Kernfäule – das Bild der Ampelregierung

Wer nur noch faule Kompromisse schließt, der vermodert schließlich. Dieses Bild bietet die deutsche Regierung derzeit. Der Kompromiss zum sog. Bürgergeld zeigt die Standpunktlosigkeit und daraus resultierende Konsensferne der Ampelregierung. Das Bürgergeld wurde als das wichtigste sozialpolitische Projekt der Bundesregierung präsentiert. Erwerbslose Menschen hätte es im sozialen Raum der Gesellschaft halten sollen. Nur wer IM sozialen Raum überleben kann, bleibt in Kontakt mit der Arbeitswelt als Leistungs- und Ermöglichungswelt. Darin besteht ja das psychische Problem der Langzeiterwerbslosigkeit, dass das Vertrauen in die eigene Bedeutung zusammen mit dem Zutrauen in das eigenen Können und Dürfen schwindet. Wer das Vermögen als Grundlage ökonomischer Sicherheit und Zukunftsfähigkeit (Altersversorgung) schwinden und sich gleichzeitig am Gängelband der Jobcenter immer mehr an den Rand des sozialen Raums der Gesellschaft geführt sieht, der verlernt, das eigene Leben zu führen. Hätte ich mich in einer kurzen Phase der Erwerbslosigkeit der demütigenden Inkompetenz der BeraterInnen des damaligen Arbeitsamtes überlassen, vielleicht wäre ich auch in den entwertenden und demotivierenden Weg der Langzeitarbeitslosigkeit eingeschwenkt. Nun verfügt nicht jeder durch Erwerbslosigkeit Betroffene über Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit, drei hochwertige akademische Abschlüsse und familiäre Unterstützung, um die persönliche Würde gegen die Zumutungen der Behörde durchzusetzen.

Langzeiterwerbslosigkeit ist nicht vorwiegend durch Arbeitsunwilligkeit begründet, auch wenn das Herr Merz, Herr Söder und ihre Parteien so sehen. Sie ist, wie ich in meiner psychotherapeutischen Praxis erfahren konnte, ein multifaktorieller Prozess, in dem Trauer, Entmutigung und Demotivation durch sinnferne Weiterbildungen und ungeeignete Arbeitsangebote oft in Depressivität münden. Selbstentwertung und soziale Entwertung bestätigen sich wechselseitig. Nach ein, zwei Jahren richten sich nicht wenige Betroffene in einem Verhältnis zu ihrem Leben ein, das von Selbstzweifeln, hausgemachten Belastungen, sozialer Entfremdung, Entmündigungserfahrungen und die Abhängigkeit von den Behörden (fordern!) bestimmt ist. Von wegen „fördern“! 

Wie weit dissentiert dieses Leben mit dem der EntscheiderInnen im Parlament! Wie sehr hatte ich auf die sozialpolitische Kompetenz der SPD gehofft, auf die Durchsetzungsstärke von H. Heil, dem Arbeits- und Sozialminister, wie sehr auf die sozialpolitische Dimension grünen Gesellschaftsverständnisses! Seit dem gestrigen faulen Kompromiss zum sog. „Bürgergeld“ weiß ich: Die wortmächtigen Ankündigungen der GRÜNEN, dass es dabei keinen Kompromiss gebe, der über den mühsamen in der Ampel errungenen hinausgehe, sind den CO2-Ausstoß beim Sprechen nicht wert! 

Wie oft lösten sich im vergangenen ersten Jahr der Ampel markige Statements roter und grüner PolitikerInnen in faule Kompromisse auf, denen die jeweiligen Parteien dann schmallippig zustimmten. Ob es um die Notwendigkeit, Mittel und Grenzen des Engagements im Krieg des Putinregimes gegen die Ukraine ging, ob um die Verantwortung für den Klimawandel oder das Coronamanagement, die GRÜNEN relativierten eine Kernüberzeugung ihres politischen Selbstverständnisses nach der anderen. Entleerte Kernhäuser faulen einfach. So wird aus dem Versuch R. Habecks, ein wenig philosophischen Verstand in die politische Debatte zu bringen, um sie wieder in die Nähe des Diskurses zu führen, aus dessen vermittelnder Kommunikation die Montage immer gequälter vorgebrachter Sprachblasen. Ein bisschen Platons Siebter Brief, freilich auf Barbiepuppenniveau. Jener schildert dort das politische Scheitern seiner philosophischen Regierungsidee in Syrakus an der Unwilligkeit der Beteiligten. A. Baerbocks kernige, Standpunkte heischende Aussagen zum Ukrainekrieg, zum Paradigmenwechsel in der Klimapolitik, zur femininen Vermenschlichung der Außenpolitik und den Menschenrechten verpuffen in wirkungsarmen Kompromissen des kleinstmöglichen Nenners. Hat Frau Baerbock Herrn Infantinos zynische Bekenntnisse zur Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft nicht gehört? Vieles wollte er sein, eine Frau nicht. Wer sich immer mit dem Kleinstmöglichen arrangiert, wird kleingeistig. Kleiner Geist im großen Wort, das ist keine Diplomatie! Großer Geist in kleinem Wort schon eher. Kurz: Derzeit ist die grüne Performance gescheitert! Und damit die Regierung in höchster Gefahr.

Der Bundeskanzler und seine SPD-Fraktion wissen das. Herr Scholz hüllt sich in unsichtbare Undurchsichtigkeit. Und die Medien bekommen sich nicht mehr ein, wenn er mal  – nein KEIN Machtwort! – spricht, sondern nur klar sagt, welchen Kompromiss er im Atomstreit für das Ei des Kolumbus hält. Auch solche Eier neigen zu fauligem Gestank, wenn sie viel zu lang herumliegen. Und die Restminister der SPD? Herr Prof. Dr. K. Lauterbach lernt gerade die Differenz zwischen Tatsachen und den statistischen Befunden darüber kennen. Noch neuartiger ist für ihn die Einsicht, dass es Menschen sind, die als Fachleute andere Menschen pflegen und behandeln – und keine Systeme. Frau Chr. Lambrecht versucht sich darin, einen Krieg zu unterstützen, ohne es nach Unterstützung aussehen zu lassen. H. Heil, der immer wieder einen Standpunkt behauptet, erlebt gerade, was es heißt, von mächtigeren Anderen abhängig zu sein..

Ein wunderbar freies Feld, um liberal zu agieren. Längst hat, wie es mir scheint, Chr. Lindner als Mann der monetären Entscheidungen die Macht an sich gerissen. Divide et impera. Und: der Finanzvorstand hat im Management im Zweifelsfall recht. Im Fall des Kompromisses zum sog. Bürgergeld koaliert er zudem ganz offen mit dem Oppositionsführer, F. Merz (CDU). Nachdem Herr Lindner versicherte, den innerkoalitionären Kompromiss zum Bürgergeld mit zu tragen, bietet er infolge der Bundestagsdebatte dazu Offenheit für Veränderungen an. Was herauskam, wissen wir. So ging das mit der Frage nach den Laufzeiten der Atomkraftwerke, mit der „Abfederung“ der Energiekosten, mit den Zielsetzungen in der Klimapolitik. Wir fahren abschnittsweise immer noch so schnell auf der Autobahn, wie es unser PKW hergibt. Wir haben ein paar Monate Treibstoff günstiger tanken und billig mit den verspätungsanfälligen und langsamen Regionalbahnen „reisen“  können. Danach raufte man sich monatelang wegen einer Fortsetzung des Billigtickets für den ÖPNV. Die sog. Elektromobilität, zu der viel zu lange schon solche Nonsenskonzepte wie Hybridautos gehören, wird gefördert oder auch wieder nicht mehr lange. Oder so. Oder anders. 

Wieviele faule Kompromisse wird die Koalition noch überstehen? Sie hat sich längst von innen her ausgehölt. Sie wirkt von massiver Kernfäule befallen. In dieser Lage blicke ich sehnsüchtig nach Italien. Nicht wegen der dortigen, indiskutablen rechten Regierung. Sondern wegen der Nonchalance, mit der Koalitionäre Regierungen platzen lassen, wenn es nicht mehr mit einander geht.

Die Erotik des Friedens

Es kam so, wie A. Baricco in der „Postille über den Krieg“ es imaginierte, nachdem er Homers Ilias neu erzählt hatte: „Man betrachtet den Krieg als Übel, das man vermeiden sollte, gewiss, aber man ist weit davon entfernt, ihn als absolutes Übel zu betrachten: Bei der erstbesten, in schöne Ideale eingewickelten Gelegenheit wird es wieder zu einer realisierbaren Option in den Krieg zu ziehen. Man entscheidet sich sogar mit einem gewissen Stolz dafür.“ (Baricco 2018, S. 190) Kurz hielten wir den Atem an: Raketeneinschlag im polnischen Grenzgebiet. Wir schreiben den 15.11.2022. Einige mutmaßten: jetzt muss die NATO in den russischen Krieg gegen die Ukraine direkt eingreifen. Bündnisfall? Endlich die Gelegenheit, schön eingewickelt in die NATO-Doktrin?

Wieder lasen und hörten wir die Forderung, mindestens mehr Material in den Krieg zu bringen, für den guten Zweck. Verteidigungsermöglichung der Ukraine. Überleben in der Ukraine. Verteidigung der europäischen Wertegemeinschaft. Bereiten diese Forderungen nicht auch ein mögliches Teilen eines Sieges vor, den die Ukrainer um den Preis von ungezählten Leben erkämpfen? Mit unserem Material und unserem Einsatz an Geld, Wohlstand, Beistand? Worauf wir dabei stolz sind, ist noch nicht genau auszumachen. Dass wir der Ukraine möglicherweise zu einem Sieg verholfen haben werden, der damit auch ein wenig unser Sieg wird? Der Sieg der überlegenen westlichen Waffensysteme? Oder ist es der Stolz darüber, dass sich die europäischen Demokratien, die tatsächlich solche sind, als wehrhaft erwiesen haben – auch angesichts eines durch nichts rechtfertigbaren Angriffs auf die Ukraine? Oder wird beides sich im Stolz mischen? 

Dem Stolz des Kriegens ist eine Erotik des Friedens entgegen zu setzen. Für wenig anderes ist Stolz anfälliger als für Erotik. Wir sollten dem Verführerischen am Frieden trauen. Frieden ist anmutig. Er  poltert nicht wie das Kriegerische. Er bewegt sich mit natürlichem Charme in den Räumen, die ihn willkommen heißen. Seine Schüchternheit zeigt sich, wenn er sich zurückzieht, weil zuerst die Wörter laut zu Drohungen anschwellen, die nach einigem Hin und Her im Lärm der Waffen münden. Jetzt schweigt der Frieden und schweigend weicht er zur Seite. Er kann warten, bis er wieder wahrgenommen wird. Denn zu übersehen ist seine anmutige Lebensgestalt kaum.

Frieden ermöglicht die Menschlichkeit der Welt. Jene setzt Liebe zur Wirklichkeit voraus. „Es geht um die Frage, wieviel Wirklichkeit auch in einer unmenschlich gewordenen Welt festgehalten werden muß, um Menschlichkeit nicht zu einer Phrase oder einem Phantom werden zu lassen“, schreibt Hanna Arendt in ihren „Gedanken zu Lessing“ (2020, S. 72). Krieg hingegen zerstört die Wirklichkeit. Er schafft nicht Wirklichkeit. Krieg stellt Tatsachen hin: Wo Wirklichkeit war, öffnet er die Tür zum Nichts, in dem kein Stein über dem anderen bleibt und kein Mensch bleibt, wie er einmal war. Der Krieg kennt nur Tatsachen, Wirklichkeit verliert sich im Krieg. 

Wirklichkeit ist nur im Frieden möglich. Solange der Frieden am Rand des Krieges wartet, bleibt genügend Wirklichkeit „auch in einer unmenschlich gewordenen Welt“. Denn irgendwann wird die Aufmerksamkeit der Kriegenden auf den Frieden gelenkt, auf dessen Anmut, berührt von dessen Charme. Denn jener lässt die Wirklichkeit als das Umfassendere der Tatsachen ahnen. Ohne Sein kein Nichts (Jankélévitch 2006, S. 72 ff.). Der Stolz der Kriegenden aber verzögert den Weg von der Wahrnehmung des Friedens zur Zuwendung zum Frieden. Wenn Frieden zugelassen wird, dann geht der Sieg verloren, ist die intuitive Sorge des Kriegenden. Die Sorge um den Sieg lässt den Blick auf die Tatsachen des Krieges vermeiden. Sie zeigen sich als die Zeichen des Nichts, der Zerstörung der Wirklichkeit. Jene nun ist im Frieden, nicht im Krieg. Ist die Wirklichkeit nicht anziehender als die Tatsachen, in die sie zerlegt, zerstört wird? 

Menschen leben in der Wirklichkeit. Tatsachen allein genügen nicht, um menschlich zu leben. Die Wirklichkeit umfasst die Tatsachen in den Ordnungen, die Menschen in ihnen finden oder ihnen geben. In der Lebenswirklichkeit des Menschen erhält, was einfache Sache ist, Bedeutung. Die Bedeutungen entstehen im Gespräch, das Menschen pflegen. Bedeutung bildet sich in Beziehungen. Menschliche Beziehung drücken sich im Gespräch aus: „Was nicht Gegenstand eines Gesprächs werden kann, mag erhaben, furchtbar oder unheimlich sein, es mag auch eine Menschenstimme finden, durch die es in die Welt hineintönt; menschlich gerade ist es nicht. Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir das, was in der Welt, wie das, was in unserem eigenen Innern vorgeht, und in diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein.“ (Arendt 2020, S. 77) Durch das Gespräch zwischen Menschen wird das Beziehungsgefüge der Tatsachen zum Bedeutungszusammenhang der Wirklichkeit. Das ist der Charme des Friedens: Menschlich leben!

Aristoteles, der antike Meisterdenker, bezeichnet das menschliche Verhältnis im Wirklichen als Freundschaft, philia (Nik.Ethik, Buch VIII). Die den Bedeutungszusammenhang im Gespräch stiftende Freundschaft macht die Wirklichkeit attraktiver als die Tatsachen. Sie macht den Frieden attraktiver als den Krieg. Denn sie vermenschlicht die Wirklichkeit. Wirklichkeit und philanthropia, „Liebe zu den Menschen“, gehören zusammen (Arendt 2020,S. 77) und „das vollzieht sich im Zusammenleben und im Teilen von Reden und Gedanken. In diesem Sinne ist zu sagen, dass die Menschen zusammenleben (sy-zen), und nicht wie vom Vieh, dass sie dieselbe Weide teilen“ (Nik. Ethik, VIII 1170 b) G. Agamben betont in seiner philosophischen Analyse dieser Stelle (Agamben 2018, S. 86): „entscheidend ist, dass die menschliche Gemeinschaft … durch ein Zusammenleben (Syzen wird hier zum Terminus technicus), das nicht durch Teilhabe an einer gemeinsamen Substanz [wie bei den Tieren die Weide, C.R.], sondern durch existenzielle, sozusagen gegenstandslose Mit-Teilung definiert ist: Freundschaft als Mit-Empfindung des bloßen Faktums zu sein“. Freundschaft als Mit-Empfinden des Lebens.

Darin besteht die Erotik des Friedens:

Frieden entfaltet sich in der Menschlichkeit der Wirklichkeit. Jene bildet sich im freundschaftlichen Gespräch von Menschen, der Philanthropie, in dem die Welt in ihren Tatsachen besprochen wird. Zur Bedeutung kommt. Mitgeteilt wird. „Freundschaft ist die Mit-Teilung, die jeder Teilung vorausgeht, denn was sie zu verteilen hat, ist das bloße Faktum der Existenz, das Leben selbst. Und diese gegenstandslose Verteilung, dieses ursprüngliche Mit-Empfinden, ist die Grundlage jeder Politik.“ (Agamben 2018, S. 86) Die Erotik solcher Freundschaft gründet darin, dass sie nicht naiv nach Idealem strebt, sondern realistisch Liebe zum Menschen lebt. Von solcher Erotik belebt wartet der Frieden immer am Rand des Krieges. 

Quellen:

  • Agamben, G. (2018): Das Abenteuer. Der Freund. Berlin (Matthes & Seitz)
  • Arendt, H. (2. Aufl. 2020): Freundschaft in finsterer Zeit. Berlin (Matthes & Seitz)
  • Aristoteles (1972, ed. Gigon, O.): Nikomachische Ethik. München (dtv)
  • Baricco, A. (2018): So sprach Achill. Hamburg (Hoffmann & Campe)
  • Jankélévitch, V. (2. Aufl. 2006): Erste Philosophie. Einleitung in eine Philosophie des „Beinahe“. Wien (Turia & Kant)

Der fremde Friede

Friede, gerade im aktuellen Krieg Putins gegen die Ukraine, ist fremd. Jetzt sprechen vorwiegend die Waffen. Es geht um Waffenüberlegenheit, um die durchsetzungsstärkeren militärischen Strategien. In der militärischen Rückerorberung an Russland verlorener Gebiete durch die Ukraine, in der Zerschlagung russischer Feuerkraft und in der so geschaffenen Notwendigkeit des militärischen Rückzuges der russischen Armee von den Frontlinien meint man das Mittel gefunden zu haben, dem Moskauer Regime die Aussichtslosigkeit des Krieges vor Augen zu führen. Durch die gewaltsame Bekriegung des Unrechts seitens Russlands soll das Recht der Ukraine wieder eingesetzt werden. Zaghafte Einwürfe, dass Frieden nicht mit militärischer Gewalt geschaffen werde, sondern durch Sprache, Verhandlung und Verständigung, werden mit dem Hinweis abgewiesen, Russland sei noch nicht genug beschädigt. Die Zeit für Verhandlungen sei noch nicht gekommen.

Wird dafür je Zeit sein? Lässt die nukleare Asymmetrie zwischen Russland und der Ukraine eine militärische Beschädigung zu, die die Nuklearmacht Russland zu Verhandlungen zwingt? War es nicht das sog. Gleichgewicht des Schreckens zwischen dem Warschauer Pakt unter der Führung der Nuklearmacht Russland und der NATO mit der Zugehörigkeit der Nuklearmacht USA, das die Weltordnung bis Ende der achtziger Jahre stabilisieren sollte? Die Irrationalität der atomaren Apokalypse spannte bislang den rationalen Raum für die Entspannungspolitik der großen Militärmächte auf. Der Friede wurde umdefiniert in die Abwesenheit großflächiger militärischer Konflikte mit nuklearem Einsatzpotential. Freilich, die Vermeidung solcher Konflikte ist kein Friede. Friede ist nicht allein Abwesenheit von Krieg oder Gewalt. 

Kant (1796) schreibt: „Der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist“ (Kant, Ausgabe 1984, S. 12). In einem Entwurf zum Text von 1786 ergänzt Kant: „die Unterlassung von Feindseligkeiten ist noch keine Sicherheit, daß Feindseligkeiten nicht stattfinden“ (Kant, Ausgabe 1984, S. 64).

Der sog. „nukleare Friede“ verhinderte bisher das direkte militärische Aufeinandertreffen von atomar gerüsteten Großmächten. Die atomare Apokalypse galt es zu verhindern. „Die Möglichkeit der apokalyptischen Wendung gehört von nun an zu den Grundtatsachen des Menschseins“, schreibt 1982 der Philosoph Dieter Henrich (Henrich 1987, S. 105). Wir wissen heute, dass die Apokalypse nicht vorwiegend durch die Nuklearwaffen droht, sondern durch unseren maßlos-gierigen Umgang mit den Ressourcen und Erhaltungssystemen unseres Planeten. „Der zu Recht eingeklagte Fortschritt ist für sich keine Rechts- und Friedensgarantie gewesen.“ (Henrich 1987, S. 105) Beides erbringt der Fortschritt: den Blick der Menschheit auf den blauen Planeten aus der Distanz des Alls. Dieser Blick ist nicht nur ästhetisch. Er veranschaulicht auch die Verantwortlichkeit der Menschheit für ihren Planeten: „Er ist nicht nur der ihre, sondern ihr nun auch preisgegebene wie anheimgegebene, und nicht nur zur Vernutzung in Kampf und Komfort, sondern zum Gewahren und Bewahren dessen, was ihn aus je eigenem Recht belebt, und ebenso zur Wahrung der eigenen Erkundungskraft, die sich auf ihm auswirken kann, ohne ihn zu deformieren.“ (Henrich 1987, S. 111) Der Fortschritt ermöglicht auch genau dieses andere: die Deformation bis hin zur Apokalypse, weil wir Menschen an jenem Stiftungsakt vorbeileben, den I. Kant 1786 als die conditio sine qua non für den Frieden ableitete: „Der Friedenszustand muß also gestiftet werden; denn die Unterlassung von Feindseligkeiten ist noch keine Sicherheit, daß Feindseligkeiten nicht stattfinden könnten. Diese Sicherheit soll wechselseitig garantiert werden durch die benachbarten Menschen und Nationen, und eine derartige Garantie kann nur in einem gesetzlichen Zustand geschehen.“ (Kant, Ausgabe 1984, S. 64 f.)

Darin besteht die Fremdheit des Friedens: Er ist nicht das Ergebnis ausgekämpfter Überlegenheit als Grundlage für Verhandlungen. So scheinen es aber viele Politiker derzeit für den Krieg Putins gegen die Ukraine zu sehen. Gerade deutsche Politiker sollten dies aus der Historie des Landes anders wissen. Konstitutiv für den Frieden in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg war vorwiegend nicht die Vernichtung des Dritten Reiches. Deswegen wurde auch Versailles nicht wiederholt, um die Vernichtung historisch aufrecht zu erhalten. Konstitutiv waren Stiftungsakte wie das Deutsche Grundgesetz als Grundlage der parlamentarischen Demokratie, der UNO samt dem UN-Sicherheitsrat, der Genfer Konventionen, des internationalen Gerichtshofes in Den Haag, des internationalen Währungsfonds. Wir verfügen seit der Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg über viele Einrichtungen, die den Frieden im Sinne Kants „gesetzlichem Zustand“ sichern sollen. 

Es befremdet, dass man die verfügbaren Friedensinstrumente erst post factum einsetzen will, nachdem dem Moskauer Regime die Aussichtslosigkeit des Krieges in der Ukraine vor Augen geführt worden ist. Jene ist hypothetisch; denn Moskau verfügt über die Möglichkeit zur nuklearen Apokalypse. Bei den gerade vorgetragenen Erwägungen bleibt allerdings richtig: „Gedanken können eine akute Bedrohung nicht abwenden. Sie sind aber unentbehrlich dafür, daß sich überhaupt eine Zukunft wahrhaft erschließt. Und sie sind unentbehrlich für einen Frieden, der mehr ist als die Katastrophenfreiheit unserer Überlebenszeit, somit auch für einen Frieden, der nicht so angstgeboren und ausdruckslos ist wie der, in dem wir noch leben und den wir mit aller Mühe bestenfalls erhalten können.“ (Henrich 1987, S. 112) Was Henrich vorträgt, zeigt, was den Frieden für uns fremd macht: (1) Frieden ist nicht angstgeboren. Angst fördert Verhaltensweisen der Vermeidung und des Trotzes. Beide Verhaltensweisen zielen auf die Wiederherstellung von Sicherheit. Der kognitive Fehler dabei besteht darin, dass nur die Symptome, nicht aber die Ursache der Angst, die im Subjekt der Angst liegen kann, angegangen werden. Vermeidung und Trotz führen nicht zur Verhaltensänderung des Betroffenen. Jene erst lindert oder heilt die Angstzustände und stabilisiert tatsächlichen Frieden. (2) Frieden ist nicht ausdruckslos. Frieden gründet in einer Sprache, die Prinzipiendiskurse fördert, die diesseits des „sakralen Komplexes“ (J. Habermas) von der Würde des Menschlichen sprechen, eine Sprache, in der „die gegenseitige Perspektivenübernahme, die notwendig ist, um einen Konflikt unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu betrachten“ (Habermas 2022, S. 85), zur immer wieder mühevollen Praxis wird. Dies würde dem „subkutanen Zerstörungswille[n]“ (Henrich 1987, S. 109) entgegenarbeiten und den Frieden aus seinem utopisch fremden Status in die Gegenwart holen – als ausdrucksvolles und mutiges Ziel eines kritischen Pazifismus.

Quellen:

  • Habermas, J. (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Henrich, D. (1987): Nuklearer Frieden, in: ders.: Konzepte. Frankfurt (Suhrkamp), S. 103 – 113
  • Kant, I. (1984): Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1796 – 1800. Leipzig (Reclam)

Nein, ich frage nicht

In den letzten Wochen, im Spätsommer, standen viele Fragen auf. Fragen zum Klimawandel, zum Wahlergebnis in Italien, zum europäischen und zum deutschen Verhalten in der Energiepolitik, wieder Fragen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine, Fragen zum Wahlkampf in Brasilien, zu den Statements in der UN-Vollversammlung. Von allem wurde und werde ich affiziert, nicht kognitiv zur Argumentation oder zum Verstehen herausgefordert. Ich werde affiziert vom als Kommunikation ausgegeben Getöse der Meinungen. Meine Reaktion: Ich ärgere mich, welche Mühe die Sondierung, die hermeneutische Analyse der Sprechblasen macht, um das Wenige an wirklicher Nachricht des Tatsächlichen herauszufiltern.

Martin Heidegger fasste in seiner berühmten Vorlesung zu den Grundbegriffen der Metaphysik, die er im Wintersemester 1929/30 in Freiburg hielt, die Auseinandersetzung mit der kulturphilosophischen Darstellung der Lage seiner Zeit prägnant zusammen. Erstens in einer hermeneutisch-kritischen Feststellung: „Es besteht ein theoretischer Unterschied zwischen der Darstellung der geistigen Lage und der Weckung einer Grundstimmung.“ (Heidegger 2018, S. 114) Zweitens im Perspektivenwechsel der Fragestellung: „Wenn die kulturphilosophische der Deutung der Lage ein Irrweg ist, dann dürfen wir nicht fragen: wo stehen wir?, sondern müssen fragen: wie steht es mit uns?“ (ebd.; Kursive im Original) Drittens in einer Heuristik: „Wir werden gut daran tun, aus dem, wo wir stehen, zu entnehmen, wie es mit uns steht.“ (ebd.; Kursive im Original) 

Oft besteht die Antwort auf die vielen Fragen, die in den Spätsommerwochen aufstanden, darin, eine Ortsbestimmung vorzunehmen. Die Frage nach dem Standort heißt: Wo stehen wir? Ernüchternd erlebe ich, wie rasch die Positionen gewechselt werden oder durch die Ereignisse überholt scheinen. Neue Anpassungen im Standort sind erforderlich. Die Standortbestimmung „stellt allenfalls das Heutige unserer Lage dar, aber greift uns nicht“, ließe sich Heideggers Kritik von 1929 auf die Spätsommerfragen 2022 anwenden. Den Philosophen stellt die bloße „Dar-stellung“ des Menschen und seiner Lage nicht zufrieden. Sie gelangt „nie zu seinem Da-sein“ (Heidegger 2018, S. 113). Die Versuche, die Lage, auch die geistige Lage angesichts der Spätsommerfragen zu beschreiben, indem Positionen und Stimmungen erfasst werden, treffen das Dasein nicht. Wir hören und lesen stattdessen, welche Rolle wir im Gemenge einnehmen: wir, die Bürgerinnen und Bürger, sollen uns als die Gebeutelten der Lage sehen. Heideggers kritische Frage an die kulturphilosophischen Darstellungen seiner Zeit lässt sich auch an die derzeitigen Beschreibungen und Stimmungsbilder anlegen: „Sind wir uns selbst zu unbedeutend geworden, daß wir einer Rolle bedürfen? Warum finden wir für uns keine Bedeutung, d.h. keine wesentliche Möglichkeit des Seins mehr?“ (Heidegger 2018, S. 115; Kursiv im Original)

Darum geht es also, grundsätzlich bedacht: „eine wesentliche Möglichkeit des Seins zu finden“. Nicht um eine Lösung allein durch einen Abwehrschirm, wenn auch mit noch so beschwörender Geste durch den Finanzminister vorgetragen, nicht nur um das Mantra des „never walking alone“ des Bundeskanzlers, nicht um die qualvoll gewunden vorgetragenen Notwendigkeiten des Wirtschaftsministers. Sie alle weisen uns die Rolle der Gebeutelten zu und halten uns durch die vermeintlichen Wohltaten in dieser Rolle, in der wir dann zur dankbaren Wiederwahl des politischen Personals gebeten werden. Diese Angebote verfehlen uns als Menschen, weil sie uns – im Sinne Heideggers formuliert – nicht ergreifen. Sie nehmen uns das, was uns ausmacht, anstatt es aufzuwerten: die Möglichkeiten, die mit unserem Sein verbunden sind. Ich wage den Begriff der Würde an dieser Stelle. Würde gründet in den Möglichkeiten, die ich als Mensch in meinem Dasein habe. Das macht mich aus; denn in meiner Würde bin ich der Souverän meiner Möglichkeiten und auch, wie Gorgio Agamben dies in der Figur des „homo sacer“ (1995) erarbeitete, meines Unvermögens. Die wesentliche Möglichkeit menschlichen Seins besteht im Vermögen und seinem Unvermögen, ergeben die philosophischen Studien Agambens zu „homo sacer“ (Geulen 2022, S. 102). In diese Richtung ist zu denken, wenn wir uns die eine Frage stellen: Wie steht es mit mir? Bin ich meinem Vermögen der Freiheit und Verantwortlichkeit nahe? Erkenne ich mein Unvermögen, das, was mir in der Lage nicht möglich ist, zu entscheiden, zu verantworten?

Nein, ich frage nicht! Ich frage nicht im Sinne aller Spätsommerfragen, die mir in den Ohren klingen. Nein, ich frage nicht. Ich gehe meinem Vermögen und Unvermögen im Rahmen meiner Möglichkeiten nach.

Quellen:

  • Agamben (12. Aufl. 2019): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Geulen, E. (2022): Was heißt, sein ‚Unvermögen vermögen‘? Fragen von und an Agamben, in:
  • Largier, N. & Lemke, A. (Hg.): Theorien des Möglichen. Berlin (August-Vgl.), S. 87 – 103
  • Heidegger, M. (2018): Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-Einsamkeit. Frankfurt (Vitt. Klostermann)

Putins Krieg bedroht die Phantasie. Influencing erstickt sie.

Ein halbes Jahr lang Krieg in der Ukraine. Die Wirkungen zeitigen sich nicht nur in Bildern und Berichten. Sie sind unmittelbar im Leben spürbar. Zunehmend mehr Menschen in Deutschland fühlen sich bedroht. Steigende Kosten. Angekündigter Mangel. Der für viele von uns gewohnte Wohlstand gerät ins Bröckeln. Viel zu viele kommen an den Rand des Überlebens in einer reichen, geldverwöhnten Gesellschaft. Was mir gerade zusetzt, ist der Rückzug der Regierung auf Mangel- und Defizitverwaltung. Die stete Anpassung an das gerade noch Mögliche und das demnächst nur noch wahrscheinlich Mögliche führt zur Katastrophisierung der Wahrnehmung. Der Wahrnehmung folgt der mentale Focus auf Gefahren. Gefahren modifizieren das Verhalten in Richtung Reaktion.

Wie reagieren wir passend?, scheint die leitende Frage derzeitiger Politik zu sein. Passend reagieren verbindet das Vermeiden der Ausbreitung von Angst und Konflikten in der Gesellschaft damit, die längst greifbare Schwundstufe des Wohlstands mit dem Versprechen auf ein künftiges „Es wird wieder besser“ zu verbinden. Die anvisierten Mittel sind die immer gleichen: sich einschränken, subventioniert werden und schließlich mehr leisten. Die beredte Zukunftsvorbereitung unseres Landes seitens der Ampelkoalition, die Verjüngung der demokratischen Kultur, die Mentalisierung des Klimawandels als Motivation für die Veränderung der Einstellungen im Wohlstandsverhalten, die Haltung klugen Verzichtens, kurz: die Begabung der Politik und des Bürgerinteresses mit Phantasie, die das Überleben zum Weiterleben wandeln sollte, das alles hat Putins Krieg und die fordernde Verteidigungsantwort der Ukraine darauf in das graue Management der Alltagsdefizite verwandelt, die uns als Kampf um’s pure Überleben verkauft werden.

Putins Krieg bedroht die Phantasie. Denn Phantasie überwindet die Limitationen der Zeit. Sie öffnet Räume, die selten oder nie betreten wurden. Sie fügt zusammen, was durch Management nie zusammengeht. Sie nimmt den Fakten die Erdenschwere, ohne sie zu Fakes aufzublasen. Phantasie ist nicht laut, ist zunächst auch nicht öffentlich. Sie regt sich, schwingt sich schließlich auf, wenn die Angst weicht. Sie sprengt die Enge des Gedankens nicht durch überbordende Affekte. Phantasie keimt behutsam. Sie bewegt sich den Gedanken entlang, indem sie ihnen tiefe Gefühle beimischt: Was wäre, wenn … Die Tiefengefühle grundieren die Gedanken, ohne sich in Begründungsdiskurse zu verstricken. Die Gedanken bewegen sich auf der Spur der Phantasie unbeschwerter, eleganter, kaleidoskopischer als im strikten Diskurs. Fügungen entstehen neben den systematischen Synthesen und bilden sich, bis sie zu Bildern werden, denen zuweilen Utopisches und Visionäres eignet. Die Gedankenverbundenheit der Phantasie hindert sie, zur Halluzination oder zum Delir auszuufern. Phantasie bleibt in der Sprache und im gestalteten Bild. Sie bleibt an Bedeutung gebunden. Phantasie bleibt beschreibbar.

Der Möglichkeiten der Phantasie haben wir uns schon lange vor Putins Krieg beraubt. Die Allgegenwart des Meinens, das immer mehr Menschen für das Faktische halten, ersticken die Phantasie im Keim. Das ist wörtlich zu nehmen. Meinen ist interessengeleitete Beliebigkeit. Fakten lösen sich in Fakes auf. Interesse und Einfluss verbinden sich im Modus des Influencings. In diesem Umfeld ist für Phantasie, wie ich sie gerade beschrieb, kein Raum und schon gar keine Zeit. Denn Influencing erspart den Gedanken und führt direkt zu Handlung, meist zum Kauf oder zum Anschluss an eine Meinung. So erstickt die Phantasie im Keim. Ihr fehlt der Gedanke, an dem sie sich empor rankt.

Putins Krieg bedroht die Phantasie. Das ist der Unterschied zur Allgegenwart des Meinens. Propaganda ist aufklärbar und erklärbar. Influencing nicht. In der Propaganda geht es um die Umdeutung von Fakten. Der semantische Raum bleibt. Auch Propaganda hat eine darstellbare Grammatik, die des Kontrafaktischen. Influencing ist die Verbindung von Meinung und Interesse. Es gibt nichts Kontrafaktisches mehr, weil es auch keine Fakten mehr gibt, von denen sich die Propaganda abstößt. Influencing beruht auf Konstrukten, Fakes, deren Kern Stimmungen sind. Dazu können Gegenstimmungen erzeugt werden. Durch Versprachlichung und Bebilderung werden aus den Stimmungen Meinungen, reine Fakes zum Ziel der Werbung. Dazu können jederzeit Gegenmeinungen erzeugt werden. In diesem Gemenge hat der Gedanke keinen Platz mehr; deshalb fällt Argumentation schwer. Wenn es keine Gedanken gibt, an denen die Phantasie aufkeimen kann, dann ist sie im Keim erstickt.

Putins Propaganda lässt Phantasie zu. Wenn wir das notwendige Management nicht absolut setzen, wenn wir uns durch die Gewalt des Krieges nicht einschüchtern lassen und nur reagieren, sondern eigene Gedanken zum Geschehen entwickeln, wenn Friedensgedanken geäußert werden dürfen und nicht gleich als Naivität und Verrat an der herrschenden Unterstüzungsdoktrin gegenüber der Ukraine abgeurteilt werden, dann erhält die Phantasie eine Chance. Lassen wir uns nicht einschüchtern, sondern leisten wir uns, die wir einmal das Volk der Dichter und Denker waren, die Gedanken, an denen die Phantasie aufkeimen kann, auch die Phantasie vom Frieden. Sie kann in Verbindung mit dem Gedankenkeim die Wahrnehmung wieder über das reaktive Management hinaus weiten. Wir werden dann sehen, wieviel Angst notwendend ist und wieviel Freiheit sinnvoll. Wir kommen wieder in das proaktive Leben, zu kreativen Prozessen mit überraschenden, vielleicht sogar erstaunlichen Ergebnissen. Vielleicht zu einem Dialog, in dem der Frieden wieder eine Chance hat.

Was vom Tage übrig blieb

Kazuo Ishiguro – Roman (1989)

Schwer fiel es mir, den Prolog ganz zu lesen. Die gewundene, sich gewissermaßen selbst in den Arm fallende Ausdrucksweise des Protagonisten, Mr Stevens, des Butlers in Darlington Hall, machte es mir nicht leicht.

Darlington Hall ist ein englisches Herrschaftshaus. Seit dem Tod Lord Darlington’s, dem Mr. Stevens als Butler das Haus führte, besitzt der US-Amerikaner Mr  Farraday das weitläufige Anwesen. Farraday bietet dem Butler 1953 anlässlich einer längeren Reise in die USA an, sich eine Woche frei zu nehmen. Ihm stehe der Ford Farraday’s zur Verfügung, um ein wenig über’s Land zu fahren. „Der Umstand, dass meine Einstellung zu ebendiesem Vorschlag im Verlauf der darauffolgenden Tage eine Änderung erfuhr, ja, dass die Vorstellung eines Ausflugs in die Westprovinzen in meinen Gedanken einen breiteren Raum einnahm, ist zweifellos – und warum sollte ich das verschweigen – wesentlich dem Eintreffen von Miss Kentons Brief zuzuschreiben, ihrem ersten seit fast sieben Jahren, wenn man die Weihnachtsgrüße nicht mitrechnet.“ (S. 17) So kommt die zweite wichtige Hausangestellte von Darlington Hall ins Spiel des Romans: die leitende Haushälterin. Die Beziehung der beiden „Köpfe“ des Hauspersonals grundiert die rückblickende Erzählung des Butlers wie ein Ostinato.

Der Roman erzählt die Reise des Butlers als Journal dieser sechs Tage. In die konkreten Schilderungen der Reiseereignisse flicht Mr Stevens ausführliche Rückblenden ein, die bis in die zwanziger Jahre des 20. Jhdts. reichen. So erfahren wir von einigen inoffiziellen Zusammenkünften politisch einflussreicher Persönlichkeiten in Darlington Hall. Wir gewinnen Einblicke in das Selbstverständnis großer Butler. Denn wir LeserInnen haben teil an Mr Stevens Gedanken zu Würde und Loyalität, den Grundlagen des Butler-Seins. Mr Stevens gibt in der Geschichte seines Vaters, den er als einen „Butler von erstem Rang“ (S. 70) unter die herausragenden Butler damaliger Zeit einreiht, einen verhaltenen biographischen Einblick. Am letzten Abend eines mehrtägigen, inoffiziellen und internationalen Treffens in Darlington, stirbt Mr. Stevens Vater dort an einem Schlaganfall. Mr Stevens resumiert diesen denkwürdigen Abend: „Dennoch mag man, bedenkt man den Druck, dem ich an diesem Abend ausgesetzt war, der Ansicht sein, dass ich mich nicht völlig überschätze, wenn ich den Gedanken vorzubringen wage, dass ich vielleicht den zahlreichen Anforderungen gegenüber zumindest in bescheidenem Maße eine ‚Würde‘ bewiesen habe, die auch einer Persönlichkeit wie Mr Marshall [ein Maßstände setzender Butler, C.R.] angestanden hätte – oder, was das betrifft, meinem Vater.“ (S. 141) 

Zwei solcher Treffen in Darlington Hall sind es, die in elegischer Breite beschrieben werden: jenes von 1923 und ein zweites, völlig anders geartetes, wohl in der Anfangszeit des Dritten Reiches. Die Berichte über die beiden Treffen, das erste zur ökonomischen und politischen Last der Versailler Verträge für Deutschland, und das zweite, in dem ein Treffen des britischen Königs mit Adolf Hitler vorbereitet werden sollte, versöhnten mich mit dem Text. Lord Darlington, ein ehemaliger britischer Außenpolitiker, mit einflussreichen Persönlichkeiten gut vernetzt, hatte auf Reisen nach Berlin die dortige schwierige ökonomische und soziale Lage in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wahrgenommen. Seinen außenpolitischen Standpunkt gegenüber Deutschland unter den Versailler Verträgen hatte er neben den Reisen auch durch die Freundschaft mit dem Deutschen Karl-Heinz Bremann entwickelt: „Ich habe im Krieg für die Gerechtigkeit in dieser Welt gekämpft. Soweit ich das verstand, habe ich nicht an einem Rachefeldzug gegen das deutsche Volk teilgenommen.“ (S. 97) Die überraschende Nachricht vom Suizid seines Freundes Bremann in Deutschland führt zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der dortigen Lage und zur dreijährigen Planung und Vorbereitung der inoffiziellen Konferenz im Jahr 1923. An ihr nahmen britische, deutsche, ein französischer und ein amerikanischer Politiker teil. Der aus meiner Sicht interessanteste Beitrag in der Konferenz ist die Rede des Amerikaners, Mr Lewis. Durch Monsieur Dupont, den französischen Kollegen, offen und schwer angegriffen führt Lewis in seinem Redebeitrag weg vom Inhalt des Treffens hin auf die TeilnehmerInnen und den Ablauf des Treffens: „Sie alle hier, entschuldigen Sie, meine Herren, aber Sie sind nichts als ein Haufen naiver Träumer. Und wenn Sie nicht darauf bestünden, sich in Angelegenheiten einzumischen, die die ganze Welt betreffen, wären Sie sogar ganz reizende Menschen.“ Der Redner wendet sich dem Gastgeber, Lord Darlington, zu: „Was ist er? Er ist ein Gentleman. … Ein klassischer englischer Gentleman. Anständig, aufrichtig, wohlmeinend. Aber seine Lordschaft hier ist ein Amateur.“ (S. 132) Mit diesem Satz macht der Roman, dessen rückblickende Schilderungen sich bisher in der ein Jahrhundert zurückliegenden Welt des britischen Empires bewegen, einen Sprung in die politische Gegenwart. Lewis fragt die Anwesenden, „ob sie eine Ahnung davon haben, wohin die Welt um uns herum sich eigentlich entwickelt. Die Zeit, als sie noch nach Ihrem noblen Instinkt handeln konnten, ist vorbei. Nur scheinen Sie das hier in Europa noch nicht zu wissen…. Sie hier in Europa brauchen Fachleute, Professionelle, die Ihre Angelegenheiten in die Hand nehmen.“ (S. 132)

Es geht in den Ausführungen des Amerikaners um nichts weniger als den jüngst von D. Trump wiederholt geäußerten Vorbehalt gegenüber „Good old Europe“. Das zielt in die hochaktuelle Frage, ob wir Europäer die internationale Geschichte seit 1945 und erst recht seit 1989, dem Fall der deutschen Mauer und damit der beiden politischen Blöcke von Ost und West, wirklich verstanden haben. Haben wir uns zu sehr von der neoliberalen ökonomischen Prosperität Mittel- und Westeuropas leiten lassen? Überließen wir es den USA, weltweit das us-amerikanische Verständnis der Demokratie durchzusetzen, während die EU-Europäer im Schlepptau Deutschlands ihre ökonomischen Interessen verfolgten, einschließlich der Bereitschaft zu unbedingter Rohstoff-Abhängigkeit?

Im Roman erwidert Lord Darlington: „Was Sie als ‚Amateurtum‘ bezeichnen, Sir, scheint mir das, was wohl die meisten unter uns hier immer noch lieber mit dem Begriff ‚Ehre‘ bezeichnen.“ (S. 133) Dieser Satz Darlingtons wirkt wie ein hellsichtiger, kritischer Kommentar der deutschen Außenpolitik unter der Kanzlerschaft A. Merkls: Auch sie beharrte auf dem, was im Roman mit Ehre bezeichnet wird und heute als Eintreten für die Menschenrechte gesehen werden kann. Sie beharrte darauf, solange die wirtschaftlichen Interessen EU-Europas nicht von den Menschenrechten tangiert wurden. Man kann das als „Amerikanisierung“ – oder Professionalisierung? – der europäischen, der internationalen Politik sehen. Lord Darlington fährt in seiner Erwiderung an Mr Lewis fort: „Außerdem, Sir, … glaube ich, durchaus eine Vorstellung von dem zu haben, was Sie ‚Professionalität‘ nennen. Es scheint so viel zu bedeuten, wie ans Ziel gelangen durch Betrug und Manipulation. Es bedeutet, seine Prioritäten nach Habgier und Vorteil auszurichten anstatt nach dem Wunsch, dem Guten und der Gerechtigkeit in der Welt zum Sieg zu verhelfen.“ (S. 133) Liberale Ökonomie statt Ethik? 

Es ist tragisch, wie das zweite inoffizielle Treffen, das Mr Stevens aus der Perspektive des Butlers schildert, jenen ehrenhaften Lord Darlington gerade als Opfer der Manipulation seitens der Nationalsozialisten zeigt. Lord Darlington will kein jüdisches Personal mehr in seinem Haus dulden. Mr Stevens entlässt trotz des Protests von Miss Kenton, der Haushälterin, zwei verdiente, jüdische Hausangestellte. Für den Butler ist das der Loyalität und dem Vertrauen in die Urteilskraft des Lord geschuldet. Dieser deutliche Hinweis auf die ideologische Korrumption im Denken des Lord’s verdichtet sich im Anlass jenes weiteren inoffiziellen Treffens in Darlington Hall, an dem der britische Premierminister, der britische Außenminister und der deutsche Botschafter in Großbritannien, Herr von Ribbentrop, teilnehmen. Zugleich ist Mr Cardinal, der Patensohn Lord Darlington’s, im Haus. Er zieht den Butler ins vertrauensvolle Gespräch. „Wenn Sie seiner Lordschaft zugetan sind, sollten Sie sich da nicht Gedanken machen“, fragt der junge Mann den Butler (S. 263). Mr Cardinal, selbst Lord Darlington sehr verbunden, legt dem Butler den Verdacht nahe, Lord Darlington werde unter Benutzung seines Ehrbegriffs durch die deutschen Nationalsozialisten manipuliert: „Einen ganz kleinen Verdacht, dass Herr Hitler durch unserer teuren Freund Herrn von Ribbentrop Seine Lordschaft herumschiebt wie eine Figur auf dem Spielbrett …?“ (S. 264) Dann bezieht sich Mr Cardinal auf die damalige Rede des Amerikaners von 1923: „er deutete auf seine Lordschaft und nannte ihn einen Amateur. … Nun, ich muss sagen, Stevens, dieser Bursche hatte recht.“ (S. 265) Aus der Sicht des jungen Mannes ist Lord Darlington „die nützlichste einzelne Schachfigur“ Hitlers (S. 266) in Großbritannien. Und jetzt werde der Lord dazu missbraucht, den Besuch des Premierministers und des britischen Königs bei Hitler zu vermitteln.

Während dieser aufwühlenden Gespräche versieht Mr Stevens seinen Dienst. Er kümmert sich um die Gäste. Miss Kenton informiert ihn darüber, dass sie zwecks Heirat Darlington Hall verlassen werde. Das ohnehin bedrohte Lebensgerüst des Butlers gerät an diesem Abend, so vermutet es der Lesende, vollends ins Wanken. Für Mr Stevens aber ist es ein Triumph seiner Professionalität. Er war „der entscheidenden Nabe der Dinge so nahe gekommen, wie dies ein Butler nur wünschen konnte“ (S. 270). „Ich sehe kaum eine andere Erklärung für das Triumphgefühl, das mich an jenem Abend erhob.“ (S. 270) 

Am letzten Tag der Reise trifft er die frühere Miss Kenton, seit Jahren verheiratet mit Mr Benn. In aller Distinguiertheit des Butlerseins lässt er jenen erschließenden Satz der immer noch Vertrauten stehen. Sie sagt, dass es in der zufriedenen Ehe mit Mr Benn auch trostlose Tage gebe, in denen sie sich „ein besseres Leben, das man vielleicht hätte führen können“, vorstelle. „Zum Beispiel denke ich dann an ein Leben, das ich mit Ihnen zusammen vielleicht geführt hätte.“ (S. 281) Nach kurzer Nachdenklichkeit antwortet er: „Wir müssen beide, wie Sie das schon betonten, für das dankbar sein, was wir haben.“ (S.281)

Ist es das, was vom Tage übrig bleibt? Dürfen wir uns mit der Dankbarkeit für das, was wir haben, zufriedengeben? Sollen wir nicht lernen, dass Werte, Ehre, Ethos uns verletzlich machen? Anfällig für Manipulation und Propaganda? Der anfänglich für mich so mühsame Roman von 1989 gewann ab der Textmitte, also mit dem Treffen von 1923, fast tagesfrische Aktualität: Das Entsetzen von uns, der vermeintlich so kritischen Generation von 1968, als Putin im Februar 2022 rücksichtslos und alle politischen Codices verhöhnend die Ukraine überfiel, steckt noch immer in den Knochen. Die aggressive Abwehr des begründeten Verdachts der Missachtung der Genfer Konvention im Verteidigungskrieg der Ukraine durch deren PolitikerInnen, die Propaganda auf beiden Seiten: die menschen- und kulturverachtende Russlands und die verbissen rechtfertigende der Ukraine, sie zeigen, dass der im Roman apostrophierte Begriff von Professionalität in der Politik zu einer politischen Haltung der Werte, der Ehre und des Ethos leicht in Widerspruch gerät. Wenn Politik auf die Kommunikation des Mechanismus der Machtstrukturen reduziert wird, wenn Politiker nicht zugleich ethische Kompetenz und Reflexion und damit die Verletzlichkeit des Menschlichen kultivieren, dann geben wir Herrn Putin, Herrn Xi Jinping und anderen Autokraten recht. So tragisch, wie es der Roman Kazugo Ishiguras an der Gestalt des Lord Darlington und seines Butlers schildert.

Kazuo Ishiguro (Neuausgabe 2021): Was vom Tage übrig blieb. München (Blessing) – Seitenzahlen im Text beziehen sich immer auf diese Ausgabe.

Helga Schubert: Judasfrauen

„Dieses Buch erschien zuerst im Frühling 1990, in diesem wunderbaren politischen Frühling, im Westen. Im Westen und nicht im Osten, wo ich es schon zwei Jahre zuvor beim Aufbau-Verlag abgegeben hatte.“ (S. 5) Es ist ein „altes“ Buch, basierend auf Lesetexten H. Schuberts aus den Jahren 1984 bis 1988. Das ist die erste historische Ebene, die das Buch erschließt. Sie dehnte sich und war kompliziert; denn sie hat mit dem schwierigen Zugang zu dem Material zu tun, das den Texten im 2021 im dtv-Verlag vorliegenden Taschenbuch zugrundeliegt. 

Das Material selbst erschließt die zweite geschichtliche Ebene des Buches. Es stellt „zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich“ zusammen, wie der Untertitel ankündigt. Zum Teil lagen die von H. Schubert recherchierten Quellen in den Archiven der DDR, zum Teil in Archiven in Westberlin. Sie erzählt im Abschnitt „Judasfrauen“ die Geschichte der Recherche, in der sie ein kaum erschlossenes Thema verfolgt: Frauen im Dritten Reich, die ohne dringende Veranlassung oder politischen Druck Menschen an die Kreisbehörden oder direkt an die Geheime Staatspolizei verraten. Zuweilen waren die Denunziantinnen zufällige Zeuginnen kritischer Äußerungen gegenüber dem Zustand und der Regierung Deutschlands während des Krieges, manchmal standen sie ihren Opfern nahe, hatten deren Vertrauen erworben. 

Das Buch hat eine dritte Ebene, die mit der Profession der Schriftstellerin Helga Schubert zu tun hat. Sie ist ausgebildete klinische Psychologin und hat als solche teilweise hauptberuflich, teilweise im Nebenberuf von 1963 bis 1987 in verschiedenen therapeutischen Kontexten gearbeitet. „Frauen, die andere Menschen durch ihren Verrat töteten. Was waren das für Frauen?“, ist die leitende psychologische Frage der Schriftstellerin in ihren Erzählungen. Ihre Mutter wendet zwei Fragen zum Thema des Buches ein: „Fühlst du dich denn überhaupt befugt, über so etwas zu schreiben?“ (S. 15) Und:  „Warum sprichst du eigentlich dauernd von Frauen?“ (S. 16) 

H. Schubert antwortet mit einer klaren Intention: „Mich stört die Frauenveredelung: So sensibel, so zart, so kooperativ, so mütterlich, so mitleidig, so kreativ, so authentisch sind wir nicht. Wir sind auch böse und auch gefährlich, auf unsere Weise. Sobald ein Mensch auf einem Sockel steht, möchte ich den Sockel zerschlagen.“ (S. 16) Das ist die vierte Ebene dieses 174 Seiten reichen Buches: Sie setzt die Auseinandersetzung mit den Bedingungen, unter denen bestimmte Bilder von Menschen entstehen und sich performativ auf die kollektive Meinung auswirken. Diese Gefahr der Sockelstellung wächst unter den Verhältnissen in Diktaturen. Die Ideologie zeichnet bestimmte Menschen dadurch überlebensgroß, dass das Menschliche auf wenige erwünschte Eigenschaften verkürzt wird, die dann umso größer erscheinen.. 

Das Buch ist während der zweiten Diktatur auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert veröffentlicht worden, am Ende der DDR als deutschem Staat in der BRD als dem anderen deutschen Staat. Es beschreibt denunzierende Frauen in der ersten Diktatur auf deutschem Boden, in der Hitlerdiktatur. 

Die Erzählungen über die zehn Frauen, die andere durch ihre Denunziation zu Tode oder mindestens in Haft gebracht haben, sind aus meiner Sicht meisterhaft. Der Autorin gelingt ein Stil, den bei aller Sachlichkeit in Wort und Satz eine vorsichtige, detektorische Empathie kennzeichnet. Sie verbindet dazu Schilderung, inneren Dialog bis zur direkten Rede in einer berichtenden Narration, in die feinsinnig Linien psychologischer Anamnese und Analyse einbezogen sind.

Zwei prominente Opfer von Denunziatorinnen in der Lebensumgebung stellt H. Schubert vor. Dr. Carl Goerdeler, der Oberbürgermeister in Leipzig war und zum Kreis um Claus von Stauffenberg gehörte, wäre nach gelungenem Attentat auf Hitler wahrscheinlich Reichskanzler geworden. Helene, „politisch nicht interessiert“ (S. 39), erkannte Goerdeler auf einem Fahndungsfoto zum Stauffenberg-Attentat. In ihrer Jugend begegnete sie wiederholt Goerdeler, der damals Oberbürgermeister in Königsberg war, der Geburtsstadt von Helene, die dort auch arbeitete. Sie bedrängt ihren Vorgesetzten, der ihre Beobachtung für eine Verwechslung hält, Goerderler anzuzeigen. Sie tut es schließlich selbst. Ihr Lohn für die Denunziation: ein Besuch bei Adolf Hitler und eine Million Reichsmark. Zwei Tage nach der Verhaftung Goerdelers fällt sie einige Tage in ein Nervenfieber. „War es die Erwartung, vom mächtigsten Mann im ganzen Land, vom Führer, bald berührt zu werden? An der rechten Hand, die Innenfläche dieser Hand an seiner? … War es der Sieg im Wettlauf: Ich kann besser als ihr alle beobachten, mich besser als Sie, mein Vorgesetzter, erinnern? Ich bin nicht klein und nicht dumm. … Hat sie vom Blut gekostet, das die Mächtigen der Welt an jedem Tag trinken?“ (S. 47 f) Aus diesen Fragen spinnt H. Schubert das Gedankennetz, in dem sich die Deutungen des Lesers verfangen können.

Das andere prominente Opfer einer weiblichen Denuntiation ist der 27-jährige deutsche Nachwuchsvirtuose am Klavier, Karlrobert Kreiten. Seine Verräterin stammte aus dem Freundeskreis seiner Mutter. Auf ihre Hinweise hin wird er vor einem Konzert in Heidelberg festgenommen. „Nach zwei Wochen wurde er ins Gestapo-Gefängnis nach Berlin gebracht und dort seiner Verräterin gegenübergestellt. Was mochte die Frau empfunden haben, als sie in das hungrige und zerschlagene Gesicht des Sohnes ihrer Freundin blickte?“ (S.99) Diese dem Journalismus angenäherte, berichtende und zugleich hinterfragende Sprache H. Schuberts unterstreicht das Groteske der Denunziationen. 

Am meisten berührte mich, gerade auch durch die sprachlich meisterhafte Darstellung, die Erzählung „Die Vertrauensperson“ (S. 101 – 141). Es ist der umfangreichste Erzähltext im Buch. Der Nachkriegsprozess gegen Dagmar I., einer in Deutschland verheirateten Schwedin, dauerte fast einen Monat lang. H. Schubert verlässt die berichtende Schilderung. Sie bedient sich, um die Frau und ihre Taten darzustellen, des inneren Monologs der Angeklagten. „Du, mein Richter, bist schön, braunäugig, kindlich. Du willst vermutlich gerecht sein. Höflich bist du, fast zart, mein lieber Richter. Du ähnelst einem der elf, die als meine Opfer gelten, du ähnelst Bruder Paulus, dem Geköpften. Er vertraute mir so. Ich war seine einzige Vertraute. Vielleicht hast du Mitleid mit mir? Ich könnte doch deine Mutter sein.“ (S. 103) 

In diesen wenigen, Wort für Wort das Manipulativ der Angeklagten aufbauenden Sätzen, wird wie in einer Opern-Ouvertüre die gesamte Thematik des Prozesses vorweggenommen. Dagmar I. erscheint als histrionische Persönlichkeit. Sie erschleicht, in einer zweckdienlichen Ehe mit einem spröden Gelehrten lebend, das Vertrauen von Menschen mit gesellschaftlichem Ansehen, um sie dann zu denunzieren. Einige ihrer Opfer bezahlten das Vertrauen zu ihr mit dem Tod. „Alle haben sie büßen müssen. Für ihren Hochmut.“  (S. 112) Denn keiner der von Dagmar I. Umworbenen hätte sich aus echtem Interesse mit ihr abgeben. Sie gehörte nie wirklich zu denen, die sie als ihre gesellschaftliche Welt wähnte.

In ihrer Stellungnahme im Prozess erklärt sie dem Richter ihre Unschuld: „Wer mordet, hat Macht. Wer die Macht hat, darf richten. Aber ich habe nichts Böses getan. Ich war machtlos. Der Tod muss sein, der Tod gehört schließlich zum Mord, Herr Richter. Warum macht man sich sonst die Mühe des Mordens? Und es ist eine Mühe. Ein Mord erfordert einen Vorsatz und eine Vorbereitung, das haben sie studiert und mussten es für die Prüfung wiederholen. Und ein niedriges Motiv: Gier nach Geld, Macht oder Sex. Das niedrigere Motiv ist das wichtigste von der Dreieinigkeit. Ein kleiner Fanatismus – er muss gar nicht durchdacht sein – in der Weltanschauung, der Politik, der Religion entschuldigt den Mörder. Der Mörder ist kein Mörder mehr: Ein mildernder Umstand ist da. Aber ich brauche den mildernden Umstand nicht, ich bin keine Mörderin.“ (S. 113 f.) Sie kann alles aus der Warte der gekränkten Persönlichkeit erklären. Ihre Perspektive widerspricht den Aussagen der Zeugen. Sie durchschaute, worin die Einzelnen, die sie kränkten, manipulierbar waren: die Gier nach Geld, nach Macht und Sex. Sie legte es an geeigneter Stelle in geeigneter Form darauf an, dass die Denunzierten sich ihr gegenüber überschätzten und unvorsichtig wurden. Dann gaben sie preis, was Dagmar I. für den Verrat nutzte. Sie, ein Spitzel des Staates ohne Honorar, nur für die Vergünstigung, mehrmals im Jahr nach Schweden ausreisen zu dürfen.

Dagmar I. fasst ihr Plädoyer zusammen: „Ich bin unschuldig. Ich war nur ein Stein. Nur der erste Stein einer Steinlawine. Ich bin eine Gedankentäterin. Nur mit Buchstaben, geschriebenen Worten, soll ich anderen geschadet gaben?“ (S. 140) Gedanken als Anstoß, der zur Verurteilung, zur Bestrafung, zur Hinrichtung führt. Jene scheint so weit vom Anstoß entfernt, dass die Verräterin eine Ursächlichkeit nicht mehr auszumachen vermag. Sie erklärt sich für unschuldig. Wieviele Befehlshaber, Kommandanten, Anstifter in den Kriegen unserer Tage werden sich genau dieser Argumentationsfigur bedienen? „Dieser ganze Aufwand, diese vielen Zeugen. Wegen Beihilfe zu Mord wollen sie mich belangen. Niemals werden sie mich dafür verurteilen können. Denn ich habe nicht beim Morden geholfen. Es sind nicht einmal alle tot, die ich tot haben wollte. … Auf mein Geständnis wartest du umsonst.“ (S. 141)

„Judasfrauen“ verfolgt ein ignoriertes Thema: die Frau als Denunziantin. H. Schubert vermeidet es, die Motive der zehn beschriebenen Frauen vereinfacht über einen Leisten zu scheren. Sie lässt jeder ihre individuelle Motivation. Das Gemeinsame ist, dass das Frauenbild des Dritten Reiches sie alle schützte. Schubert zeigt, dass Frauen eben auch böse und auch gefährlich sein können, auf ihre individuelle Weise und unter dem Schutz der ideologischen Stellung. In der Debatte um Geschlechtsrollendiversität wirft dieses Buch eine wichtige Frage auf: Wie vereinfacht nehmen wir einander wahr, wenn wir nicht ständig und kritisch unsere ideologischen Bilder von einander hinterfragen? Wer intelligent, pragmatisch oder verformt genug ist, der hängt sich solche Debatten wie ein Mäntelchen um, unter dessen Schutz sie oder er die ureigensten Interessen unverhohlen zum Schaden anderer verfolgt.

Wie beendete E. Heidenreich ihre Literatursendung? „Lesen!“

Schubert Helga: Judasfrauen, 2. Aufl. 2021, München, dtv-Verlag TB-Nr.14821 (Alle Seitenangaben im Text bezieht sich auf diese Ausgabe.)

Ich lebe mit Covid.

Ich bin an einer Infektion mit dem Sars-Cov-II-Virus erkrankt. Nach 10 Tagen, seit Freitag, den 08. Juli 2022, ist die Virenlast laut PCR-Test nicht mehr zwingend ansteckend. In den kommenden fünf Tagen soll ich nach wie vor Kontakte in geschlossenen Räumen vermeiden und außerhalb der Wohnung eine FFP2-Maske tragen. Spannenderweise wäre ich arbeitsfähig, in geschlossenen Räumen, im Kontakt mit KursteilnehmerInnen, PatientInnen.

Ich fühle mich nach wie vor krank. Die deutlichen Symptome sind abgeklungen. Ich lebe jedoch in bleierner Müdigkeit und Mattheit. Jeder Morgen verlangt eine langsame Anpassung an den Tag. Nicht, dass ich keine Motivation hätte; jedoch fordert mich jedes Tun, ob im Schwerpunkt kognitiv oder physisch, so sehr, dass ich nach kurzer Zeit erschöpft bin. Hinlegen und schlafen, so würde ich am liebsten mehrmals am Tag regenerieren. Immer wieder Atemnot, Schwindelgefühle bei raschen Bewegungen, fast keine Ausdauer, aber auch Schwierigkeiten mit der Konzentration, mit der Merkfähigkeit, erschwerte Wortfindung, Flüchtigkeit im Zuhören und eine wahrnehmbar reduzierte Fähigkeit der Selbststeuerung, damit lebe ich, seit das Virus in mich eingedrungen ist. Das sog. „Freitesten“ ist ein Euphemismus, der suggeriert: Wenn keine bedeutsame Virenlast mehr nachweisbar ist, dann bist du gesund. Das erweist sich als Irrtum. Die Lebensfähigkeit erscheint mir erheblich eingeschränkt. Das Leben ist gerade durch den Eindringling, den Fremden, das Virus, mühsam geworden. 

In seinem grandiosen Essay „Der Eindringling. Das fremde Herz“ reflektiert der französische Philosoph Jean Luc Nancy (2000) seine Selbst- und Weltbeziehung nach einer Herztransplantation. Da ich derzeit nicht über die Energie zu einer originären Reflexion meines Zustandes nach der Infektion mit Sars-Cov-II verfüge, adaptiere ich einige wenige von Nancys Gedanken auf meine Lage. 

Das Virus ist ein Eindringling. Es kommt ungefragt, ungebeten, nicht eingeladen. Es ist ein Fremder und bleibt, auch wenn es sich einzelner Teile meiner DNA bemächtigt, ein Fremder. Das Virus wird nicht „heimisch“ (Nancy 2000, S. 7). „Sein Ankommen ist in jeder Beziehung immer noch ein Eindringen. Es kann sich auf kein Recht, keine Vertrautheit, keine Gewöhnung berufen, im Gegenteil: es ist eine Störung, ein Aufruhr im Innersten.“ (Nancy 2000, S. 7) Was Nancy über das neue, ihm fremde Herz, das in ihm schlägt, schreibt, lässt sich in anderer Tonart auch auf das Corona-Virus modulieren. Das Virus begegnet mir und ich erkenne es nicht. Ich will es nicht aufnehmen. Ich schütze mich durch Abstand, Maske und Hygiene. Es dringt trotzdem in mich ein. Es besiedelt die Schleimhut meiner Atemwege. Es benützt meinen Organismus als Lebensort, an dem es sich vermehren kann. Es macht mich zum Wirt und damit zum Handlanger, um das Eindringen in andere Menschen vorzubereiten. Zunächst stehe ich dem Geschehen ohnmächtig gegenüber.

Die Vorhandenheit der Viren ist fremdes Leben in mir. Sie löst Prozesse des eigenen Widerstands aus. Eines meiner lebenswichtigen Organe, das Immunsystem, wird aktiv, wehrt den Eindringling ab. Es lässt das Virus den Fremdkörper bleiben, der es ist. Fieber, Schmerzen, Schwäche, das ganze Elend meines Menschseins muss ich erleben. Auf einmal werde ich in den Prozess des biologischen Lebens aufgehoben mit dem Ziel, zu überleben. Und: ich werde nicht gefragt. Es geschieht. Mein Körper organisiert, abseits meines Wollens, ein Überleben, das ich dann zu führen habe. Ich fühle mich elend.

Was heißt „elend“? Das aus dem Althochdeutschen stammende Wort „elilenti“, im Mittelhochdeutschen dann „ellende“, ist verwandt mit dem griechischen Wort allos und dem lateinischen alius, anders, fremd. Der „Elende“ ist der Fremdling, der an dem Ort, wo er sich gerade befindet, keine Heimat hat und damit keinen Schutz (Etymologisches Wörterbuch. Band 1, 1989, S. 349 f.). Wer sich in seinem Elend wahrnimmt, ist sich selber fremd geworden. Er fühlt sich aus sich selber „ausgesetzt“ (Nancy 2000, S. 47). Das erlebe ich in jedem Corona-Test: Ich teste mich, um zu erfahren, wie sich der Eindringling in mir verhält, ob er mich noch in vollem Umfang nützt oder ob meine Immunabwehr ihn bereits zu kontrollieren beginnt. Ich setze mich dem objektiven Messen aus, um den immunologischen Abwehrerfolg zu verobjektivieren. Die Zeit zwischen Eindringen und Abwehr aber erleide ich. „Das Leiden ist das Verhältnis zwischen einem Eindringen und seiner Abwehr.“ (Nancy 2000, S. 41)  

Dieses Leiden ist mein Leben mit dem Prozess von Eindringen und Abwehr. Ich bin es, der dieses Leid spürt, erträgt, aushält. Bin ich es wirklich, frage ich mich immer wieder, oder hat mich das Virus meiner selbst entfremdet, mich ins Elend vertrieben? Mir scheint, dass hier die existenzielle Frage aufbricht, in der der Infizierte sich als Kranker erlebt. Ich leide an dem fremden Virus und zugleich an dem Prozess der Abwehr: Ich erlebe Schmerzen. Ich habe keinen Appetit mehr. Ich fühle mich erschöpft, matt und müde. Ich bin für mich selbst verändert durch den Eindringling. Ich bin zum Wirt geworden für das fremde Virus. Deshalb gehört es zu meiner Verantwortung, andere vor mir zu schützen. Ich gehe in Quarantäne, unterbreche den Alltag, verändere mein Weltverhältnis. Das wirkt sich auch auf mein Selbstverständnis aus. Ich bin mit mir und einer reduzierten Lebenswelt allein. Kann meine Immunabwehr mein Leben schützen? Welches Leben? Solche Fragen erschließen mir Freiräume.

Ein Freiraum besteht in meinem verantwortlichen Leben mit dem Fremden in mir. Ich biete meine Selbstwirksamkeit auf, um meiner Verantwortung gerecht zu sein, andere vor der Wirkung des ungewollten Eindringling zu schützen. Meine Freiheit besteht in der Selbstbeschränkung durch Quarantäne. Es ist ein psychisch anspruchsvoller Prozess, in meiner Schwäche Verantwortung dafür zu übernehmen, was mir ungefragt widerfahren ist. Den persönlichen Freiraum einschränken zu sollen, um andere nicht in dieselbe Lage zu bringen, in der ich bin. Es geht in meinem Abwehrprozess um den Schutz des Lebens anderer und mein Überleben. Es geht um einen verantwortlichen Verzicht, der dem Leben dient, indem ich mein Leben beschränke.

Längst ist deutlich, dass das Infektionsgeschehen nur ein Teil des Krankseins ist, das das Leben bestimmt. Ist die Infektion abgewehrt, verändern sich die Symptome. Der Eindringling wird kontrolliert. Ich darf mich wieder einmischen in die Außenwelt. Doch kehrt allein damit die Vertrautheit mit mir und meinem Leben zurück? 

Der Körper braucht seine eigene Zeit, um aus der Abwehr des Fremden wieder zum organismischen Alltag zurückzukehren. Es bedarf wohl einer eigenen körperlichen Sicherheit, damit leben zu lernen, dass die Antikörper, das immunologische Gedächtnis an den Eindringling ab jetzt für lange Zeit dableiben. Ich werde mich inzwischen daran gewöhnen, dass der Eindringling eine Weile von meinen Kräften lebte. Es ist auch meine Energie, mit der ich das Virus abwehrte, unter Kontrolle brachte. Das Überleben ist gelungen. Ist der, der überlebte, derselbe, der vorher einfach lebte? Worin habe ich mich verändert?

 „Von Schmerz zu Schmerz, von Fremdheit zu Fremdheit ist – bin „ich“ am Ende nichts als ein dünner Faden.“ (Nancy 2000, S. 45) Am einen Ende ist er angebunden an die Erinnerungen, die Vergangenheit, an den, der ich einmal gewesen bin und immer noch bin. Das andere Ende ist offen. Darin besteht die Freiheit meiner Existenz. Ich kann es an jeden gegenwärtigen Augenblick binden, den ich so in meinen Lebensfaden einbinde. So werden die vielen Gegenwärtigkeiten zur Wirklichkeit des Lebens. Etwas an der Fremdheit des Eindringlings nehme ich in mich auf: die Antikörper, die Erinnerung an den Schmerz, das Gedenken an mich während der Zeit des Elends.

Ich lebe mit Covid. Das ist der Unterschied zum rein philosophischen Versuch, wie ihn z.B. Giorgio Agamben (2021) vorlegte. Er warnt vor der biopolitischen Macht des Ausnahmezustandes der verschiedenen pandemischen Gesetzgebungen, die unbemerkt zur Regel werden können (2021, S. 38 ff.) Durch die Infektion und das daran sich anschließende Kranksein ist das Coronavirus nicht nur eine abstrakte Möglichkeit, sondern ein „Teil meines In-der-Welt-seins“ (Agamben 2021, S. 150) geworden. Es ist mir nicht ganz gelungen, während der Quarantäne „angemessene Vorkehrung zu treffen, ohne mich jedoch in Panik zu versetzen“ (Agamben 2021, S. 151), da ich meine Kräfte, auch die Kraft zum Denken, meine Konzentration und die Selbstverständlichkeit der Worte schwinden sehe – nicht wissend, wie vollständig ich mich erholen werde. Die Furcht davor, dass ich nach den ersten Altersschüben in einer nächsten Schwundstufe meiner selbst zu leben habe, hat nichts gemein mit dem „Ohnmächtig-sein-Wollen gegenüber dem Ding, das Furcht einflößt“ (Agamben 2021, S. 148). Ich erlebe es auch nicht als „Gegenteil vom Willen zur Macht“, wie Agamben an der Stelle weiter raisoniert. Die Ohnmacht kann ich nicht wollen. Sie stellt sich ein, wenn das Fremde ungefragt in mich eindringt und dort Prozesse auslöst, die zunächst durch den Körper zum Überleben hin gesteuert werden, das ich als Möglichkeit ergreifen kann – ebenso wie das Ableben, wenn die Abwehr versagt. Das ist meine Freiheit und meine Verantwortung, ein human verstandener Wille zur Macht: leben oder sterben.

Quellen:

Agamben, G. (2021): An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Wien (Turia+Kant)

Nancy, J.L. (2000): Der Eindringling. Das fremde Herz. Berlin (Merve)

Etymologisches Wörterbuch des Deutschen ( 1989; ed. Pfeifer, W.). Band 1. Berlin (Akademie Verlag)

Mein Altern

Es sind die Körperweiser (Riedel & Bögner 2021), in denen sich mitteilt, was wir gerne überhören, übersehen, übergehen. Auch mein Körper setzte für mich so ein Ausrufezeichen. Ich war nämlich drauf und dran, meinen Ruhestand wieder in Berufszeit umzuwandeln. Der Selbsttäuschung gab ich den Namen „aktiver Ruhestand“. Nein, es sollte nicht der „Unruhestand“ anderer Rentner sein, immer mit etwas beschäftigt, ohne Zeit und Ruhe für die Unterbrechung zu haben und dann doch im Fitnessstudio sich stundenlang von Mitschwitzender zu Mitschwitzendem durch zu plaudern. Es sollte ein strukturierter, Forschungsziele verfolgender Ruhestand sein, in dem disziplinierte Recherche und Lektüre sich mit produktiven Schreibphasen und wiederkehrender Dozenten- und Referententätigkeit abwechselte. Aktivitäten eben, die sich an meine beruflichen Tätigkeiten anschlossen – jetzt mit anderem Schwerpunkt und in selbstgesetztem Rahmen. Die Pandemie lud geradezu zu solchem Rückzug in die intellektuelle Innerlichkeit ein. 

Und dann streikten Ende März diesen Jahres mein Herz und meine Lunge. Die Sprache meiner Körperweiser wurde unüberhörbar: Es ist zu viel. Es dauerte mehrere Wochen, bis ich mich langsam und zögerlich auf den von meiner Schwäche, Mattigkeit, Ermüdbarkeit, Erschöpfung gewiesenen Weg der Selbstaufmerksamkeit begab. Ich kenne die Beschwerden aus meinem Beruf, als Therapeut und als Betroffener. Doch jetzt? Im Ruhestand, nach einem guten Jahr des Rückzugs aus jeglicher Behandlungs- und Beratungstätigkeit. nach dem Ende der Lehrtätigkeit an der Hochschule? Es dauerte, bis ich einsah, dass ich es auch ohne stetige berufliche Verpflichtungen schaffte, Arbeitsstrukturen aufzubauen, durch die ich mir mehr abverlangte, als gut ist für mich. Keiner verlangt von mir, ein 900 Seiten dickes, schwieriges philosophisches Werk innerhalb einer bestimmten Zeit durchzuarbeiten, also wichtige Quellenangaben zu verifizieren, mich in Quellentexten der argumentativen Kontexte des Autors zu versichern, zu exzerpieren und gleich kritisch zu kommentieren. Wissenschaftlich-forschende Lektüre eben. Keiner verlangt von mir, täglich eine bestimmte Anzahl von Textseiten zu produzieren, nicht als Entwürfe, sondern möglichst nah an der Druckreife. Daneben verfasste ich noch eilig den einen oder anderen Fachartikel, optimierte meine Kursunterlagen oder erstellte neue Workshops. 

Es war einfach zu viel für mich. Denn in den Ruhestand einzutreten, dafür gab es ja gute Gründe, die mit mir persönlich zu tun hatten. Längst verlangten intensive Arbeitsphasen deutlich verlängerte Regenerationszeiten. Längst sah ich es nicht mehr ein, mich in den beruflichen Arbeiten an widersinnige Bedingungen von Auftraggebern anzupassen – oder mich für undurchdachten Schwachsinn eines Arbeitgebers einzusetzen. Ich wollte die Ruhe, die Unbeschwertheit und die Zeit haben, mich dem zu widmen, was ich für sinnvoll hielt. Ich wollte meine Fähigkeiten und meine Energie für meine persönlichen Projekte einsetzen, ausschließlich und ohne Verhandlungen. So hatte ich mir meinen Ruhestand vorgestellt: in Maßen wissenschaftlich aktiv, in mein Klavierspiel investieren, mich lustvoll fit zu halten, immer wieder einigen Referentenverpflichtungen nachzugehen  und für die wenigen wichtigen Menschen im Leben erreichbar zu sein. Die Pandemie brachte einiges durch einander. Und ich selbst auch, wie meine Körperweiser erzählen. Eines hatte ich nämlich bei alldem übersehen: mein Altern. 

Der Ruhestand bezieht ja seinen ureigenen Wert daraus, das Leben so zu gestalten, dass dessen Grundspannung den faktischen Kräften angepasst ist. Das ist leicht geschrieben und doziert, verlangt in der persönlichen Verwirklichung einige Aufmerksamkeit für jemand, der einem der nächste ist, den man jedoch gerne übersieht: Aufmerksamkeit für mich selbst. Wie verändere ich mich? Wie verändert sich mein „Wertgesichtsfeld“ (Böschemeyer o.J., S. 155)? Wie verändern sich mein Energiehaushalt und meine Kräfte? Was in mir und an mir braucht sorgsame Zuwendung, Pflege? Welches Verständnis bringe ich mir entgegen, vor allem für das, was ich anders erlebe, als ich es gewohnt bin? Welche neue Gewohnheiten darf ich einfach gut heißen? Wie heißen meine „zweiten Pfeile“ der Selbstabwertung (Hanson & Mendius 2012, S. 68 f.), weil ich nicht mehr so bin, wie ich mich sehe?

Altern hat nichts mit Verschlechterung zu tun. Es bedeutet, dass sich einiges und immer mehr Gewohntes verändert. Manchmal nehme ich auch Schaden: das Herz, die Lunge. Das können dann Körperweiser sein für das, was ich ändern sollte – nicht dringend oder schnell, sondern in der meinem Zustand angemessenen Zeit. Lernen eben, allmähliche Einübung von neuen Anpassungen, die zu veränderten Passungen führen: Es gelingt mir – noch nicht oft genug, aber immer häufiger – auch „faule“ Tage einzulegen. Ich nehme dazu den sanften Druck meines Körpers wahr, der signalisiert: Eine Pause tut dir gut. Nicht beschäftigt beschäftige mich dann mit dem, was ich auch gern mag: Zeitung lesen, meine Fotoamera in die Hand nehmen, in aller Ruhe Brot zu backen oder auch im Internet zu surfen, einfach so, ohne Rechercheabsicht. Und beim Radfahren nicht nur Kilometer zu fressen, sondern auch schöne Ecken zu sehen und in mich aufzunehmen. Es ist fein, mir Zeit für ein ausgiebiges Telefonat für einen der wichtigen Menschen in meinem Leben zu nehmen. Und manchmal gelingt es mir, mir etwas zu gönnen, was ich als junger Mensch gut konnte: einfach in meinem Lieblingsstuhl sitzen und nur da zu sein. Das ist es, was ich mir wünsche, wieder besser zu können, weil es einfach und gut ist. Darum gönne ich es mir, nur da zu sein. Immer wieder einmal.

Böschemeyer, U. (o.J.): Herausforderung zum Leben. Lebenskrisen und ihre Überwindung. Hamburg (Books on Demand)

Hanson, R. & Mendius, R. (4. Aufl. 2012): Das Gehirn eines Buddha. Die angewndte Neurowissenschfat von Glück, Liebe und Weisheit. Freiburg (Arbor)

Riedel, C. & Bögner, F. (2021): Embodied Care. Teil 1 u. 2, in: Praxis Palliative Care Nr. 52 und 53 (Praxisbeilagen)

Und sie trinkt grünen Tee.

Bisher trinkt sie vorwiegend italienischen Kaffee. Die Anlässe sind unterschiedlich. Der Cappuccino zum Frühstück. Untertags, in den Arbeitspausen oder nach dem gemeinsamen Essen Macchiato oder Espresso. Und jetzt: grüner Tee, wenn sie zur Arbeit geht.

Aus der Perspektive des Ruheständlers schwer nachvollziehbar. Denn ich kann mir zu Hause einen Macchiato oder einen Espresso machen, um mich bei der Lektüre oder beim Schreiben zu unterbrechen. Ein Ritual, das wir beide genießen: das Aufheizgeräusch der Kaffeemaschine, der leicht heisere Klang der Kaffeemühle, der Duft des frisch gemahlenen Kaffees, das Einspannen des Siebträgers und das leise Rattern der Maschine, während die ersten Tropfen Espresso in die Tasse rinnen. Schließlich zischt die Dampfdüse beim Schäumen der Milch. Weg vom Schreibtisch, im Sessel oder draußen im Innenhof der kleine Genuss. Die Pause. Das kurze Gespräch, bevor wir wieder zur Arbeit zurückkehren. 

Und jetzt trinkt sie grünen Tee. Er bekommt ihr besser als der fremde Kaffee – und er passt wohl auch besser zu den Arbeitsabläufen im neuen Beruf. Vielleicht lässt sich die jeweilige Berufsumgebung auch dadurch kennzeichnen, was während des Arbeitstages getrunken wird. Während der wenigen Jahre als Mitarbeiter in der Führungskräfteentwicklung erlebte ich, wie kreative, teamorientierte mittelständische Unternehmen ihre MitarbeiterInnen motivieren. Eine wichtige Funktion übernimmt dabei die luxuriöse Kaffeemaschine, feines Kaffegeschirr und eine einladende, zur Kommunikation anregende Launch. Die Gespräche während der Kaffeepausen beginnen oft schon, während die Maschine den Kaffee zubereitet. Die gepflegte Atmosphäre lässt jedes Thema zu, private, teamorientierte und sach- und fachbezogene. Es ist eine Kunst, einen solchermaßen einladenden Raum im Betrieb zu schaffen, der als Oase in der Hektik Beruhigung ermöglicht, als Raum für die kreative Auszeit oder einfach als Ort, einander zu begegnen, dient. 

Wie anders sieht dies im sozialen, pflegerischen oder therapeutischen Berufsumfeld aus. Der neben der Besenkammer kleinste verfügbare Raum oder eine Ecke im Dienst- oder Stationszimmer, eine einfache Kaffeemaschine, die fauchend ein schauriges Getränk fabriziert, das ist eigenartigerweise gerade in beruflichen Umfeldern, die von der Kommunikation leben, die Umgebung für die Auszeit. Nicht viel anders sieht es in vielen LehrerInnenzimmern an Schulen aus oder in Behörden, wo die oft lieblose Kantine auch der Arbeitspause dient. Das Ergebnis ist, dass viele MitarbeiterInnen in solchen Berufsumgebungen das Pausengetränk arbeitsbegleitend zu sich nehmen. Meist wird es von zu Hause mitgebracht. Der grüne Tee eben …

Es ist kulturlos, was in den eben beschriebenen Unternehmenssparten geschieht. Denn die Pause muss gepflegt werden. Sonst verfällt sie und wird sinnlos. Das gilt im Homeoffice genauso wie im Betrieb. Viele haben gerade im Homeoffice der letzten beiden Jahre gelernt, wie notwendig die Pausenpflege ist. Die Pause lebt von Definition und Disziplin. Sie hat einen klaren Anfang und ein klares Ende. Wer die Pause zu sehr dehnt, der bringt sich selbst aus seinem Arbeitsrhythmus. Wer die Pausen vergisst, der bringt sich um den Arbeitsrhythmus. Denn er Arbeitsfluss reißt dann einfach mit, bestimmt den Arbeitenden – und nicht umgekehrt. Insofern ist Pausen machen und einhalten auch Ausdruck der Souveränität der Arbeitenden gegenüber der Arbeit. 

Die Arbeitspausen sind eng mit der Arbeitskultur eines Unternehmens oder des individuell Arbeitenden verbunden. Kultur leitet sich vom lateinischen Verb colere ab. Übersetzt wird es mit pflegen und hegen. Das Ergebnis des Pflegens und Hegens ist der cultus, die Lebensweise und die Bildung. Wer seine Pausen pflegt, der hegt durch die Pausen seine Arbeitszeit ein. Er gibt sich dadurch ein Feedback zu seiner Souveränität. Er nimmt sich die Freiheit zur Pause und verantwortet, wie er sie gestaltet. Deshalb ist die Pause auch Kultur: sie muss auch durch Ort und Rahmen ihren Wert für den arbeitenden Menschen ausdrücken. 

Die Eigenart der Kultur besteht gerade in der Gestaltung des Gewöhnlichen durch den Menschen. Eine Gestaltungsmöglichkeit ist die Interpunktion des Gewöhnlichen. Es wird dadurch unterbrochen, gegliedert und auf eine Ordnung bezogen. Die Pause im Arbeitsfluss interpunktiert ihn, schafft Arbeitseinheiten, fördert Kreativität für das folgende Arbeitspaket und ermöglicht die Reorientierung auf das Arbeitsziel. Durch Pausen gestaltet die/der Arbeitende den Arbeitsfluss zum Arbeitsprozess. Erst als Prozess wird Arbeit beschreibbar, dadurch erklärbar und im besten Fall verstehend nachvollziehbar. Das Unstrukturierte des Arbeitsflusses wird durch die Pause eingehegt. Die Pause stiftet Überschaubarkeit, weil sie die/der Arbeitende souverän setzt, indem er aus dem Fluss heraustritt. Deshalb bedarf Pause eines gestalteten Raumes, des guten Kaffees, der zur beruhigenden Distanz oder zum angeregt-anregenden Austausch einladenden Atmosphäre. Dann wird Pause cultus, eine Lebensweise, eine Bedingung von Bildung. Die Pause verbindet Arbeitsformen und Lebensweisen miteinander, so dass nicht nur produziert wird, sondern Bildung entsteht: cultus und cultura. Pause darf Kult sein, auch mit grünem Tee.

Hintergrundliteratur:

  • Buber, M. (1955): Der Mensch und sein Gebild. Heidelberg (Lambert Schneider)
  • Geyer, C.-F. (1994): Einführung in die Philosophie der Kultur. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft)
  • Henrich, D. (2006): Die Philosophie im Prozeß der Kultur. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Liessmann, K. (2017): Bildung als Provokation. Wien (Zsolnay)