Ein lebenskräftiges Neues Jahr 2021!

Von Jahr zu Jahr erleben wir ein Schwellenereignis: Wir geraten an Silvester an die Schwelle, die das vergangene vom kommenden Jahr trennt. Mehrere Begriffe beschreiben das Schwellenereignis: Jahreswende, Jahreswechsel, Jahresübergang. Jahresende und Neujahr haben offensichtlich verschiedene Aspekte, die nicht alle auf einen Begriff zu bringen sind. Ich überlege mir angeregt durch die Pandemiebedingungen, welcher Begriff meine Empfindungen an der Schwelle der Jahre am ehesten trifft. 

Jahresübergang bringt es für mich am genauesten auf den Punkt. Vor der Schwelle zwischen den Jahren angekommen eröffnen sich mehrere Lebensräume im vergehenden Jahr. Als erstes betrete ich den Raum menschlicher Bindungen und Erfahrungen. Es beruhigt, Menschen um mich herum zu wissen, mit denen zusammen ich leben darf. Menschen, die vertraut sind und offen in allem, was im Leben widerfährt. Da sind auch die Sterbenden, die ich psychotherapeutisch begleiten durfte. Ich empfinde es als Privileg, mit Menschen in dieser intimen und zugleich durch die Hospiz- und palliative Versorgung gewissermaßen öffentlichen Lebensphase gearbeitet zu haben. Auch die Menschen, die sich mir in ihrer Trauer anvertrauten, beleben diesen Erfahrungsraum. 

Der nächste Raum, der sich öffnet, hat sich durch das Leben mit der Pandemie mit dem ersten Lebensraum verbunden. Ich denke gerne an das willkommene Gefühl zurück, vorwiegend von zu Hause aus arbeiten zu dürfen, in den eigenen vier Wänden, mit bestem italienischen Kaffee versorgt, mit einer weithin persönlichen Tagesstruktur und all der Kultur des Wissens und des Lebens um mich herum, auf die ich am Arbeitsplatz verzichten muss. Das tägliche gemeinsame Mittagessen mit meiner Partnerin war ein Genuss wie auch der gemeinsame Espresso zwischendurch. Mir fällt auch meine erste Online-Vorlesung nach Ostern an der Hochschule ein, eine völlig neue Lehrerfahrung.

In einem anderen Lebensraum treffe ich auf ein Ereignis, das einen Teil meines Lebens stark veränderte. Die Kündigung meiner Stelle in Hospizverein und Stationärem Hospiz durch meinen Arbeitgeber konfrontierte mich schlagartig mit dem Ruhestand, den ich offiziell mit Januar 2020 hätte leben können. Die mir so wesentliche Arbeit mit Sterbenden, Trauernden und deren nächsten An- und Zugehörigen endete auf einen Schlag. Innerhalb einer Woche fielen Tagesstruktur, Arbeitsinhalte, KollegInnen weg. Mit der Kündigung brach zudem mein wohl überlegtes Konzept für den Übergang aus dem Berufsalltag in den zunächst  aktiven Ruhestand zusammen. Nach dem die erste Irritation verwunden war, setzten Überlegungen ein, wie ich meine Kompetenz im Hospizbereich in anderer Form einbringen konnte. Dafür fand ich interessante und hilfreiche Menschen, mit denen sich neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln lassen und damit auch eine veränderte Form des Ruhestandübergangs. Neue Möglichkeiten, neue Chancen.

Mit heute, am 1. Januar 2021, stehe ich, stehen wir alle auf der anderen Seite der Schwelle, im neuen Jahr. Wir sind über die Schwelle der Jahre gegangen und wir leben noch. Die kommenden Tage werden Tage unseres Lebens sein. Mit allem, was wir aus dem alten Jahr mitbringen, Gelungenem und Misslungenem, Erledigtem und Unerledigtem, Resignation und Hoffnungen. Zum Leben auch im neuen Jahr gehört der sehr verantwortliche Umgang mit der persönlichen Freiheit, gerade weil die Pandemie mit ins neue Jahr übergegangen ist. Auch in den kommenden Monaten werden wir, werde ich mit den coronabedingten Einschränkungen und Unsicherheiten leben müssen. Wir werden lernen, uns von der Fiktion vollständiger Planbarkeit des Lebens verabschieden und wieder mehr im Bewusstsein der Endlichkeit und Unverfügbarkeit und damit gegenwärtig zu leben. Ich hoffe, mir gelingt es, in der Lebenszeit des Jahres 2021 das Leben in den Lebensräumen zu gestalten, die bereits vorhanden sind, und über die Schwelle zu neuen Lebensräumen zu gehen, mich darin einzufinden und sie mitzugestalten. Ich vertraue meiner Kreativität, auch unter den Bedingtheiten der Pandemie mein persönliches Leben sinnvoll zu entscheiden und zu erleben und mich, wenn es die Widerfahrnisse verlangen, mit dessen Ende auseinander zu setzen.

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