. Solange die Anderen und ich uns in der gesellschaftlich-demokratisch vereinbarten Lebenswelt bewegen, ist respektvoller Austausch und kritisches Gespräch möglich. Es gibt, das lernte ich in der Fundamentalreflexion bei Fichte, die übrigens auch den Fundamentalzweifel an allem umfasst, viele Optionen, Geltung für das Leben zu begründen.

„O große Not, Gott selbst liegt todt“! Für manche Menschen mag die Not groß sein. Für andere ist sie es nicht. Für mich ist der Tod Gottes kein Problemfall. Das hat sich in meinem Leben gezeigt. Den Hauptunterschied zu meinem spirituell-religiösen Leben der ersten Lebenshälfte macht die Lebensmühe. Es gibt eben keine Lehrsätze, keine als endgültig ausgesprochenen Antworten, kein eindeutig begründetes Ethos, das nicht mehr hinterfragt zu werden braucht. Dafür lebe ich in der Freiheit, jede Frage an mein Leben und mich aufzugreifen, zu erwägen und abzuwägen und mich so in Verantwortung zu setzen. Ver-Antwortung enthält ja dann die Antwort, die mich an meine Entscheidung bindet. Deshalb berührt mich keine Definition des Menschen mehr als die von V. Frankl: „Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist.“ (Frankl, V. (6. Aufl. 1994): … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München (Kösel), S. 139)

„Was ist ein Wort?“ (F. Nietzsche)

Zum Jahrestag des Krieges gegen die Ukraine

„Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten“, beantwortet Friedrich Nietzsche 1873 seine eigene Frage (1980, Bd. V, S. 312). Auf die deutschen Debatten über das Richtig und Falsch des Engagements für die Ukraine angewendet: Wenn Nietzsches Bestimmung zutrifft und Worte Abbildungen von Nervenreizen in Lauten sind, dann liegen die Nerven vieler Debattensprecher:innen ziemlich blank. Die einen flüchten sich in militärischen Aktionismus: So viel aggressive Waffen so schnell wie möglich für die Ukraine! Die anderen verhalten sich eher pessimistisch: Jede Waffenlieferung bedeutet mehr Engagement gegen Russland und eskaliert das Risiko eines Atomkrieges, der alle um alles bringt.

In der Perspektive eines kritischen Pazifismus trauen beide Debattenstandpunkte vor allem einem nicht: Verhandlungen und damit dem Wort. Auch wenn sich gerade 141 Staaten der UN-Resolution angeschlossen haben, die Russland zum Rückzug aus der Ukraine und den annektierten Gebieten auffordert, das Misstrauen des russischen Regimes und der westlichen Allianz zur Unterstützung der Ukraine gegeneinander, die Verachtung der russischen Regierung gegenüber der Ukraine ist ständig präsent. Festzuhalten ist: Den gewalt- und angstbesetzten Worten wird eher Glauben geschenkt als den versachlichenden und mitfühlenden.

Der bereits zitierte Text Nietzsches stellt neben die Frage nach dem Wort einen fragenden Appell: „Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst!“ (Nietzsche, 1980, Bd. V, S. 310). Möglicherweise findet sich in der Reflexion des Wissens des Menschen von sich selbst auch ein Hinweis darauf, warum gewalt- und angstbesetzte Worte glaubwürdiger erscheinen als versachlichende und mitfühlende.

In zwei aktuellen philosophischen Reflexionen versuche zwei Aspekte des Wissens des Menschen von sich selbst zu erarbeiten:

Den einen finde ich in einer philosophischen Untersuchung zur „Wirksamkeit des Wissens“ von Frieder Vogelmann (2022), dem Lehrstuhlinhaber für Epistemologie an der Universität Freiburg. Vogelmann beschreibt gegen Ende der Studie sein philosophisches Bild von Wahrheit und Wissen so: Wahrheit kann innerweltlich hergestellt werden. Sie ergibt sich aus  „prekären Konfigurationen von Akteuren und Objekten in sozialen Praktiken“ (Vogelmann, 2022, S. 519), ohne auf sie zurückführbar zu sein (Emergenz). Sie wirkt exklusiv, also ohne Zuhilfenahme weiterer und anderer Wirkursachen, auf Subjektivitäten (Einzelne und Vergemeinschaftungen) und stellt sich so als „schwache Kraft“ (Vogelmann, 2022, S. 427 f.) dar. Sie kann leicht von anderen Kräften wie „Affekten, rhetorischer Macht und physischer Gewalt“ (Vogelmann, 2022, S. 428) überlagert werden kann. Dennoch ist ihr Effekt enorm, weil sie historisch-faktische Zusammenhänge unterbrechen und aufbrechen (Disruptivität) kann (Vogelmann, 2022, S. 428 ff.). Sie polarisiert in wahr und falsch. Wahrheit kann mediatisiert (etwa im Wort, in Erzählungen, in wissenschaftlichen Texten) „als Wissen“ verbreitet werden (Vogelmann, 2022, S. 540). Anders herum ist „Wissen als mediatisierte Form der Kraft von Wahrheit zu verstehen“ (Vogelmann, 2022, S. 521). Wissen und Wahrheit sind immer auf konkrete Situationen bezogen und insofern politisch (Vogelmann, 2022, S. 365 f.).

Hier kommt der zweite Aspekt ins Spiel, den ich bei Judith Butler in deren Arbeit zur „Macht der Gewaltlosigkeit“ (2021) finde. Butler forscht und lehrt als Professorin für Kritische Theorie an der Universität of California in Berkeley. Sie konkretisiert die politische Dimension von Wahrheit und Wissen durch einen heuristischen Hinweis auf die Entstehung der Erzählung vom Naturzustand des Menschen, den „manche Vertreter des liberalen politischen Denkens“ (Butler, 2021, S. 44) als die Grundlage jeglicher sozialen Dynamik sehen. Ihr Hinweis für die Analyse der Naturzustandserzählung lautet: „Achten wir also darauf, dass diese Erzählung nicht am Ursprung beginnt, sondern inmitten einer Geschichte, die nicht erzählt wird: Mit dem ersten Moment der Erzählung, der auch den Anfang von allem bilden soll, ist beispielsweise über die Geschlechtszugehörigkeit schon entschieden. … Die primäre Grundfigur des Menschlichen ist maskulin.“ (Butler, 2021, S. 52 f.) Ein weitere Beobachtung ergibt sich aus dem von Butler gewählten Verfahren, das Narrativ des Naturzustandes im Kontext einer abgedunkelten Erzählung zu verstehen, nämlich „dass der Mensch von Anfang an erwachsen ist“ (Butler, 2021, S. 53). Der Mensch im Naturzustand „als Ausbruch des Menschlichen in der Welt“ (Butler, ebd.), wird so als Individuum gesetzt, „als wäre dieses Individuum nie Kind gewesen, als hätte nie jemand für es gesorgt“ (Butler, ebd.). Der Urmensch ist ein erwachsenes, männliches Individuum. In den abgedunkelten Kontexten für die Erzählung dürfte das Motiv liegen, weshalb angstbesetzte Worte glaubwürdiger erscheinen als versachlichende und mitfühlende.

Denn diese Entdeckung am liberalen politischen Narrativ vom Urzustand des Menschen ist folgenschwer. Sie blendet zwei existenzielle Bedingungen des Menschseins aus: die Abhängigkeit von anderen und die Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Der Urmensch im Naturzustand ist der Butler’schen Heuristik zufolge „keine Tabula rasa, sondern eine eigens leergewischte Tafel“ (Butler, 2021, S. 54).  Von ihr wurde die Verbundenheit des Menschen, die soziale und naturale, ausgetilgt. Braucht das solcher Art vorgestellte Individuum Worte, gar eine Sprache? Oder genügt, eine  Differenzierung G. Agambens (2018, S. 27) aufgreifend, nicht die Stimme allein, der laute Laut, um Stärke auszudrücken oder zu warnen? Wem Stärke anzuzeigen, wen zu warnen?

Das Wort als Abbildung eines Nervenreizes in Lauten, wie ich Nietzsche eingangs zitierte, soll es nicht „in irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls“ (Nietzsche, 1980, Bd. V, S. 309) verhallen, ist der Laut des Neugeborenen, das Wort des Kindes und die Sprache des Heranwachsenden und künftigen Erwachsenen. Es setzt ein soziales Band voraus, das andere Menschen impliziert. Es agiert in der menschlichen Gemeinschaft, in der es viele Stimmungen und Stimmen, gleichklingende, zusammenklingende und konkurrierende, gibt. Es entsteht die Sprache, mit der wir uns darüber verständigen, wie wir uns als Menschen und unsere Lebenswelt sehen, in der wir einander erzählen und durch Erzählung Vertrautheit gewinnen. So wird Verständigung auch im Konfliktfall möglich.

Wir verfügen über keine allumfassende Erzählung von uns als Menschen. Wir können uns zumindest darüber verständigen, dass der Mensch nicht grundsätzlich des Menschen Wolf ist. Einfach, weil wir für einander, wie Butler schreibt, „betrauerbar“ sind. „Dass ein Leben betrauerbar ist, bedeutet, … dass es Wert in Bezug auf die Sterblichkeit besitzt“ (Butler, 2021, S. 99). Wenn Politik also eine feministische Perspektive auszeichnet, dann ist es das Wissen um die „Betrauerbarkeit“ von Menschen, die die unbedingte Gleichwertigkeit aller Menschen umfasst. Sie wird sichtbar in zwei existenzialen Merkmalen des Menschen, der Verwiesenheit aneinander im sozialen Band und der Sterblichkeit. 

Wenn Wissen die mediatisierte Kraft der Wahrheit, also ein wirksames und selbstformendes Wissen ist (Vogelmann, 2022, S. 518 ff.), dann erscheint es ethisch geboten, die Narrative für den Krieg Russlands gegen die Ukraine aufzusuchen, sie in Textform zu bringen und den abgedunkelten Hintergrunderzählungen darin nachzugehen. Die Perspektive der Rekonstruktion sehe ich „feministisch“ grundiert: Es geht darum herauszuarbeiten, wozu, mit welchen Mitteln und an welchen Textstellen Betrauerbarkeit, Verwiesenheit aneinander und Sterblichkeit als Merkmale des Menschen getilgt wurden. Die Folgen dieser Tilgungen sind inzwischen nur zu bekannt. Das Ziel dabei ist – und hier komme ich auf die Defizitanmerkung aus der Sicht des kritischen Pazifismus zurück -, Möglichkeiten für vertrauensbildende Sprache herauszudestillieren. Sie können vielleicht zu einem aktuellen „Wörterbuch“ der Verhandlungssprache zwischen der Ukraine und Russlands gefügt werden können. Die Politik und die öffentliche Meinung haben die Chance, auf diesem mühsamen Weg zu entdecken, dass die Falschheitsvermutung nicht die Polarisierung in Waffenaktionismus oder in Eskalationspessimismus betrifft. Waffenaktionismus und Eskalationspessimismus sind zusammen der falsche Pol in einer Polarisierung, wie sie Wahrheit erzeugt (Vogelmann, 2022, S. 431 f.). Die Identifikation des falschen Pols befreit die Beteiligten zur rationalen Suche nach dem richtigen Pol, der die Möglichkeit eröffnet, den falschen Krieg endlich zu beenden. Eine nicht nur deklamierte, sondern eine begriffene feministische Perspektive der Politik legt die Spuren dafür aus: Betrauerbarkeit in Bezug auf die Sterblichkeit jedes einzelnen Menschen, die Sterblichkeit des Menschen überhaupt und die soziale Verwiesenheit aneinander.

Quellen:

Agamben, G. (2018): Was ist Philosophie?, Frankfurt (Fischer)

Butler, J. (2. Aufl. 2021): Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen. Frankfurt (Suhrkamp)

Nietzsche, F. (1980): Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: Werke (ed. Schlechta, K.) Band V, München-Wien (Hanser), S. 309 – 322

Vogelmann, F. (2022): Die Wirksamkeit des Wissens. Eine politische Epistemologie. Frankfurt (Suhrkamp)

Werkstattbericht 4

Längst ist es wieder Zeit für einen Blick in meine Blogwerkstatt. Inzwischen findet sich der 80. Beitrag auf meiner Seite. Es wurden weniger im letzten Jahr. Was nicht an einer etwaigen Schreibhemmung liegt. Manchmal lassen Gedanken länger auf sich warten. Zuweilen fordere ich mich selbst auf: Du solltest wieder einmal einen Blogbeitrag schreiben … und mir fällt nichts ein, was der Worte wert ist. Also schweige ich.

Das Schweigen wird mir in den letzten Zeiten wichtig. Ich beginne zu verstehen, was mein Kollege U. Böschemeyer damit meinte, dass es das Schweigen und die Stille brauche. Im Schweigen weitet sich der Raum, in der Stille vertieft sich er Raum, aus dem Worte zu einem kommen oder in dem ich Worte finden kann. In meiner früheren Arbeit im Hospiz schwiegen wir immer wieder, der Gast, den ich begleitete, und ich. Oft schwiegen wir uns zuerst an. Es waren Sätze ausgesprochen, die verstummen ließen. Es fielen Worte, auf die keine Antwort möglich war. Zuerst einmal, zumindest. Also schwiegen wir. Dabei entdeckten wir, das das Schweigen den Worten Raum gibt, in denen sie nachklingen können. Meist traf das nachklingende Wort dann auf einen Gedanken, der den Wiederklang weckte, Resonanz erzeugte, aus der sich neue Worte, Antworten ergaben. 

Ähnlich erging es mir mit Nachrichten vom Krieg in der Ukraine oder Texten, die ich gelesen hatte. Bücher, Zeitungstexte, Zeitschriftenartikel klangen nach. Oft lange, bis ich mich entschloss, auf sie einzugehen, zu resonieren und zu raisonnieren. Ein Blogbeitrag entstand.

Dabei erlebe ich mich immer wieder sehr ungeduldig. Am liebsten mag ich den Text einfach hinschreiben. Manchmal gewährt mir ein schwarz-weißer Traum einen fast publikationsfähigen Text, den ich aus dem Gedächtnis niederschreibe. Oft vertiefe ich mich, vor allem seit ich wieder viele philosophische Bücher lese, in Texte, finde zu einem Text einen nächsten, kommentierenden, widersprechenden, vertiefenden oder weiterführenden. Meine Ungeduld wächst. Schließlich schreibe ich, überarbeite noch einmal, korrigiere letztlich. Und dann stelle ich den Beitrag in den Blog. Im Rückblick scheint das Schreiben, das anfangs leicht und elegant ging, auch Arbeit geworden zu sein, Gedankenarbeit, Lesearbeit, Denkarbeit, Schreibarbeit. Auch deshalb werden die Beiträge weniger. 

Wenn ich einen Text verfasst habe, bin ich zufriedener Verfassung. Ich mag meine Texte auf vielfältige Art. Auf manche bin ich stolz. Auf andere blicke ich zufrieden. Einige empfinde ich als Wagnis. Selten zögere ich, einen Text in den Blog zu stellen. Es ist mein Blog, auch wenn er von der „Epimeleia“, von der Sorge um … spricht. Bei dem französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault lernte ich inzwischen, dass „Epimeleia“ in der antiken Kultur etwas Öffentliches war. Die Sorge um das Leben und einen selbst wurde mitgeteilt, zur Diskussion gestellt, auch einmal lehrend vorgetragen. In meinem Blog greife ich also eine antike Tradition auf, die über die neuzeitliche Essayistik bei Montaigne oder Voltaire, später dann von Kassner und Musil weitergeführt wurde. Meine Beiträge im Blog sind oft Essays zu einem Thema, die Sie, geschätzte Leser:innen, hoffentlich auch weiter goutieren werden.

Musik und Politik

Die Cellistin Anja Lechner formulierte es in ihrer Moderation während des wunderbaren, intensiven und berührenden Jazzabends im Birdland Neuburg (20.01.2023) so: „Musik ist manchmal sehr politisch.“ Musik hat tatsächlich eine lange politische Tradition. Im Politeia-Dialog (Staat) Platons wird der Zusammenhang zwischen „den wichtigen bürgerlichen Ordnungen“ und „den Gesetzen der Musik“ behauptet (Pol 424 c). In den Nomoi (Gesetze) verweist Platon in der Untersuchung staatstragenden Handelns darauf,  dass „die Rhythmen und die Musik überhaupt eine Nachahmung des menschlichen Charakters seien, der besseren oder der schlechteren“ (Nom 798 d). Er zeigt, wie Musik „heiligen Handlungen“ zugeordnet ist, und resumiert, „dass nämlich die Liedsätze für uns [die athenische Polis] feste Satzungen sein sollen“ (Nom 800 b). Die Ordnung der Musik wirkt sich für Platon auf die Menschen in der Ordnung der Polis aus. (Gigon 1974, S. 204 f.) Am Beispiel Platons wird nachvollziehbar, was M. Spitzer (2005, S. 1) in der historischen Einleitung zu seinem Werk zur Neuropsychologie des Musikerlebens schreibt: „Ihre Wirkung auf den Menschen wurde von Priestern und Politikern früherer Hochkulturen klar gesehen. So erklärt sich die mitunter starke Reglementierung all dessen, was mit Musik zu tun hatte, durch den Staat.“ Musik stand im Focus der antiken Politik. Musik war staatstragend.

In seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798) verbindet I. Kant die Musik mit „gesellschaftlichem Genuss“ (ebd., S. 45). Er sieht ihre Wirkung auf die Stimmung „selbst … für den, der sie nicht als Kenner anhört“ (ebd., S. 69), darin, dass „das Denken nicht allein erleichtert, sondern auch belebt wird“ (ebd.). Musik wird zum individuellen Ereignis. Die politische Dimension der Musik verschwindet. L. v. Beethoven löst die Musik zur selben Zeit aus dem höfischen Kontext, in dem er als freier „Musikunternehmer“ seine Konzerte, seinen Unterricht und die Verlegung seiner Partituren selbst organisiert und betreibt. Musik dient dem privaten Konsum, für den musikalische Unternehmer:innen ein Angebot schaffen. Dies ist bis heute so geblieben. Dennoch stimme ich der Aussage von Anja Lechner zu, dass „Musik manchmal sehr politisch sei“.

Ein erstes Beispiel: Marcel Reich-Ranicki vermerkt in seiner Autobiographie „Mein Leben“ (1999): „Wenige Monate nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Warschau lassen die deutschen Behörden das Denkmal Frederic Chopins sprengen. Am 3. Juni 1940 untersagt das Propagandamt für das Generalgouvernement Polen die Aufführung von Musikwerken, die mit der polnischen Nationaltradition zusammenhängen. … Wie sich bald herausstellt, betrifft dieses Verbot das Gesamtwerk Chopins.“ (1999, S. 223) Zwei Jahre später werden einige Werke Chopins zusammen mit denen eines anderen polnischen Komponisten wieder freigegebenen, außer für den „jüdischen Wohnbezirk“ in Warschau (ebd.). Musik als Definiens dafür, was für welche Menschen erlaubte Kultur ist. Das Verbot von Musik durch die Taliban in Afghanistan fällt mir sogleich dazu ein. Musik als politisches Machtmittel.

Ein zweites Beispiel: Bob Dylan veröffentlicht 1989 auf seiner Platte „Oh Mercy“ den Song „Political World“ (2016, S. 989 f.) . Die Zeile „We live in a political world“ zieht sich melodisch wie ein roter Faden durch die 11 Strophen des Liedes. Musik als Form des Protestes. Worte werden in Musik übersetzt. Musik macht das Gemeinte eindrücklich und nachdrücklich.

Die zehnte Strophe des Songs lautet in deutscher Übersetzung: 

„Wir leben in einer politischen Welt

Wo Friede überhaupt nicht willkommen ist

Man schickt ihn weg von der Tür, er soll noch weiter wandern

Oder er wird an die Wand gestellt“ (2016, S. 990)

Anja Lechner konzertierte zusammen mit dem ukrainischen Pianisten Vadim Neselovskyi, der in einer eigenen Komposition die gewaltsame Annexion der Krim durch Russland dramatisch zum Klingen bringt. Sie spielten auch Werke des inzwischen 85 Jahre alten ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, der wegen seines unerwünschten Musikstils in Russland schon einmal inhaftiert wurde. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine floh er nach Berlin.

Viele politische Fragen dazu wurden in dem Jazzabend musikalisch gestellt: Wo ist Friede willkommen? Wann kann V. Neselovski die Schönheit Odessas im Frieden zum Klingen bringen? Wann wird der Friede nicht wieder vertrieben, zum Weiterwandern gezwungen, zur Flucht genötigt? Wieviele Wände müssen noch fallen? Musik ist eben manchmal sehr politisch.

Quellen:

  • Dylan B. (2016): Lyrics. Hamburg (Hoffmann & Campe)
  • Gigon, O. (1974, Hg.): Platon. Sämtliche Werke. Band VII: Die Gesetze (Nomoi). Zürich, München (Artemis)
  • Gigon, O. (1974, Hg.): Platon. Sämtliche Werke. Band VIII: Begriffslexikon. Zürich, München (Artemis)
  • Kant, I. (2000, ed. Brandt, R.): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hamburg (Meiner)
  • Platon (1971, ed. Kurz, D.): Politeia. Der Staat, in: Gesamtausgabe Bd. IV. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft)
  • Reich-Raniciki, M. (4. Aufl. 1999): Mein Leben. Stuttgart (Deutsche Verlagsanstalt)
  • Spitzer, M. (2005): Musik im Kopf. Stuttgart, Ney York (Schattauer)

Macht Gewalt ohnmächtig?

Der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine, immer noch; die Angriffe auf Ordnungs- und Rettungskräfte in der Silvesternacht; vor kurzem, gewaltbereiter Aktivismus bei der Räumung von Lützerath, gerade. Der Umgang damit scheint schwierig. Die Frage ist: Macht Gewalt ohnmächtig?

H. Arendt (1906 – 1975) diskutierte den Gegensatz von Macht und Gewalt in einem gleichnamigen Essay von 1970 (zit. nach der 28. Aufl. 2021). Die zentrale These darin ist: „Zwischen Macht und Gewalt gibt es keine quantitativen oder qualitativen Übergänge; man kann weder die Macht aus der Gewalt noch die Gewalt aus der Macht ableiten, weder die Macht als den sanften Modus der Gewalt noch die Gewalt als die eklatantetse Manifestation der Macht verstehen.“ (Arendt 2021, S. 58) Macht und Gewalt unterscheiden sich. Sie sind Gegensätze. Der historische Hintergrund für den Essay war der Vietnamkrieg der USA und die damit verbundenen, durchaus gewaltsamen studentischen Protestbewegungen der 1960’iger Jahre. Die philosophischen Folgerungen Arendts aus der soziologischen Analyse beider historischer Ereignisse ergeben aus meiner Sicht Verstehensmöglichkeiten für die Zunahme der Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft und die tatsächliche, brutale Gewalt im russischen Krieg gegen die Ukraine.

Arendt rekonstruiert in ihrem Essay (Kapitel 2) die Begriffe Macht und Gewalt. 

Was heißt Macht? „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen oder im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ (Arendt 2021, S. 45) Macht wird getragen von einer zählbaren Mehrheit, die Macht verleiht und zugleich die Ausübung der Macht kontrolliert. Sie legitimiert sich durch ihren Ursprung, der einvernehmlich gewollten Gründung einer Gruppe. Die Legitimität der Macht entspringt dem Gründungsakt der Gruppe; sie wird nicht durch Ziele und Zwecke der Gruppe konstituiert (Arendt 2021, S. 53). Löst sich die Gruppe auf, verliert die Macht die Legitimation und verfällt: „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.“ (Arendt 2021, S. 42) Geht Macht verloren, verführt der Prozess zur Gewalt (Arendt 2021, S. 55).

Was ist Gewalt? „Gewalt ist … durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet.“ (Arendt 2021, S. 47). Sie verlässt sich auf künstliche Werkzeuge (Arendt 2021, S. 43)  wie Waffen, Gefängnisse (Foucault 2020, S. 293 ff.), Lager (Agamben 2019, S. 125 ff.). Arendt zufolge gilt für Gewalt: „Gewalt ist ihrer Natur nach instrumental; wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt.“ (2021, S. 52) Gewalt ist von einem Zweck abhängig; sie selbst bringt also nichts hervor, sie ist nicht kreativ. Sie ist ein zu einem bestimmten Zweck eingesetztes Mittel, das seine Berechtigung durch den erhält, der den Zweck setzt. Insofern kann sie als „rational“ (Arendt 2021, S. 78) bezeichnet werden. Sie ist nicht blind. Gefährlich wird Gewalt, wenn das abgezweckte Ziel zu lange nicht erreicht wird. Dies ist am Krieg gegen die Ukraine gut zu beobachten. Was als „militärische Spezialoperation“ geplant war, das zügige Überrollen der Ukraine durch russische Streitkräfte samt der Entmachtung der ukrainischen Regierung, ging nicht auf. Kann der Zweck des Gewalteinsatzes nicht in kurzer Zeit erreicht werden, dann nehmen „Gewalttätigkeiten in allen Bereichen des politischen Lebens“ überhand (Arendt 2021, S. 79 f.), nicht nur gegen die Kriegsopfer, sondern auch beim Aggressor selbst. Auch das legt die neuere Nachrichtenlage über Russlands Krieg nahe. Das Ergebnis kann sein, dass der Zweck, die Eroberung und Annexion der Ukraine nicht erreicht wird, dafür aber „ die Welt gewalttätiger geworden ist, als sie es vorher war“ (Arendt 2021, S. 80).

Wir können zum Gegensatz von Macht und Gewalt festhalten: „Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen. Gewalt jedoch nicht.“ (Arendt 2021, S. 52) Das Gemeinwesen, also der auf Einvernehmen beruhende Zusammenschluss einer Anzahl von Menschen, legitimiert Macht als essentiell. Sie kann in organisierten Gemeinwesen Züge der Autorität annehmen, „wenn das Funktionieren des sozialen Lebens sofortige, fraglose Anerkennung von Anordnungen erfordert“ (Arendt 2021, S. 47). Macht ist zudem auf Kreativität hin angelegt; sie ermöglicht die Entwicklung des Gemeinwesens als Handlungsraum. Handeln ist die Fähigkeit, die „den Menschen zu einem politischen Wesen macht“ (Arendt 2021, S. 81). Macht ist also eine generische Bedingung für Politik.

Prallen Macht und Gewalt aufeinander, kann die Gewalt die Macht vernichten: „aus den Gewehrläufen kommt immer der wirksamste Befehl, der auf unverzüglichen, fraglosen Gehorsam rechnen kann.“ (Arendt 2021, S. 54) Gewalt zielt auf Reaktion, nicht – wie die Macht – auf Entscheidung. „Nackte Gewalt tritt auf, wo Macht verloren ist.“ (Arendt 2021, S. 55) Als Beispiel dafür nimmt die Philosophin den Einmarsch russischer Truppen in Prag, die den politischen Frühling der Tschechoslowakei im Frühjahr 1968 beendete. Für Arendt drückte „die russische Lösung des tschechischen Problems einen entscheidenden Machtverlust des russischen Regimes“ (Arendt 2021, S. 55) aus. Das Ergebnis: dabei zahlten nicht nur die Besiegten einen hohen Preis, sondern auch die Sieger. Jene „zahlten mit dem Verlust der eigenen Macht“ (Arendt 2021, S. 55). Ein vergleichbares Ergebnis zeichnet sich im Krieg Putins und seines Regimes gegen die Ukraine ab. Selbst wenn Putin die Annexion einiger ukrainischer Regionen gelänge, wäre das gemessen an seinem hegemonialen Anspruch ein signifikanter Machtverlust – mit der Gefahr neuen Gewalteinsatzes. „Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht.“ (Arendt, S. 54)

Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt bietet eine Verstehensmöglichkeit des russischen Krieges gegen die Ukraine an. Denn der Machtverlust Russlands spitzte sich mit dem Zerfall der Sowjetunion, der Auflösung des Warschauer Paktes und des zunehmenden Interesses der freiwerdenden Staaten an der Europäischen Union und der Nato zu. Machtverlust führt zur Gewalt. Jene kann Macht vernichten; „sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen“ (Arendt 2021, S. 57). Darin besteht der Irrtum jedes Krieges. Krieg stärkt keinesfalls die Macht des Angreifers, sondern verbreitet Gewalt. Das kann die Brutalität der russischen Kriegsführung erklären. Es geht darum, die Macht gewaltsam zu brechen, die die Ukraine durch das gesellschaftliche Einvernehmen gewinnt, unter allen Umständen den eigenen Staat zu erhalten. Genau darin liegt – philosophisch gesehen – die Rechtfertigung der Ukraine, materiale Gewalt zur Verteidigung einzusetzen: zum kurzfristigen Zweck der Verteidigung der politischen Souveränität. Die Gewalt ist nicht legitim, aber sie ist durch die legitime Macht auf der Grundlage der politischen Übereinkunft des ukrainischen Volkes, sich verteidigen zu wollen, gerechtfertigt. Der Zweck dieses Einsatzes militärischer Gewalt besteht darin, die faktischen Bedingungen für den politischen Neubeginn des Staates aufrechtzuerhalten. Das Ziel dabei ist es, die politische Handlungsfähigkeit als menschliche zu erhalten. Jene Handlungsfähigkeit ist die Bedingung dafür, „etwas Neues zu beginnen“ (Arendt 2021, S. 81), in der Ukraine durch demokratische Übereinkunft und Kontrolle die legitimierte Staatsmacht zu etablieren. 

Arendt weist darauf hin, dass eben die Organisation von staatlicher und gesellschaftlicher Macht eine moderne Gefahr in sich birgt: die Büro-Kratie, die Verwaltungsherrschaft (Arendt 2021, S. 82 ff.). „Woran Macht heute scheitert, ist nicht so sehr die Gewalt als der prinzipiell anonyme Verwaltungsappparat.“ (Arendt 2021, S. 82) Die Differenzierung der Gesellschaft erschwert die Formen der Machtkontrolle und die Formen, die die Macht legitimierende Einvernehmlichkeit herzustellen. Das Diskursmodell von J. Habermas (2019, S. 70 – 86) ist ein solcher Versuch, die Vielzahl der Gruppen, die für sich Macht aus einer eigenen Einvernehmlichkeit beanspruchen, miteinander im rationalen Gespräch zu halten, um Macht legitimieren zu können. Es gibt auch andere anspruchsvolle Modelle dafür. 

Wir erleben die Gefährdung der Macht durch Gewalt zunehmend in unserer eigenen, deutschen Gesellschaft. Einen Grund dafür meine ich in dem zu sehen, was H. Arendt in ihrem Essay als Machtverlust, Anonymisierung der Organisationsformen der Gesellschaft  und als zunehmenden Verlust „der Fähigkeit zu handeln“ (Arendt 2021, S. 82) bezeichnet. „Je mehr die Bürokratisierung des öffentlichen Lebens zunimmt, desto stärker wird die Versuchung sein, einfach zuzuschlagen.“ (Arendt 2021, S. 80) Mit einem Anonymus wie einem Verwaltungsapparat, einem in sich abgeschlossenen System, kann keiner um das rechte Einvernehmen streiten. Gewaltsames Erreichen des Geforderten liegt nahe: man klebt sich auf der Straße an oder bildet gewaltbereite Blöcke bei Demonstrationen.

Wir erleben die Anonymisierung nicht nur in der Bürokratie, wie erfahren sie auch in der Unübersichtlichkeit des politischen Apparates, in dem sich die demokratieerhaltende Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative immer wieder vermischt (z.B. Kabinettsbeschlüsse während der Pandemie, die exekutiven Gesetzescharakter erhalten und nicht durch das Parlament als Legislative verhandelt wurden). Politiker:innen entfernen sich zunehmend von Bürger:innen. Sie kommunizieren allenfalls Ergebnisse und nicht mehr die Prozesse, die zu den Ergebnissen führen. Das führt zur Wahrnehmung der Politik als „Black Box“: Irgendetwas kommt heraus. Wir Bürger:innen werden dabei vorwiegend als Wähler:innen gesehen und behandelt, nicht mehr als die, die Macht des Staates legitimieren.

H. Arendt beschließt ihren Essay mit der Bemerkung: „Wiederum wissen wir nicht, wohin diese Entwicklungen uns führen. Aber wir wissen und sollten wissen, dass jeder Machtverlust der Gewalt Tor und Tür öffnet“ (2021, S. 87). Gewalt aber kann Macht nicht ersetzen, sie kann sie nur vernichten, wenn sie nicht mehr durch legitime Macht in ihrer Ausübung befristet mit Zwecken verbunden wird. Das macht es im Konfliktfall der Mediation, im Kriegsfall dem kritischen Pazifismus schwer.

Quellen:

  • Agamben, G. (12. Aufl. 2019): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Arendt, H, (28. Aufl. 2021): Macht und Gewalt. München (Piper)
  • Foucault, M. (18. Aufl. 2020): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Habermas, J. (3. Aufl. 2019): Drei normative Modelle der Demokratie, in: Politische Theorie. Philosophische Texte Band 4, Frankfurt (Suhrkamp), S. 70 – 86

Ich freue mich auf das neue Jahr.

In einem Interview im Jahr 1982 antwortete M. Foucault auf die Frage, was er nun sei: Philosoph, Historiker, Strukturalist oder Marxist? „Ich halte es nicht für erforderlich, genau zu wissen, was ich bin. Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war.“ (Foucault et al. 1993, S. 15)  

2023 hat begonnen. Der erste Tag neigt sich bereits dem Ende zu. Ein wenig müde vom feierlich-nachdenklichen Jahresbeschluss verbunden mit gutem Essen, Wein und einem ausgezeichneten Sekt aus St. Pauls in Südtirol erarbeite ich den ersten Blog zum Neuen Jahr. Ich freue mich auf das neue Jahr. Denn es gibt mir die Chance etwas zu werden, was ich am Anfang nicht war. Auf den Satz M. Foucaults traf ich bei der vorbereitenden Lektüre für einen anderen Beitrag. Heute las ich ihn noch einmal. Ist es wirklich erforderlich, genau zu wissen, wer ich bin? 

Wie häufig gehen wir dieser Frage aus dem Weg. Neue Bekannte fragt man nach der Herkunft oder dem Beruf. Als ob das etwas Schlüssiges darüber aussagte, was jemand sei. In der Psychotherapie arbeiten wir viel zu oft und zuweilen auch ein wenig verbissen an der Frage: Wer bin ich? Diese Frage aller Fragen wird von I. Kant (1987, S. 25) – darauf wies E. Tugendhat (2010, S. 37) hin – aus der Engführung der Selbstreflexion wieder in die Weite des „was“, des Attributiven, der Entwicklung, gestellt. Die letzte von I. Kants vier anthropologischen Leitfragen lautet deshalb bewusst: „Was ist der Mensch?“ Damit eröffnet sich ein veränderter Denkraum: Ich bin nicht nur „der Mensch“ als Antwort abstrakter Selbstbefragung (Wer?). Ich bin auch ein bestimmter Mensch, einer mit Herkunft und Vergangenheit, ein durch die Reihe seiner Entscheidungen Gewordener, ein Mensch im sozialen Raum, mit Bindungen und Beziehungen, einer, der sich hier und jetzt für das Nächste entscheidet, was für ihn sein wird. Ich bin eben auch ein „was“. Weil das, was ich bin, immer auch beeinflusst und erst aufzufinden ist, kann ich es nie genau wissen, was ich bin. Was ich im engen Zeitfenster der Antwort auf die Frage, was ich denn nun sei, von mir sage, ist eine Momentaufnahme im Prozess des Werdens. Das ist die einzige Genauigkeit in meiner Antwort.

Wichtig ist die Bereitschaft und die Möglichkeit zu werden: in Teilen anders, neu, unerwartet, überrascht über sich selbst zu sein, weil ich etwas geworden bin, was ich am Anfang nicht war. Das ist für mich das existenzielle Ziel dieses Jahres, zuweilen staunend zu sehen, was ich geworden bin und am Anfang nicht war. Dazu muss ich dem Neuen im Jahr 2023 aufmerksam begegnen. Ich werde versuchen, möglichst in der Gegenwart zu leben, um, was ist, nicht bereits in der Wahrnehmung mit Wertungen aus dem Gelebten, dem Wissen zu kontanimieren. Ich werde die Haltung des „Seinlassens“ bewusster leben: Was schon da ist, darüber kann ich nach-denken. Was aus sich selbst oder durch die Wirkung auf mich interessant, lebenswichtig oder gar notwendig erscheint, mit dem kann, mag, darf und soll ich mich beschäftigen. Das Nach-Denken, Nach-Fühlen, Nach-Gehen ist der Raum, in dem ich dann auch zu Wertungen komme. Wenn es mir mehr gelingt, so zu leben, dann mindert das den Stress, der oft dadurch Wucht entwickelt, weil wir uns selber in die Zukunft überholen, für die sich viel vorstellen lässt, von der wir annehmen, sie wenigstens in Ausschnitten planen zu können. Viel zu oft verwechseln wir dann unsere Planungen mit dem Kontrafaktischen der Realität. 

Mit dieser Lerneinsicht überschreite ich die Schwelle ins neue Jahr. Ich freue mich darauf, neue Gegenwart zu erleben und darin zu werden, was ich am Anfang nicht wahr.

Quellen:

Foucault, M. et al. (1993): Technologien des Selbst. Frankfurt (Fischer)

Kant, I. (1987): Akademie-Textausgabe Bd. IX, Berlin (De Gruyter)

Tugendhat, E. (2010): Anthropologie statt Metaphysik. München (Beck)

Heute: Beethoven

Heute erlebte ich etwas tief Berührendes, Menschliches. Ich übte Klavier. Einen Sonatensatz von Beethoven. Draußen gingen immer wieder Menschen vorbei. Sie waren auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt auf dem Schlossberg in Neuburg. Gerade wiederholte ich auf vielerlei Weisen zwei Takte, um mir den Fingersatz einzuprägen. Ich begann den Satz noch einmal von vorne. Da klopfte jemand an das Zimmerfenster. Kurz blickte ich hoch. Ein Mann stand vor dem Fenster. Ich kannte ihn nicht. Er bedeutete mir, das Fenster aufzumachen. Als ich den Fensterflügel öffnete, sagte er in sehr gebrochenem Deutsch: Beethoven. Pathétique. Spielen, bitte, bitte. Ich ließ das Fenster auf. Andächtig hörte er mir zu. Ich bat ihn zur Tür. Er wollte nicht. Spielen nächste, bitte, bitte. In seinen Augen waren Tränen. Ich meinte, ich kann das alles nicht so gut. Ich lerne das erst. Gut, du. Spielen, bitte, bitte. Ich spielte den zweiten Satz, so gut ich konnte. Er applaudierte, verneigte sich. Ich Ukraine. Lange nix gehört. Beethoven. Pathétique. Und er ging weiter.

Ich saß an meinem Klavier. Nun hatte ich Tränen in den Augen. Es war ganz still um mich. In mir klangen seine Worte nach: Ich Ukraine. Lange nix gehört. Beethoven. Pathétique. Mit welcher Andacht er die Worte sprach. Noch nie hatte ich einen solch ergriffenen Zuhörer. Dabei kann ich das Stück wirklich nicht gut. Ich lerne es erst. Für ihn war es die Pathétique, die durch alles, was er in dieser Zeit erlebt, hindurch klang. Hoffnung? Zuversicht? Erinnerung? 

Für diesen Moment fühlte ich, was mit Advent gemeint ist. Statt Vereinzelung Verbundenheit. Statt Misstrauen Begegnung. Statt Vollkommenheit Versuch. Statt Vergangenheit Gegenwart. Statt Verwicklungen Einfachheit: Lange nix gehört. Beethoven. Pathétique.