Zwei Fragen an Herrn Putin

Was bedeutet tot sein für Sie, Herr Putin?

Wie stellen Sie sich Ihr Sterben vor?

Sie muten vielen Menschen den Tod zu. Menschen, die in der Ukraine leben, werden von Soldaten auf Ihren Befehl hin beschossen und ausgebombt. Den Soldaten muten Sie den Tod zu. Den Soldaten der Ukraine, die das Land gegen den aufgezwungenen Krieg verteidigen müssen. Ihren Soldaten, die den Krieg Tag um Tag aufrechterhalten, um Ihre Ziele, Herr Putin, in der Ukraine durchzusetzen. Gehört die Zumutung des Todes an andere zu Ihrer persönlichen Erzählung, mit der Sie sich den Gedanken an Ihr eigenes Totsein erträglicher machen? Hängt die Zumutung des Todes anderer mit den persönlichen Vorstellungen von Ihrem Sterben zusammen?

Sie fragen sich, wie ich dazu komme, genau die zwei Fragen an Sie zu richten?

In meiner psychotherapeutischen Arbeit mit Sterbenden begegneten mir ganz unterschiedliche Erzählungen vom Leben und vom Sterben individueller Persönlichkeiten. Es waren nie einfach Menschen, die ich im Sterben begleitete. Es waren immer unverwechselbare Einzelne. Sie drückten in den Erzählungen eine mehr oder weniger deutliche Intuition ihrer individuellen Würde aus. Immer ging es dabei um das, was sie gerne gemocht oder gewollt hätten. Um das, was sie leben konnten und was nicht möglich war. Es ging auch um das, was sie sich selbst erlaubten und was sie sich nicht zutrauten. Oft ging es auch um das, wovon sie glaubten, sie müssten es leben, weil es sich so gehört. Manchmal vertrauten Sterbende mir eine wohlgehütete Idee an, von der sie intuitiv wussten, wie wertvoll sie für das Leben ist, die sie aber nicht zu verwirklichen wagten. Mit solchen Erzählungen beantworteten sterbende Menschen meine beiden Fragen an sie.

Was nun bedeutet tot sein für Sie, Herr Putin?

Zugegeben: ich kenne Sie nicht persönlich. Ich habe mich, offen gesagt, mit Ihnen und Ihrer Biografie, soweit sie zugänglich ist, bisher nicht beschäftigt. Jetzt werde ich wie viele andere Europäer sehr unmittelbar mit einem Aspekt Ihrer Lebenserzählung konfrontiert: dem Angriffsverhalten, das Sie wahrscheinlich anders umschreiben würden: nämlich als Staatsraison der erforderlichen Verteidigung russischer Interessen. Es ist für Sie wohl hohe Zeit, dieses Projekt an sein Ziel zu bringen. Damit erklären Sie sich persönlich die Notwendigkeit des Krieges in der Ukraine.

Ich stelle mir nun vor, ich säße bei Ihnen am Sterbebett. Ich stelle mir weiter vor, dass wir miteinander ein Mindestmaß an Vertrauen erarbeitet hätten, das eben durch diese Arbeit auch belastbar geworden wäre. So belastbar, dass Sie es wagten, mir die wohlgehütete Idee, den Beweggrund für Ihr Lebenswerk, anzuvertrauen. Wir würden das alles mit ihrem Einverständnis gemeinsam durchdenken, Sie in der Haltung der Begeisterung dafür, ich in kritischer Distanz. In unserer Dihairese der Gedanken und Motive könnte sich etwas auch für Sie Erstaunliches zeigen. Sie wollten ein wirkliches Lebenswerk hinterlassen. Eines, das ihr persönliches Dasein überlebt – oder vielleicht auch so: in dem Sie das persönliche Dasein überleben. Das erreichen Menschen nur, wenn es ihnen gelingt, die Vergänglichkeit durch Überdauerndes zu überwinden. Dafür finden wir in der griechischen Mythologie eine Gestalt: den Heros. Heroen sind Menschen, denen Unsterblichkeit gewährt wurde. Meist zeichnen sie sich wie Herakles oder Achilles durch eine Beziehung zu den Göttern aus. Sie bewirken Außerordentliches und bestätigen dadurch die Berechtigung zur Unsterblichkeit. Oft hat das Außerordentliche mit Kampf und Krieg zu tun, in dem sie erfolgreicher sind als Sterbliche. Ihr Leben wird heroisch.

Könnte es sein, dass die Gestalt des Heros eine Erzählung dafür ist, wie Sie sich Totsein vorstellen: Der Tod beendet mein Leben. Ich persönlich aber überlebe in meinem außerordentlichen Werk. Weil Sie Realist sind, erarbeiten Sie das persönliche, das Leben überdauernde Werk dort, wo Sie sich im Leben vorfinden: in der Politik für Russland. Das ist der greifbare historische Ort, an dem sie sich als unsterblicher Heros bestätigen. Wir würden in dieser Perspektive durchgehen, was Sie als das Lebenswerk ansehen. Sie würden auf Vieles treffen, was Sie sich als heroisches Verhalten oder heroisches Handeln zuschreiben. Sie könnten sich persönlich entlasten, indem Sie die moralischen Kosten der vielen Menschenleben dem heroischen Weg zuschrieben, als eine Art heroischer Notwendigkeit sähen. Das würde die Angst mildern, die Ihnen meine zweite Frage macht: Wie stellen Sie sich Ihr Sterben vor?

Weil Sie dialektisch geschult sind, wissen Sie, dass das Heroische leichter mit dem Tod als mit dem Weg dahin, dem Sterben, zu verbinden ist. Deshalb wehren Sie, wie andere Sterbende das auf ihre persönliche Weise auch tun, meine zweite Frage mit einer Gegenfrage ab: Möchten Sie so wie ich sterben? 

Ehrlicherweise antworte ich: Nein. 

Ich möchte nicht so sterben, wie Sie, Herr Putin. Denn mich trägt die Erzählung vom Heros und seinem Weg heroischer Notwendigkeit nicht. Für mich darf das Leben zu Ende gehen. Ich habe wenig Angst, mir vorzustellen, nicht mehr da zu sein. Mich treibt eine andere Erzählung um: die der möglichen Zufriedenheit mit dem, was mein Leben im Tod geworden ist. Dahin zu kommen, meinen Frieden mit dem Gelebten zu schließen, das beruhigte mich.

Deshalb möchte ich nicht so sterben wie Sie. Mit den Grausamkeiten der politischen Amtsführung, dem Zynismus der Gewalt, die wenig mit Macht zu tun hat, dem immerwährenden Streben nach Sicherung der eigenen Stellung, dem Argwohn und Misstrauen und der damit verbundenen Isolation als Preis dafür, sich die Geschichte des Heros zu erzählen.

Noch leben Sie. Noch bewegen Sie sich im Reich der Möglichkeiten. Noch könnten Sie sich wahrer Freiheit bewusst werden, die Ihnen keine heroische, aber die menschliche Verantwortung für die Welt, in der wir alle leben, zeigt. Vielleicht ist das Ihre eine wahrhaftig menschliche Entscheidung, in Freiheit und Verantwortung getroffen: Ich beende den Krieg gegen die Ukraine und auch die anderen, die ich führe.

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