Was ist und kann Demokratie?

Die Bilder der sich entfesselnden Gewalt von Bürgern, die in demokratisch verfassten Staaten wie in Deutschland und den USA gewaltsam gegen die Verfassung und deren Symbole (Reichstag in Berlin, Capitol in Washington) vorgehen, entsetzen. Das ist gut so. Dem Entsetzen muss unbedingt Widerspruch folgen. Widerspruch hat mit Sprache zu tun. Mit Bedacht und Präzision müssen Worte gefunden werden, die die Gewalt beschreiben, sie analysierend auf den Begriff bringen und die Konsequenzen dieser Gewalt für alle verdeutlichen, für die Gewalttäter, die Opfer der Gewalt, die entsetzten Beobachter und die Ignoranten solchen Geschehens, also für uns alle, die wir uns als Gesellschaft verstehen. 

Ich erhebe nicht den Anspruch, dass es mir in diesem Beitrag gelingt, alle erforderten Worte zu finden. Ich habe auch nicht den Anspruch, dass die Worte, die ich einsetze, der Präzision genügen, die notwendig ist. Ich versuche, wenigstens einige Worte aufzuspüren und mit Bedacht einzusetzen, die zum Widerspruch taugen.

Was in dieser Woche in Washington und am 29.08.2020 in Berlin passierte, war Gewalt. Schiere Gewalt. Gewalt ist nicht mit Macht zu verwechseln. Macht nimmt sich nicht das Recht, geltendes Recht außer Kraft zu setzen. Macht bedarf ihrerseits der Legitimation; sie ist also mit Rechtsetzung verbunden. In demokratischen Verfassungsstaaten geht die Macht vom Volk aus. Die BürgerInnen ermächtigen in modernen Demokratien Regierende durch Wahl. Demokratische Gesellschaften machen ihre Angelegenheiten im Diskurs, im Dialog, der auch strittig sein kann, öffentlich. Genau das war die Entdeckung der Bürgergesellschaft Athens, für die Aischylos in einer Tragödie das Wort Demokratie einsetzte (Röder, 1999, S. 5; Habermas, 2019/1, S. 409) Die Gewaltenteilung in Legislative, Judikative und Exekutive versucht die Macht bei den BürgerInnen zu halten. Sie gilt als Schutzkonzept davor, dass durch das Volk ermächtigte Politiker ihre Macht gegen das Recht einsetzen. Die Macht des Volkes kontrolliert den Machtgebrauch seiner Regierenden.

Gewalt ignoriert Gesetze im vermeintlichen Recht, Unrecht zu beenden, oder, was als Recht empfunden wird, mit roher Kraft durchzusetzen. Gewalttätige sprechen nicht. Sie brüllen oder sie lassen Waffen sprechen. Gewalttätige streiten nicht mit Argumenten, sie kämpfen mit schierer Bracchialität den Gegner nieder. Sie bedrohen durch physischen Druck. Gewalt entzieht sich der Legitimation, weil sie, was in Gesetzen ausgedrücktes Recht ist, ignoriert, überschreitet und niederreißt. Für die Anwendung von Gewalt mag es Anlässe, sogar Gründe geben; sie sind in seltenen Fällen legal und schon gar nicht legitim. Denn zur Gewalt ermächtigen sich Gewalttäter selber oder werden von anderen Gewalttätern beauftragt. Es gibt keine demokratische Meinungsbildung und auch keine innere Kontrollinstanz. Das unterscheidet Gewalt von Macht. 

Im Sturm auf das Capitol wie auch in der Erstürmung der Reichtagstreppen richtet sich die rohe Gewalt gegen das Zentrum demokratischer Macht: das Parlament. In demokratischen Parlamenten wird im Idealfall der Diskursraum offengehalten, der es uns Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, unsere Angelegenheiten öffentlich zu verhandeln, Gesetze zu beschließen, um Ordnung in unsere gesellschaftlichen Angelegenheiten zu bringen. Das nennen wir seit Aristoteles Politik. Der griechische Philosoph beschrieb der Politik das Medium ihres Vollzuges ein, die Sprache: „Das Wort aber oder die Sprache ist dafür da, das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und der Ungerechte anzuzeigen. Denn das ist den Menschen vor anderen Lebewesen eigen, daß sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“ (Politeia, 1253) Die Sprache ist das Medium des gesellschaftlichen Lebens und, auch das ist aristotelisch (ebd.) beerbt, das Medium der Gerechtigkeit. Wer Gewalt gegen die Garanten des Diskurses austrägt, verlässt damit auch die Sprachlichkeit als Medium der demokratischen Gesellschaft. Gewalttäter lassen nicht mit sich reden. Sie haben die politische Sprachgemeinschaft verlassen – und im Sinne der Demokratie auch die politisch sich stetig legitimierende Rechtsgemeinschaft. Das muss gesehen werden: Die Gewalttätigen in Washington und Berlin sind nicht aus der demokratischen Gesellschaft vertrieben worden, sondern sie haben sich durch die bracchiale Aggression selbst außerhalb gestellt. Sie haben sich selbst zu „Outlaws“ gemacht.

Darin besteht aus meiner Sicht ein Element des Widerspruches: Es ist für jeden Demokraten wichtig, sich den Zusammenhang zwischen Sprache, Politik als Diskurs und demokratischer Gesellschaft als „Ort der Gerechtigkeitspaxis“ (Hamacher, 2018, S. 13) klar zu machen, gerade angesichts solcher Angriffe darauf. Daraus ergeben sich die Worte, mit denen das aggressive Geschehen sich aufschließt. Demokratische Macht ist etwas anderes als die Gewalt der Aggressoren in Berlin und Washington. Jetzt ist es entscheidend, dass der Diskurs sich mit der Legitimation der Machtmittel beschäftigt, durch die den Aggressoren keine Toleranz ausgedrückt wird. Es ist wichtig zu sehen, dass sie es sind, die den Sprachraum verlassen haben, der die öffentliche Verhandlung der Angelegenheiten, der Ungerechtigkeitsempfindungen und tatsächlichen Ungerechtigkeit ermöglicht. Dass es viele sind, die seit Jahren den demokratischen Sprachzusammenhang verlassen, verweist auf darauf, dass sozialkognitive und ethische Lernprozesse transnationaler Kooperationen demokratischer Gesellschaften noch nicht in Gang gekommen sind (Habermas, 2019/2, S. 797 ff.). 

Es ist noch keine Sprache für den transnational erweiterten Raum demokratischer Gesellschaften gefunden, in der sich die erforderlichen Diskurse führen lassen und die BürgerInnen dazu motiviert, „die Rolle des demokratischen Mitgesetzgebers auch gemeinwohlorientiert wahrzunehmen“ (Habermas, 2019/2, S. 798). Die Sprache des Rechts allein reicht nicht hin. Denn der Rechtsstaat schützt nur Leben und Besitz des Einzelnen. Vielleicht ist dies eine Ursache für die zunehmende Gewalt, dass durch das Pochen auf die Rechtsstaatlichkeit für den Einzelnen das Gemeinwohl für die Gesellschaften aus dem Blick geraten ist. Immer wieder sprechen führende Politiker der AfD von den Prinzipien des Rechtsstaates und nicht von den Grundlagen des auf der Gemeinwohlorientierung beruhenden demokratischen Verfassungsstaates. Die Sprache verrät die Absicht. Ähnlich wie bei Donald Trump. Er selbst hatte ja schon im Wahlkampf zunehmend die Sprachgemeinschaft des demokratischen Verfassungsstaates verlassen. Er ignorierte die durch die BürgerInnen legitimierte und zu kontrollierende Macht, indem er selbst versuchte, auf der Basis alternativer Fakten auch ein alternatives Recht zu schaffen, für das letztlich er selbst der Legitimator sein wollte.

Die Suche nach Worten für den Widerspruch gegen die Gewalt bewegt sich in einer intakten Beziehung zum politischen Sprachraum der demokratischen Gesellschaft. Sie ist eine Form politischer Praxis. Sie beansprucht die Toleranz des offenen Diskurses, wie er Demokratie kennzeichnet. Der Diskurs ist der einer gemeinwohlorientierten Legitimation und Macht. Er vollzieht sich nach Regeln, die sich die BürgerInnen selbst gesetzt haben, um zu unterscheiden, was Recht ist und Unrecht. Unrecht verwirkt die Toleranz der Gesellschaft dann, wen die, die es tun, den Sprachraum der Demokratie verlassen haben. Sie dokumentieren damit, dass sie nicht mehr an der öffentlichen Verhandlung ihrer Angelegenheiten in der Gesellschaft interessiert sind. Sie nehmen die Sache gewaltsam in die Hand, gestützt durch eine vermeintliche Legitimationsquelle, zu der sich ihre Anführer selbst gemacht haben. Die Folgen erleben wir gerade. Demokraten wissen es anders. Wir sollten darüber sprechen, schreiben, Grenzen setzen und nach den Regeln demokratischen Rechts dazu ermächtigen, das Gemeinwohl zu schützen.

Quellen und Hintergrundliteratur:

  • Agamben, G. (2018): Was ist Philosophie?, Frankfurt (Fischer)
  • Aristoteles, Politik (4. Aufl. 1981; übers. von Rolfes, E.), Hamburg (Meiner)
  • Bernauer, Th., Jahn, D., Kuhn, P. & Walter, S. (4. Aufl. 2018): Einführung in die Politikwissenschaft. Baden-Baden (Nomos)
  • Habermas, J. (2019): Auch eine Geschichte der Philosophie. 2 Bände. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Hamacher, W. (2018): Sprachgerechtigkeit. Frankfurt (Fischer)
  • Liessmann, K. (3. Aufl. 2017): Bildung als Provokation. Salzburg (Zsolnay)
  • Röder, L. (1999): Die politische Dimension der attischen Tragödie. http://www.grin.com/document/132383

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