Die SZ vom Samstag (Nr. 99 vom 29./30.04/01.05.2023, S. 1) titelte: „Die Grünen in der Falle: Die Partei des Wirtschaftsministers Habeck ist in der Ampel zunehmend isoliert.“ SPD und FDP bremsen die Grünen aus. Sie stempeln die Grünen als „Verbotsorganisation“ ab. Bundeskanzler Scholz und Finanzminister Lindner rücken angesichts zunehmend schwerer zu vermittelnder grüner Projekte wie Klimaschutz, Heizungsreform, Kindergrundsicherung, Finanzierung der Migrationsfolgen enger zusammen. Die Stichworte apostrophieren zukunftsorientierte Projekte. Sie drücken das Interesse am Überleben unserer Erde, Europas und unserer Gesellschaft aus. Welche politischen Agenden sind tatsächlich zukunftsoffen?
Statt dessen gerät derzeit grüne Zukunftsverantwortung unter Ideologieverdacht. Statt dessen wird das „Weiter so“ als „Technologieoffenheit“ verkauft. Zukunftsfähigkeit wird auf die technologische Frage verkürzt, die den alterhergebrachten Machbarkeitswahn einer früher einmal erfolgreichen Industrialisierung codiert, der neben dem unablässigen Fortschritt auch die Reparatur aller Folgeschäden zugetraut wird. Dabei ist gerade in Deutschland Ressentiment gegenüber Digitalisierung und KI zu beobachten – ein Widerspruch zum Vertrauen in die Technologie? Oder entlarvt „Technologieoffenheit“ das konservative Bekenntnis zu den bewährten Industrieformen, Auto, Werkzeugbau, Chemie?
Die protechnologische Argumentation weiter Teile der FDP und der CDU/CSU wird mit dem Ideologieverdacht gegenüber grünen Projekten verbunden, um von der eigenen Ideologie einer marktliberalen Konservativität abzulenken. Dabei hat der neoliberale Politikwechsel die westlichen Demokratien innerlich zunehmend destabilisiert (Habermas, 2022, S. 36 f.). Nicht zuletzt dadurch, dass neoliberal geprägte Demokratie erlaubt, „eine verkehrte Welt innerhalb des Systems zu installieren“ (Sasse, 2023, S. 33). Denken wir an zunehmend autokratische Anmaßungen, wie wir sie in der Präsidentschaft Trumps oder im „Querdenken“ während der Pandemie erlebten. Silvia Sasse (2023) weist darauf hin, dass demokratisch verfasste Gesellschaften vor der Entstehung autokratischer Dominanz- und Machtstrukturen in ihrer Mitte nicht sicher sind. Was als Umcodierung von Begriffen beginnt (Technologieoffenheit als Code für neoliberal-konservative Regression angesichts der Klimaveränderung), führt zu Verkehrungen der Interpretation der Absichten (Klimaschutz als ideologisches Kontrollbedürfnis der Grünen) und letztlich zum „Zwiedenken“, wie es G. Orwell in seinem Roman „1984“ beschreibt. Jenes „spekuliert auf die Fähigkeit des Menschen, mit und in Antinomien leben zu können“ (Sasse, 2023, S. 113). Wir sehen uns Klimaphänomenen konfrontiert, die zunehmend irritierend wirken, im überfluteten Ahrtal 2021 für 133 Menschen tödlich waren (Quelle: https://reportage.wdr.de/chronik-ahrtal-hochwasser-katastrophe). Dennoch verhalten wir uns kaum anders. Wir halten den Widerspruch zwischen der erlebbaren Realität des Klimawandels und den Versprechungen, mit ausreichender Technologieoffenheit bekommen wir das alles geregelt, aus. Wir stöhnen unter den ohnehin zusammengestutzten grünen Projekten zum fraglichen Erreichen der Klimaziele. Wir neigen dazu, den Ideologieverdacht dagegen zu übernehmen und den Politikern zu glauben, die uns ein geringfügig modifiziertes „Weiter so“ auf der Grundlage bewährter Technologie suggerieren.
Demokratische Verantwortung in der politischen Diskussion sieht anders aus: Was wir brauchen, sind nicht bequeme Versicherungen. Was wir lernen sollen, ist, uns den unbequemen Verunsicherungen zu stellen. Nicht nur in der Klimapolitik, sondern auch in der Wirtschafts-, Sozial-, Bildungspolitik. Außenpolitisch zwingt uns der andauernde und brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine das Umdenken und Umsteuern in einen kritischen Pazifismus auf, der für politisch grün-orientierte Bürger:innen den Bruch mit dem vertrauten Friedensdenken bedeutet. Ähnliche Änderungsbereitschaft der Perspektive, der Einstellung und des Verhaltens wird in den anderen Politikbereichen auch notwendig sein.
Was tut not? Nicht eine Ideologisierungsdebatte, um das konservative Projekt zu retten und dabei die Zukunft zu verspielen. Vielmehr: Sicherheit als größtmögliche Wahrscheinlichkeit verstehen zu lernen, Denken in offenen Prozessen einüben; „Betrauerbarkeit“ (Butler, 2021, S. 99) als Kriterium für das Wertvolle, das durch selbstgewählte Blindheit verloren geht, ernstnehmen; statt das unbequeme, Sorgen und Befürchtungen auslösende Denken ab zu tun, uns auf die Endlichkeit des Lebens und des Lebendigen einzulassen. Weil die Lebensprozesse endlich sind und wir Menschen mutmaßlich die einzigen Lebenden sind, die ein ausdrückliches Wissen davon entwickeln können, ist es unsere ethische Pflicht, die Zeit, die wir haben, als Möglichkeitsraum, sinnvoll zu sein und zu handeln, nutzen. Etwas mehr öffentliche Reflexion und weniger quotengenerierender Talk ist dabei ein Schritt unter vielen anderen.
Robert Habeck zeigte in den ersten Monaten der Ampel, wie öffentliche Reflexion kommunikativ gestaltet werden könnte. In der Dauerdefensive, in der sich die Grünen derzeit befinden, ist der Raum und die Energie dafür eng geworden. Es fehlen die Hörbereitschaft für die leisen Töne, die Ruheräume für die Reflexion, die Kommunikationshoheit der politischen Institutionen gegenüber den ausufernden Polittalks und den „disrupted public spheres“ der Social Media (Habermas, 2022, S. 64). Wir dürfen uns – und das ist eine der Intentionen des Aufrufens eines „postfaktischen Zeitalters“ – nicht an „die Gleichzeitigkeit von Lüge und Wahrheit“ (Sasse, 2023, S. 114) gewöhnen. Wir sollten uns bewusst machen, das die Behauptung eines „postfaktischen Zeitalters“, das mit eben dieser Gleichzeitigkeit spielt, eine „bewusst gewählte Machtstrategie“ für eine „Subversion von oben“ sein kann (Sasse, 2023, S. 148). Jeder kann ihr widersprechen, sich ihr entziehen, wenn wir lernen, mit unserer Endlichkeit und damit auch mit der Sorge darum, wie es weiter geht, entschieden zu leben: Zur Grundverfassung des Menschen gehört ebendiese Sorge (Riedel, 2023, S. 25). Die Freiheit, sich von der Macht subjektiv zu emanzipieren, befindet sich ganz in deren Nähe (Foucault, 2009). Und die Verantwortung? Sie liegt direkt bei uns.
Quellen:
- Butler, J. (2. Aufl. 2021): Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen. Suhrkamp
- Foucault, M. (2009): Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/82. Suhrkamp
- Habermas, J. (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp
- Orwell, G. (22. Aufl. 1974): 1984. Ein utopischer Roman. Diana-Verlag
- Riedel, C. (2023): Dasein als Sorge. Die Cura-Fabel bei Heidegger und die antike Sorgekultur (epimeleia), in: Praxis Palliative Care Nr. 58/2023, S. 22 – 25
- Sasse, S. (2023): Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machtttechnik. Matthes & Seitz