„War 2020 das Jahr der Sicherheit, sollte 2021 eines werden, in dem auch die Freiheit zu ihrem Recht kommt.“ Stefan Ulrich, Journalist und Autor, verfasst in der Neujahrsausgabe der Süddeutschen Zeitung (Nr. 302 vom 31.12.20/01.01.21, S. 4) ein eindringliches Plädoyer für die Freiheit angesichts der Pandemiebeschränkungen. „Sicherheit und Freiheit sind Kardinalwerte des demokratischen Rechtsstaates. Oft widersprechen sie einander, so in der Coronakrise. Um Leben zu schützen, greift der Staat massiv in die Freiheit der Bürger [ein].“ (ebd.) In diesen Formulierungen synchronisiert der Autor drei Begriffe, Freiheit, Sicherheit und Schutz. Er vermittelt so den Eindruck, dass Freiheit, Sicherheit und Schutz gleichwertig seien. In der Tat, Freiheit ist ein starker Wert. Der Wert motiviert zugleich zu einer den Menschen auszeichnenden Haltung, nämlich seine selbstbestimmte Unabhängigkeit zu kultivieren („Freiheit von …“) und seine intentionale Entscheidungsfähigkeit zu verwirklichen („Freiheit zu …“). Wenn wir Freiheit als Wert denken, dann geht es um menschliche Freiheit. Freiheit ist der Würde des Menschen einbeschrieben. Der Mensch ist ohne seine Freiheit nicht denkbar.
Mit der Sicherheit verhält es sich philosophisch gesehen anders. Denn Sicherheit ist ein Gut, das mit der Einschränkung von Freiheit verbunden sein kann. Sicherheit entsteht dort, wo die Freiheit in ihrer Kontingenz, also unter existenziellen Bedingungen gelebt wird, die die Selbstbeschränkung sinnvoll oder Fremdeinschränkung notwendig erscheinen lassen. Menschliche Freiheit ist grundsätzlich kontingent, bedingt; denn sie steht in einem Wertzusammenhang mit der Verantwortung. Im Wert der Verantwortung beschränkt der Einzelne seine Freiheit. Denn in der Verantwortung beziehen wir die persönliche Freiheit auf unsere Lebenswelt, zu welcher Andere, Anderes und wir selbst gehören. Wir erkennen die Ereignisse und Menschen der Lebenswelt als jeweilige Grenze (Selbstbeschränkung) oder als Auftrag (Sorge) persönlicher Freiheit an, wenn wir Verantwortung übernehmen. Verantwortung und Freiheit bilden ein grundlegendes Wertepaar. Menschliche Freiheit ohne Verantwortung führt zu Beliebigkeit und Willkür. Sie erkennt und anerkennt dann keine Grenzen. Oder anders: Freiheit setzt sich zu nichts anderem in Beziehung als zu sich selbst.
Darin besteht das theoretische Problem der Freiheitsvorstellung der sog. „Querdenker“. In den drei letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts nannten sie sich „Autonome“. In missverstandener Autonomie wird die Freiheit als beziehungsloser Spitzenwert gegen alle anderen Werte gesetzt. Das heißt dann: nur die Freiheit verleiht allen anderen Werten Bedeutung. Das ist die Suggestion des sog. „Querdenkens“. Wenn also der Staat die Freiheit der Bürger zur Pandemiebewältigung erheblich einschränkt, dann werden die Einschränkungen an und für sich als Bedrohung des Höchstwertes der Freiheit verstanden. Dadurch wird die persönliche Lebenswelt pauschal als entwertet empfunden. Das berechtigt scheinbar zu Protest und Radikalisierung, um dadurch der Freiheit wieder Geltung als Höchstwert zu verschaffen. Im sog. „Querdenken“ wird die ursprüngliche Verwiesenheit von Freiheit und Verantwortung aufeinander konsequent ausgeblendet. Dadurch wird die Freiheit zur egomanen Willkür. Der Zweck der Erhaltung oder Wiederherstellung der Freiheit rechtfertigt dann jedes Mittel: Gewalt, Verschwörungstheorien, Missachtung von Regeln, Instrumentalisierung sogar von Kindern gegen vermeintlich illegitim handelnde öffentliche Ordnungskräfte. So entsteht die Radikalisierung der sog. „Querdenker“-Bewegung. Ich bezweifle, ob die sog. „Querdenker“ von radikal-ideologischen Gruppen instrumentalisiert werden. Vielmehr ist die Radikalisierung eine unmittelbare Folge des aus seinem ursprünglichen Zusammenhang mit Verantwortlichkeit herausgelösten, verabsolutierten Freiheitsbegriffes, der Andere und Anderes übersieht. Denn verabsolutierte Freiheit macht aus sich heraus beziehungslos, was heißt: Der Blick auf die Anderen und Anderes muss jene, muss jenes als befremdlich und fremd bewerten, So kann die Verabsolutierung der Freiheit aufrecht erhalten werden. Das Corona-Virus existiert dann eben nicht oder nur als grippaler Infekt. Ob andere erkranken, ob das Leben langfristig beschädigt wird, gehört zum Anderen, zum Fremden, zur Außenwelt des ideologischen Binnenraums. Der Schritt dahin ist nicht groß, das zu beseitigen, was mir in meiner zugespitzten Freiheitsvorstellung anders und fremd erscheint. Er erfordert keine gedankliche Mühe. Die Außenwelt wird als feindlich bewertet. Denn sie beschränkt die maßlose Freiheit. Zu jeglicher Gegenwehr mutmaßt man sich berechtigt.
Komplexer wird das Thema Freiheit, wenn sie, wie es Stefan Ulrich in seinem Beitrag macht, zusammen mit Sicherheit und Schutz als Wert gesehen wird. Wie dargelegt, verweisen Freiheit und Verantwortung als grundlegende Werte aufeinander. Darin bildet sich die Würde des Menschen ab. Sicherheit nun ist eines der Güter, das aus der verantwortlichen Einschränkung der Freiheit entsteht. Dieses Gut wird operativ durch Schutzstrategien aufrecht erhalten. Insofern behält der Autor in der Pandemiedebatte recht, wenn er zum einen die Frage vermisst, wieviel Schutz vor Ansteckung und Ausbreitung der jeweilig erreichbaren Sicherheit quantitativ angemessen ist. Zum anderen ist bei allen Corona-Maßnahmen die grundsätzliche Reflexion darauf ethisch geboten, inwieweit die staatliche Verantwortung die Freiheit der Bürger einschränken darf. Verantwortung darf genauso wenig verabsolutiert werden wie die Freiheit. Der Preis der Sicherheit vor der Infektion ist immer wieder ethisch abzuwägen. Darin besteht die qualitative Dimension, in der Sicherheit und Schutz ständig zu bewerten sind.
Im demokratischen Verfassungsstaat gewährleistet die Gewaltenteilung, dass die Bürger soviel Freiheit wie möglich haben und sie soviel Verantwortung wie nötig übernehmen. Diese demokratische Grundhaltung hat jüngst Jürgen Habermas (2019) eindrucksvoll rekonstruiert (S. 384 ff.). Dabei sind die drei Gewalten, Legislative, Jurisdiktive und Exekutive, nicht gleichrangig. Nur die Legislative, also das frei gewählte Parlament, drückt die Selbstermächtigung der Bürger als Gesetzgeber aus. Die Legislative wird während der Pandemie in dieser Hinsicht zu wenig in die exekutiven Prozesse konstitutiv, d.h. als Bedingung der Legitimität dieser Prozesse, einbezogen. Gewiss, die erste Pandemiephase bedurfte rascher, direkter Intervention durch Regierungsdekrete. Jetzt aber sollte jede Möglichkeit genützt werden, um die Legislative in ihre Geltung zu setzen. Die Parlamente müssen durch die unablässige Debatte zu den Dekreten die Verantwortung übernehmen. Das ist Ausdruck demokratischer Freiheit – und nicht der sich über alle Regeln hinwegsetzende Protest.
Und wir, die einzelnen Bürger? Jeder von uns bewegt sich als Mensch im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung. In Spannung gerät, was zusammenhängt und belastet wird. Jeder Einzelne wird sich der Mühe unterziehen und in seinem Lebensweltzusammenhang situativ erwägen, wieviel Verantwortung er übernimmt, um die Freiheit des Lebens nicht langfristig zu gefährden. Bei der herausfordernden Umsetzung von Schutzmaßnahmen zur Sicherung des Lebens wird der Blick auf die Freiheit des Lebens zum einen die Motive für die zustimmende Solidarität zugänglich machen. Zum anderen schärft er die Sensibilität dafür, dass die Verantwortung keinesfalls unkontrolliert und ohne demokratische Rechtfertigung bleiben darf, damit sie sich nicht in einem autoritären System verabsolutiert. Wieviel Verantwortung für die Mitmenschen ist nötig und wieviel Freiheit für mich ist möglich, damit ich zur Sicherheit in der Pandemie beitrage? Dabei darf – und auch das leisten die beiden grundlegenden Wertvorstellungen – nicht übersehen werden, dass die Pandemie „ein“ Thema im derzeitigen Leben ist, nicht das einzige!
Das Plädoyer für die Freiheit ist auf das Plädoyer für die Verantwortlichkeit verwiesen. Die Verwiesenheit ist aus einem anthropologischen, ethischen und existenziellen Grund gegenseitig: Freiheit und Verantwortlichkeit in Verweisung aufeinander zu denken bildet die Würde des Menschen ab. Jener kann in Würde leben, er kann auch in Würde sterben. Beides liegt in seiner Freiheit UND in seiner Verantwortung. Auch im Lebensbereich der Pandemie.
Habermas, J. (2019): Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Frankfurt (Suhrkamp)