Der Krieg gegen die Ukraine ist auch Wortgefecht. Der Missbrauch der Sprache erfasst immer mehr Beteiligte. Auch die Betroffenen selbst, die ukrainischen Politiker spielen mit der Wirkung ihrer Worte. Besorgt frage ich mich nicht nur: Wie wird die Ukraine, wie Russland, wie werden Europa und die NATO aus dem Krieg hervorgehen? Besorgter macht mich, mit welcher Sprache Verhandlungen geführt werden sollen, wenn Worte fortgesetzt missbraucht, im wörtlichen Sinn ver-gewaltigt werden. Nicht mehr die Bedeutung, sondern die Wirkung der Worte kennzeichnet die Sprache des Krieges. Performation entscheidet über die Wortwahl, nicht Information.
Wie wird aus Information performative Rede?
Worte sind mächtig, weil sie etwas bewirken können. Das ist das Wesen des Performativen: Es setzt nicht in Kenntnis, sondern es zielt auf Wirkung. Wen Worte in performativer Absicht treffen, der soll dadurch verändert werden. Seine Lebensform soll durch die Worte umgeformt werden. Diese Umformung ist keine Transformation, Übergang zu Neuem, Anderen. Dabei wird ein Zustand verlassen und der Weg zu Neuem begangen. Performation hat ein anderes Ziel: Sie durchformt einen Zustand, so dass der Zustand sich in sich selbst verändert, z.B. auf neue Ziele ausgerichtet wird oder seine Merkmale neu gedeutet werden. Demokraten werden zu Nazis. Journalisten werden zu Lügenpresse. Ein Angriffskrieg wird zu einer militärischen Spezialoperation.
Performation ist in nahezu jeder Äußerung im Kontext des Krieges zwischen der Ukraine und Russland zu beobachten. W. Putin spricht zu Europa und der NATO mit dem Ziel, dort eine Angstdynamik zu erzeugen. Putin aktiviert die atomare Abschreckung, um intuitive Bilder eines Dritten Weltkrieges bei den Menschen Europas zu befeuern. Der Kreml setzt die Ukraine durch vermeintliche Informationen ins Unrecht und zerstört die gemeindliche Infrastruktur, um die ukrainische Bevölkerung zuerst in Angst zu versetzen und dann an den Rand des Überlebens zu drängen. Russland vereinbart humanitäre Korridore, um durch deren Beschuss die Aussichtslosigkeit eines Überlebens der Ukraine in ihrem Ist-Zustand zu dokumentieren.
Zugleich setzt die ukrainische Regierung Europa und die NATO unter Druck. Auch sie arbeitet mit der Angst. Sie spricht von der möglichen Ausweitung des Krieges über ganz Europa, von der Eskalationsgefahr eines Nuklearkrieges. Dies gibt dem Heroismus der ukrainischen PatriotInnen eine neue Dimension: Die Ukraine deutet den Krieg im eigenen Land zu einem Stellvertreterkrieg für die Freiheit der demokratischen Welt um. Und damit zu einem Krieg, den die freie Welt nicht führen will, weil ihr die Beherztheit dafür fehle. Weil ihr das ökonomische Kalkül wichtiger sei als Werte wie Freiheit oder Güter wie Demokratie.
Performationen erschaffen eine sich zunehmend verselbstständigende, hermetische Welt von Worten, die nicht mehr aus sich selbst sprechen, sondern nur noch im Kontext einer Spannung zwischen Macht und Versagensangst verstanden werden können. W. Putin will den politischen Machtbereich Russlands militärisch vergrößern und sieht mit zunehmender Angst auf die strategische Unfähigkeit, die zu einer wohl nicht vorausgesehenen Isolation des Landes führt. Im Ergebnis heißt das: Der Machtbereich Russland droht sich durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verringern und der Kriegsherr das Gesicht zu verlieren.
Die Ukraine zielt angesichts der Sorge militärischer Unterlegenheit auf die moralische Macht, um seine Zugehörigkeitsinteressen zu Europa und zur demokratischen Kultur durchzusetzen. Während der Kreml also mit der Performativität des Rechts arbeitet, bedient sich die ukrainische Regierung der Performativität der Moral. Geht es W. Putin um die Durchsetzung der Berechtigung seiner Machtintereressen, also letztlich um einen Rechtsstandpunkt gegenüber dem Unrecht der europäischen und NATO-Erweiterung, zielt W. Selenskyj auf die moralische Überlegenheit, durch welche die ukrainische Gesellschaft in ihrem heroischen Widerstand gegen den russischen Aggressor ihr Recht auf Zugehörigkeit zur demokratischen Welt Europas und vielleicht auch zur NATO erkämpft. Putin leitet aus dem (vermeintlichen) Recht die Berechtigung des Machtanspruchs Russlands im Osten Europas ab. Selenskyj leitet aus der (vermeintlichen) moralischen Richtigkeit des nationalen Handelns das Recht der Ukraine ab, in der Europäischen Union, vielleicht auch in der NATO, eine gleichberechtigte Rolle zu spielen.
In dieser performativen Gemengelage gehen rationale und auf Information beruhende Argumentationen unter. Der Blick für Alternativen und Kompromisse erscheint fast unmöglich. Das Gehör für diplomatische Vorschläge wirkt ertaubt. Im Gefecht der Worte werden Worte gewaltsam beschädigt. Sie werden zu Waffen performiert. Es sind aber Worte, mit denen das Gefechts beendet werden soll und ein Weg gefunden werden muss, der zu einer Neubegründung staatlicher und gesellschaftlicher Lebenswelten führt. Es sind Worte, die wieder gelten müssen, so dass man getroffenen Vereinbarungen und unterschriebenen Verträgen vertrauen kann. Darin sehe ich eine mindestens ebenso große Hilflosigkeit wie die, einem militärischen Aggressor so entgegenzutreten, dass er seinen Kampf einstellt. Es ist die Hilflosigkeit gegenüber der eskalierenden Vergewaltigung der Worte durch reine Performation, die sich jeder diskursiven Rationalität verschließt. Mit der gewaltsamen Verhinderung der Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit des Wortes rational überprüfen zu können, nehmen sich alle durch den schrecklichen Krieg Betroffenen und Beteiligten die Chance, vertrauenswürdige Worte des Waffenstillstandes und zuletzt von Friedensverhandlungen zu finden. Die Quelle für neue, unbeschädigte Worte ist genauso endlich wie alle anderen Ressourcen in unserer Welt, in der wir leben wollen.
Die Gefahr des „Kriegs der Worte“ ist das Misstrauen gegenüber dem Wort. Ich befürchte, dass es eines langen Weges für uns alle, für die Europäische Union, für die Ukraine, für Russland bedarf, um wieder Vertrauen in die Worte herzustellen. Denn diejenigen, die gerade ein beispielgebendes Vertrauen praktizieren, sind nicht die Politiker. Es ist die Bevölkerung der Länder, in die Ukrainer fliehen. Jene trauen denen Aufnahmebereitschaft zu, zu denen sie fliehen. Und die, die die Flüchtigen aufnehmen, trauen jenen, die ankommen. Wie schwer wird es für die Menschen sein, demgegenüber, was Politiker demnächst verhandeln, Vertrauen aufzubauen?