Im Beitrag zur Demokratie (09.01.21) war die Sprache wichtig; denn es ging um Widerspruch. Widerspruch als Gegenrede, die mit Bedacht und Genauigkeit verdeutlicht, was aus dem Ruder läuft. Die auch davon spricht, wie es sich im Gegenzug zum Chaos verhält, wenn Ordnung in das Denken und die Dinge gebracht wird.
Während meines Studiums an der Universität Tübingen hatte ich gerade noch Gelegenheit einen Philosophen zu erleben, der der Macht des Wortes in zweifacher Hinsicht traute: Ernst Bloch (1885 – 1977). Die Macht des Wortes entfaltet sich erstens in der Kritik des Bestehenden. Sie treibt, und das ist das Zweite, zur Suche nach dem an, was sich an Utopischem im Bestehenden finden lässt. Nur so kommt der Mensch weiter. Daraus folgt die These: „Denken ist Überschreiten.“ (Bloch, 1976, S. 2). Wer im Denken die Wirklichkeit auf das Utopische hin überschreitet, der trifft auf die Hoffnung. Die Anschlussthese ist folgerichtig: „Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.“ (Bloch, 1976, S. 1) Das Motiv dafür: „Wissend-konkrete Hoffnung also bricht subjektiv am stärksten in die Furcht ein, leitet objektiv am tüchtigsten auf die ursächliche Abstellung der Furcht-Inhalte hin. Mit der kundigen Unzufriedenheit zusammen, die zur Hoffnung gehört, weil sie beide aus dem Nein zum Mangel entspringen.“ (Bloch, 1976, S. 3)
Angst und Furcht schaffen Mangelzustände. Sie schränken ein und binden an Verhaltensweisen und Handlungen, die Sicherheit versprechen. Die Sicherheit entsteht dabei nicht aus der „ursächlichen Abstellung der Furcht-Inhalte“, sondern aus der Vermeidung der Situationen von Angst und Furcht. Daraus entsteht ein Mangel an Lebendigkeit. Gerade den beklagen wir in unserem verschlossen anmutenden Leben. Als Künstler der Angst, die wir sind, binden wir flugs unsere Erwartungen an das Naheliegende, wie an die Impfungen gegen Corona oder den Regierungswechsel in den USA. Erwartungen scheinen die Schlüssel, mit denen wir wieder ins Leben zurückkommen. Ist es das, was Bloch mit dem Lernen der Hoffnung meinte?
Hoffnung und Utopie gehören zusammen. Wer hofft, öffnet sich der Zukunft. Zukunft ist mehr als Erwartung. Erwartung legt die Zukunft auf das fest, was wieder unseren persönlichen Bedürfnissen entspricht. Zukunft überschießt das Erwartete um das Mögliche. Das Mögliche ist im strikten Sinn das, was noch nicht ist und was werden kann. Eben das Utopische. Die Utopie ist eine denkende Strategie, um die Zukunft in Worte zu fassen. Die Utopie ermöglicht Worte für das, was sein kann. Utopie ist Beschreibung des Möglichen in der Offenheit der Zeitdimension Zukunft.
Hoffnung ist im Unterschied zur Erwartung die angemessene Haltung zur Utopie. Denn Hoffnung legt nicht fest. Sie ist weniger in Gefahr, die Vorstellung dessen, was sein sollte, nämlich das Erwartete, mit dem was sein könnte, zu verwechseln. Hoffnung spielt damit, dass das Erhoffte noch keinen Ort (im Altgriechischen „ou topos“) in der gegenwärtigen Wirklichkeit hat. Erhofftes kann zu einer veränderten, neuen Wirklichkeit werden, es muss es nicht. Utopien sind also weder Illusionen noch Erwartungen. Gegen Illusion grenzt sich die Utopie durch die Beschreibbarkeit mit rationalen Mitteln ab. Von der Erwartung unterscheidet sie sich durch die Offenheit gegenüber dem Möglichen. Die Utopie öffnet die Gegenwart durch den Blick auf die Zukunft – oder anders: Sie bereichert die Wirklichkeit der Gegenwart durch das überschreitende Denken in das Mögliche. Überschreitendes Denken und aufmerksame Offenheit fließen in der Haltung der Hoffnung zusammen. Hoffnung macht vorlaufend erfahrbar, wie es sein könnte, wenn das Utopische Wirklichkeit wird (Vgl.: Bloch, 1976, S. 5 ff.).
Was ist eine Übung in Utopie in der gegenwärtigen Wirklichkeit? Zuerst stellen wir die Frage nach den Erwartungsankern, die neue Regierung in den USA, die Impfung gegen das Virus, das Ende des Lockdowns, die allmähliche Rückkehr in das Alltägliche und schon Gewohnte, das uns als das Sicherste erscheint.
Was ist die Hoffnung dahinter? Ich hoffe, dass wir nicht völlig in das Gewohnte zurückkehren, sondern dass Neues, Ungewohntes, Utopisches möglich und verortbar wird. Ob das politisch eine veränderte Solidarität in Europa ist, wie es der gemeinsame Impfstoffankauf hoffen lässt. Oder ob das die Einsicht ist, das weniger Reisemobilität die Umwelt entlastet und die Aufmerksamkeit für die Kultur und die Natur, das Anregende und Entspannende in der Nähe fördert. Oder ob es die persönliche Erfahrung ist, dass es sich lohnt, bewusst immer wieder Zeiten zu setzen, in denen nur ich mit mir selbst zusammen bin. Oder ob ich anders auf meine Mitmenschen blicken werde, den Menschen mehr Ansehen schenke, indem ich sie bewusst ansehe, mir dann, wenn die Menschenmengen wieder beginnen lästig zu werden, in Erinnerung rufe, wie sehr ich mich danach sehnte, wieder unter Menschen zu sein. Ob mich das Wertvolle am Leben und des Lebens begeistern wird, einfach weil Leben der Ort des Wirklichen und des Möglichen ist. Vielleicht werde ich künftig Begeisterung mehr schätzen als Sicherheit? Daraus ließe sich doch eine persönliche Utopie formen, die ich mit der Energie meines Hoffens nähren kann: „wir allein sind die Gärtner des geheimnisvollsten Baums, der wachsen soll“, spielt Bloch (1985, S. 341) auf utopisch -paradiesische Zustände an. Jene findet er nicht in einem unerreichbaren Es-war-einmal und Irgendwo, sondern als persönliches und menschheitliches „Experimentum Mundi“ (Bloch, 1985).
- Bloch, E. (1985): Geist der Utopie. Erste Fassung 1918, Frankfurt (Suhrkamp)
- Bloch, E. (3. Aufl. 1976): Prinzip Hoffnung. Frankfurt (Suhrkamp)
- Bloch, E. (2. Aufl. 1985): Experimentum Mundi, Frankfurt (Suhrkamp)