Wer ist Mob?

Trump scheidet. Sein Mob bleibt. Vergleichbare Formulierungen sind seit der Amtsübernahme des neuen amerikanischen Präsidenten zu lesen und zu hören. Herr Trump und seine Anhängerinnen und Anhänger haben eine emotional aufgeladene Bindung aneinander. Sie scheinen auf einander eingeschworen. Sie bewegen sich in einer über die Jahre hin immer abgeschirmteren Gemüts- und Gedankenwelt. Drinnen leben die Guten, draußen sind die Bösen. Übergänge gibt es nicht. Dazugehören ist alles. Mit Trump fühlen bedeutet auch zu denken wie er, zu sprechen wie er. Donald Trump und seine Gefolgschaft bilden ein System. Auch er fühlt sich, bei aller Abgehobenheit und Arroganz, zu diesem von ihm aufgegriffenen und kultivierten System zugehörig. Auch Trump ist unzufrieden. Emotional unzufrieden, weil seine Bedürfnisse und Vorstellungen von „seinem“ Amerika nicht erfüllt werden. Er trat an, das zu ändern. Er setzte sich durch, weil die Menge der Unzufriedenen eher leicht zu sammeln ist. Er wurde nicht wieder gewählt und hatte abzutreten. Zurückbleiben die Unzufriedenen, die jetzt wieder auf sich selbst gestellt sind. Denn sie verlieren vorerst ihre Identifikationsfigur. Sie sind wieder allein mit ihrer Frustration, die vermutlich viele Dimensionen hat: ökonomisch enttäuscht, sozial isoliert, politisch übersehen mit allen Betroffenheiten der Persönlichkeit und der Lebenswelt. Durch die Zugehörigkeit zu der Welt, die der Expräsident Trump ihnen angeboten hatte, hatten sie eine Bedeutung erhalten, die ihre Ansprüche auf Teilhabe an der amerikanischen Gesellschaft abbildete.

All diese Menschen pauschal als Mob zu bezeichnen, wird ihnen nicht gerecht. Das entspricht auch nicht dem Appell des neuen Präsidenten, Joe Biden, wieder ein gewisses Maß an Würde im Umgang miteinander einkehren zu lassen. Wer sich radikalisiert, um die eigenen Interessen mit Gewalt durchzusetzen, wer sich in Gruppierungen organisiert, die durch die schiere Masse auf die Anderen bedrohlich wirkt, wem nichts heilig ist, weder die Symbole der Demokratie noch der Respekt vor den Andersfühlenden und -denkenden, wer dann losmaschiert und versucht platt zu walzen, wer und was im Wege steht, der gehört zum Mob. Anderen Anhängerinnen und Anhängern D. Trumps ging der Mob mit der Erstürmung des Capitols deutlich zu weit. Sie grenzten sich wahrnehmbar vom Mob ab. Kein interviewter Republikaner äußerte nur ansatzweise Verständnis für die antidemokratischen Aktionen. Dennoch verteidigen viele das Regierungshandeln des ehemaligen Präsidenten.

Es gibt verschiedene Arten und Weisen, Frustration zu äußern: Resignation und Depressivität, Ärger und blinde Wut. Frustration entsteht, wenn Bedürfnisse unerfüllt bleiben, auf die ein vermeintlich im individuellen Menschsein begründeter Anspruch besteht. Frustration entsteht, wenn die Bereitschaft fehlt, die Anspruchshaltung und deren Berechtigungsgrund zu klären. Frustration wird aufrecht erhalten, wenn man beginnt, nach der Devise „Mehr desselben“ (P. Watzlawick) mit gleichbleibenden Mitteln, die nur in ihrer Anwendungsintensität gesteigert werden, die Ansprüche durchzudrücken. Die Wut eskaliert, wenn das wenig Aussicht auf Erfolg hat. Das spielte schon immer autoritären Politikern in die Hände, die sich als Projektionsfiguren für enttäuschte Erwartungen anboten.

Im „Kommunistischen Manifest“ (1848) stellt Karl Marx (1971, S. 545) dazu eine denkenswerte Frage: „Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte ihr Bewusstsein sich ändert?“ Das ist die Chance einer veränderten Politik in den USA genauso wie bei uns in Europa. Die Lebensverhältnisse beeinflussen die Gefühls- und Gedankenwelt der Menschen. Andererseits hat jeder Einzelne eine Mitverantwortung dafür, wie die Lebensverhältnisse aussehen. Wer sich dort, wo er gegenwärtig steht, umdreht und losläuft, der läuft gegen die Wand der Vergangenheit. Die Vergangenheit bleibt davon unberührt. Sie bleibt, was sie geworden ist. Wer etwas ändern will, der geht beherzt in Richtung Zukunft. Innehalten und nachdenken, wie manches in der Vergangenheit erlebt und gemacht wurde, ist sinnvoll. Denn wir alle sind durch das, was geworden ist, mitgeprägt. Veränderung jedoch kann nie in Richtung Vergangenheit gehen. Sie greift nach vorne aus, in Gefühlen des Aufbruchs, durch Denken des Neuen, durch Ideen für das Bessere. So beeinflussen wir Menschen die Lebensverhältnisse. Wenn die Frage von Marx richtig gestellt ist, dann wirken veränderte Lebensverhältnisse auf die zurück, die in ihnen leben.

„Mob“ kennzeichnet Menschen, denen solches Denken fremd ist. „Mob“ will zurück in ein „es war einmal“, das als die bessere Zukunft vorgegaukelt wird. „Mob“ setzt dafür nicht Denken, sondern Gewalt ein. „Mob“ sind beruhigender Weise nicht die meisten. Trump ist einstweilen weg. Geblieben sind Menschen, die an der Zukunft arbeiten wollen und werden, sind Menschen, die verunsichert nach veränderter Orientierung suchen – und sind auch Menschen, die sich immer wieder an Identifikationsfiguren anschließen, weil sie möglicherweise nie bereit für die Zukunft waren oder auf dem Weg in die kommende Zeit an irgendeinem Punkt stehenblieben, resignierten, die Orientierung verloren. Bis sie auf jemand trafen, der ihnen den Stillstand als Zukunft verkaufte. Auch sie sind und bleiben Menschen.

Marx, K.: Das Manifest der kommunistischen Partei, in: ders. (1971), Die Frühschriften (ed. Landshut, S.), S. 525 – 560. Stuttgart (Kröner)

%d Bloggern gefällt das: