Ich sehe heute den Kairos, den rechten Augenblick, mich wieder einmal der Einsicht zu stellen, dass mein Sterben mein letztes Leben sein wird. Dann bin ich tot. Das macht Angst – und es macht besorgt. Die Besorgnis bezieht sich auf das Leben, nicht auf den Tod. Darauf wies Heidegger hin (1972, S. 238 f.). Im Blick auf den persönlichen Tod sich um das Leben sorgen, kann heißen: Weil das Leben unverfügbar ist und die Lebenszeit endlich, ist es sinnvoll, sich auf das Leben und seine Zeit einzulassen. Das haben die Psychiater Viktor Frankl (1987, S. 108 ff.) und Irving Yalom (1980, S. 43 ff.) zu einem Hauptmotiv der Psychotherapie gemacht.
Was bedeutet das während der Pandemie?
Die Pandemieerfahrung macht bewusst, dass das Leben nicht verfügbar ist. Ich weiß aktuell nicht einmal, ob ich Virusträger bin, das Virus verbreite und demnächst selbst erkranke. Weil ich mit dieser Unsicherheit neben vielem anderem Ungesicherten lebe, übernehme ich im Rahmen meiner Möglichkeiten auch Verantwortung dafür, dass sich das Virus nicht weiter ausbreitet und ich selbst gesund bleibe. Ich stimme deshalb den Beschränkungen meiner Lebensführung zu und setze die Regeln und Verbote um. Innerhalb der Grenzen entdecke ich meinen gegenwärtigen Lebensraum. Er fordert mich heraus, Gewohnheiten zu unterbrechen, mir Neues auszudenken und mich auf bislang Ungewohntes einzulassen. Ich spüre, dass mir viel Einstellungsarbeit abverlangt wird. Das strengt an und kann ermüden. Einstellungsarbeit verzehrt psychische und mentale, vor allem Persönlichkeitsenergie. Sie ermöglicht mir dafür Zufriedenheit mit dem, was ich innerhalb der bejahten Grenzen an Freiheit entdecken und verwirklichen kann. Die Unverfügbarkeit des Lebens macht nicht nur Angst, sie setzt auch Motivation zum Leben und Energie für kreative Einstellungen zum Leben frei.
Die Pandemieerfahrung macht mich aufmerksam für das Sterben. Viele Fragen stehen auf:
- Welche Vorstellungen für mein Sterben, das ja die Zeit des letzten Lebens ist, bilden sich in mir? Wann könnte für mich die Grenze dafür erreicht sein, mich für mein Sterben im Schutz palliativ-hospizlicher Betreuung zu entscheiden? Kann ich mir eine solche Lage vorstellen? Habe ich eine Patientenverfügung dafür?
- Wie möchte ich dann dieses letzte Leben verbringen? Wen möchte ich um mich haben? Wieviel Ruhe werde ich brauchen? Was wird mich für den Tag und die Stunde motivieren, zu leben?
- Kann ich mir vorstellen, das Leben gut sein zu lassen und mich dem Tod zu überlassen? Welche Vorstellung habe ich vom Tod?
- Mit wem möchte ich JETZT über meine Gedanken zum Sterben und zum Tod sprechen?
Der Mensch kann in Würde leben und er kann in Würde sterben. Er kann das auch während der Pandemie. Er muss sich zutrauen, die Unverfügbarkeit des Lebens ernst zu nehmen, ihr „hörend und antwortend“ zu begegnen, wie Hartmut Rosa (2019, S. 97) reflektiert. Das schütze davor, „das Sterben als Aggressionspunkt“ zu sehen (Rosa, 2019, S. 96). Ich ergänze den Gedanken. Die Haltung des Hörens und Antwortens beschreibt Leben als Gegenwärtigkeit. Die Gegenwärtigkeit des Lebens ist der Kairos, der rechte Augenblick im Leben. In ihm erkenne ich die Freiheit, die ich gerade habe, und die Verantwortung, die ich für die Freiheit in diesem Moment übernehme. Es leuchtet mir ein, dass ich auch in engsten Grenzen über innere Freiheit verfüge, die beschränkte Lage aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen und zu bewerten. Lasse ich mich von den Pandemieregeln gefangen setzen und verhalte ich mich wie eingesperrt? Oder können die Beschränkungen meinen Lebensraum für eine Zeitlang sogar überschaubarer als sonst machen? Lasse ich mich anregen, den begrenzten Lebensraum aufmerksam auszuleuchten und, was darin durcheinander geraten ist, zu ordnen? Gebe ich im Schutz der Beschränkungen der Phantasie Raum und beginne, den geordneten und überschaubaren Lebensraum auszugestalten, vielleicht zu vertiefen, weil seine Erweiterung gerade schwierig ist. Auch wenn das Leben eng wird, bleibt der Raum für solche Akte der Würde.
Das kann ein Sinn des „Memento mori“ sein, das die philosophischen Lebenslehren der Antike als regelmäßige Übung empfehlen. Wer seine Sterblichkeit in das Leben einbezieht, der entwickelt die Aufmerksamkeit für die Gestaltung des Lebens in Würde, d.h. im Spannungsraum von Freiheit und Verantwortung. Den Kairos im Verlauf der Zeit (Chronos) entdecken, um gegenwärtig zu sein und nicht nur in Erinnerungen des Vergangenen oder Visionen des Künftigen zu leben, kann ein anderer Sinn der antiken Übung sein. In jedem Fall mildert sie die Angst vor den Beschränkungen des Lebens während der Pandemie und angesichts der persönlichen Sterblichkeit.
Frankl, V. (1987, 4. Aufl.): Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Frankfurt (Fischer Verlag)
Heidegger, M. (1972, 12. Aufl.): Sein und Zeit. Tübingen (Niemeyer Verlag)
Rosa, H,. (2019, 2. Aufl.): Unverfügbarkeit. Salzburg (Residenz Verlag)
Yalom, I. (1989): Existenzielle Psychotherapie. Köln (Edition Humanistische Psychologie)