Der Mensch kann in Würde leben und er kann in Würde sterben. So schrieb ich im vorhergehenden Beitrag. Täglich wird in der Corona-Statistik weltweit über hohe Zahlen Toter berichtet. Ich begleitete viele sterbende Menschen auf ihrem Weg zum Tod. Alle waren sehr schwer erkrankt. Die meisten fanden im stationären Hospiz einen letzten, individualisierbaren Lebensort, palliativ gepflegt und behandelt, umfassend hospizlich betreut. Sie konnten jederzeit besucht werden. Menschen, die an den Folgen einer Coronainfektion sterben, verbringen ihre letzten Lebenswochen meist in intensivmedizinischen Stationen, umgeben mit modernster Technik, von in Hochleistungsteams arbeitenden Spezialisten behandelt. Sie ringen um Leben und Tod, ausgezeichnet medizinisch und pflegerisch versorgt und oft allein oder nur von einem Angehörigen eine Stunde lang besuchbar. Ist das menschenwürdiges Leben? Ist das menschenwürdiges Sterben?
Aufgrund meiner Erfahrungen als Psychotherapeut in der Hospizarbeit frage ich mich: Gibt es unter den Bedingungen der Pandemie für die schwersterkrankten, hochbelasteten Menschen die Möglichkeit, selbst über Leben und Sterben zu bestimmen? Oder diktiert das Notfallregime das Geschehen? Weil rasch entschieden werden muss. Weil PatientInnen sediert sind. Weil die Lebensbedrohlichkeit der Lage die Willensbildung und Selbstbestimmung kaum zulässt. Das mögen pragmatische Gründe sein, die Würde des Menschen in seinem Überleben zu sehen – oder zutreffender: zu vermuten. Mir stellt sich die Frage: Ist der Übergang zur palliativen Betreuung für Menschen mit lebensbedrohlichem Krankheitsverlauf bei Coronainfektion eher die „ultima ratio“, das letzte Angebot, wenn curative Strategien versagen und das Sterben begonnen hat? Oder ist das selbstbestimmte Sterben schon mit Eintritt der Lebensbedrohung eine angesprochene Option?
Die pandemische Zeit stellt die Fiktion der Verfügbarkeit über das Leben grundsätzlich in Frage, möchte man meinen. Allerdings bleibt der Tod auch in pandemischer Zeit eine abstrakte Möglichkeit. Denn er trifft vorwiegend die anderen. Auch die, die von mir gepflegt oder behandelt werden. In den Statistiken sind Tote „Gestorbene“. Ferne Gestorbene. Für die Hiergebliebenen eines Menschen, der an den Folgen der Coronainfektion starb, ist der Tote jedoch der nahe „Verstorbene“, dem die Lebenden „im Modus der ehrenden Fürsorge begegnen“, wie Martin Heidegger feinsinnig unterscheidet (1972, S. 238). Den Hiergebliebenen ist der Tod sehr nahe gekommen. Sie erleben, dass die Coronakrankheit bei aller medizinischer und pflegerischer Kompetenz das Leben der Verfügbarkeit entreißt. Das kann bitter sein. „Wir haben doch alles getan. Wir haben alle Behandlungsmöglichkeiten versucht. Der, die Verstorbene hat so tapfer gekämpft und machte alles mit. Und jetzt ist alles umsonst gewesen.“ Wie oft hörte ich ähnliche Sätze in meiner Arbeit. Mit dem Tod stirbt die Illusion der medizinischen Verlängerbarkeit des Lebens mit. Die Endlichkeit der Lebenszeit wird zum Erfahrungsraum für die Unverfügbarkeit des Lebens.
Diese wichtige Erfahrung wird im klinischen Versorgungssystem zunächst durch die Fiktion der Verfügbarkeit des Lebens ausgebremst. Wird nicht durch die hochentwickelten intensivmedizinischen Möglichkeiten und zuweilen auch die Versprechen in der Therapie der Krankheitsfolgen einer Coronainfektion die Verfügbarkeitsfiktion aufrechterhalten? Muss das Ringen um das Weiterleben immer als erste Option gezogen werden, wenn das Leben todkrank, lastend wird und fast allem widerspricht, was als zufriedenstellendes Leben gesehen wird? Man denke an die während der Beatmungstherapie phasenweise in Bauchlage gedrehten Menschen. Wird mit dem Betroffenen geklärt, dass ein gut begleitetes Sterben im individuellen Fall der Lebenseinstellung und der Würdevorstellung eher entspricht? Ist nicht die Selbstverpflichtung der Ärzte zur Priorisierung, Leben zu erhalten, der Fiktion geschuldet, Leben sei verfügbar? Und: Welches Leben ist damit gemeint? Wirklich ein Leben, das würdevoll ist, oder ein Leben, das physiologisch funktioniert?
Die pandemische Zeit stellt die Fiktion der Verfügbarkeit über das Leben grundsätzlich in Frage. Wir haben es nicht in der Hand, wie die Infektion individuell verläuft. Wenn auch durch die Schutzstrategien und die Impfungen die Verbreitung des Virus eingeschränkt wird, dann kann immer noch keiner vorhersagen, ob das Infektionsgeschehen nicht wieder durchbricht. Die pandemische Unsicherheit macht Angst. Es ist auch die Angst vor der unabweisbaren Einsicht, dass die Verfügbarkeitsthese nicht mehr zu halten ist und sich als Fiktion erweist. Das Leben erweist sich als nicht verfügbar, nicht nur für die Gestorbenen, die Verstorbenen, sondern auch für einen persönlich. Ich kann ein Sterbender werden, angesteckt durch das Virus. Eben diese Dimension der Angst hat keine Öffentlichkeit. Denn es ist die – so natürliche – Angst vor dem Sterben und dem Tod. Beides ist noch immer in vielen Gesellschaften, auch der deutschen, tabuisiert.
Dabei ist die pandemische Zeit eine Gegenwart, in der wir täglich mit vielen Toten und so mit dem Tod konfrontiert sind. Dass wir nicht lernen, über das Sterben und den Tod nachzudenken und zu sprechen, gibt der natürlichen Angst vor Sterben und Tod ein unheimliches Gesicht. Dass oft in den Beatmungs- und Intensivbereichen, wo es gerade während der Pandemie um Leben und Tod geht, die Ärzte und Pflegenden den Tod als Versagen sehen, weil sie den Kampf gegen den Tod verloren haben, verstärkt die Sprachlosigkeit. Wie bewusst ist dabei, dass es der kranke Mensch selbst ist, der – ärztlich und pflegerisch unterstützt – um Leben und Tod ringt? Dass es seine, vielleicht tief innere, nicht kommunizierte oder kommunizierbare Entscheidung ist, zu sterben? Wieviel Raum in aller nötigen medizinischen Dringlichkeit wird der menschlichen Wichtigkeit für das lebensklärende, willensbildende, entscheidungsermöglichende Gespräch gegeben, wiederholt und immer, wenn es die Lage zulässt?
Es geht um Leben und Tod in der pandemischen Zeit. Zwischen Leben und Tod liegt das Sterben als letzte Lebenszeit. Auch in ihr ist die Würde des Einzelnen ethisch das Letztprinzip aller Entscheidungen. Das wird auch durch pandemische Notwendigkeiten nicht aufgehoben. Vielleicht würde manche Schwerstkranke dankbar sein für die Möglichkeit, unter palliativem Schutz vor aller lebenserhaltenden Intervention sterben zu KÖNNEN, NICHT zu DÜRFEN. Denn das Recht auf ein würdevolles Sterben, was ja heißt, das Leben in höchstpersönlicher Würde zu beenden, gewährt nicht der Staat und ist keine Gunst des Arztes. Es ist die selbstbestimmte Entscheidung jedes Einzelnen. Schaffen wir auch in der Bedrängnis der Pandemie dafür den Raum. Denn das Leben ist unverfügbar, lernen wir gerade mit Nachdruck.
Heidegger, M. (1972, 12. Aufl.): Sein und Zeit. Tübingen (Niemeyer Verlag)