Missouri

Es dauerte eine ganze Weile, bis dieser Beitrag fertig gestellt war. Vielleicht hat das auch mit dem Buch „Missouri“ von Christine Wunnicke zu tun, das mich zu langem Nachdenken anregte. Zwei Männer, Mitte des 19. Jhdt., stehen im Mittelpunkt der Erzählung „Missouri“. Ein Brite, Douglas Fortescue, Gerichtsschreiber in Manchester, beschließt die Reform der englischen Dichtkunst. Er färbt sich die Haare pechschwarz und verfasst sein erstes Prosagedicht, mit dem er über Nacht bekannt wird. Nach London umgezogen schreibt er weiter Prosagedichte wachsenden Umfangs. Er lässt sich durch die drogenschwangeren Bilder, Aussagen, Wortfetzen der Gäste seiner legendären, vor allem von jungen Männern besuchten Partys inspirieren, bis er – der Spekulationen über die Genese seiner ungewöhnlichen Gedichte leid – seine Schriftstellerei einstellte und sich der gerade entstandenen Fotografie zuwandte. Douglas wandert alsbald mit seinem Bruder Jeremy Fortescue in die USA aus.

Dort lebt der zweite Protagonist der Erzählung, Joshua Jenkyns. Noch als Kind lässt ihn sein Vater, ein berüchtigter Räuber, einen Mann erschießen. In den Taschen des Toten findet Joshua ein Buch, den zweiten Band der gesammelten Werke des englischen Dichters Lord Byron. Der Junge lernt lesen und Byron wird zu seinem Lebensgefährten, zu seinem intimsten Vertrauten auf den Raubzügen. Denn der pubertierende Joshua hatte inzwischen die Bande seines toten Vaters übernommen und überfiel alles, was in Illinois Beute versprach. Auf seinem Weg in den Westen entdeckt er ein Buch des britischen Dichters Douglas Fortescue, das umfangreiche Prosagedicht Colours. Beeindruckt von der dichterischen Beschreibung eines trägen Flusses mit kaffeebraunem Wasser wird der Missouri zu einer Art Kraftort Joshua’s. 

Auf dem Weg nach Westen kreuzen sich die Wege der beiden Männer. Joshua überfällt die Kutsche, in der Douglas und sein Bruder unterwegs zum Erwerb von Farmland sind. Joshua entdeckt, dass einer der Gefangenen Douglas Fortescue, sein Dichter, ist. Allmählich kommen der Gefangene und sein Räuber ins holprige, dann zunehmend intimer werdende Gespräch der kargen Worte. Joshua führt Douglas zum Missouri und entdeckt, dass jener in Colours nicht diesen Fluss, sondern einen anderen, fremden beschrieben hat. Douglas empfindet den Missouri als eher bedrohlich. Er wird in die Bande aufgenommen und gilt nicht mehr als Gefangener. Aus dem Gespräch Joshuas mit der Dichtung Fortescue’s wird der Dialog mit dem Dichter Douglas. Sie werden ein Liebespaar. Jeremy Fortescue verfolgt die Bande Joshuas, um seinen Bruder Douglas zu befreien. In einer Schlacht zwischen den Verfolgern und Joshuas Bande erschießt jener Jeremy. Und beide Überlebenden, Douglas und Joshua, springen auf der Flucht in den Kansas River.

Was ist Dichtung? Was ist Wirklichkeit? Ist die Begegnung von Douglas und Joshua, zwischen denen ursprünglich der Atlantik lag, Fiktion? Oder ist sie gerade noch realistischer als die eigenwillige Liebesgeschichte, in der Joshua seine Liebe zur Dichtung auf den Dichter überträgt und der Dichter von der Beobachtung junger Männer zur intimen Begegnung Joshua übergeht. Verstärkt die zweite literarische Fiktion der Bindung der beiden Männer die erste der Begegnung? Oder: Kann das nicht tatsächlich geschehen sein? Dass Douglas, um dem langsam seinem Ruhm bedrohlich werdenden Gerede in der Gesellschaft Londons zu entgehen, in die USA auswandert, ist plausibel, zumal er seinen Bruder dem Lebenstraum einer großen Farm näher bringt. Der Weg in den Westen der USA ist gefährlich und der Überfall auf die Kutsche nicht ungewöhnlich. Der Zufall, durch den Joshua dabei den Namen von Douglas Fortescue erfährt, erscheint nicht aus der Luft gegriffen. Dass die veränderten Lebensbedingungen in der Bande Joshua’s Douglas ermöglichen, zu seinem Liebesbedürfnis zu stehen, dass Joshua, der „Dichterjünger“ die Gefühle auf seine Weise erwidert, auch das ist möglich. 

Wir erleben, zugespitzt durch die Fakenews-Debatte, wie schwer die in mediale Raffinesse eingekleidete Wirklichkeit von der Fiktion zu unterscheiden ist. Wieviel an einer Nachricht ist Fiktion, wieviel Information? Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass die politische Realität, neuerdings auch die naturwissenschaftlich Realität dem Marketing unterworfen wird. Die Experten zu Virologie und Epidemiologie erleben das gerade hautnah. Eine pure Information, deren einzige Einkleidung das sprachliche Zeichen und dessen Grammatik ist, ist nur noch in spezialisierter Fachliteratur und in seriösen Nachrichten zu finden. Der inzwischen geflügelte Begriff des „Narrativs“, der Geschichte in der Gestalt von Geschichten, verweist darauf, dass die Erzählformen des Wirklichen zu unserer Wirklichkeit gehören. Das kann Literarisierung des Wirklichen sein, das kann aber auch eine Art Remythologisierung der Wirklichkeit sein. In der Literatur werden wir in die Verdichtungen und Konstrukte mitgenommen, in der die Formen des Wirklichen herausgearbeitet und das Wesen der Wirklichkeit ausgeleuchtet wird. Literatur ist nie nur Fiktion. Das Fiktive, der alternative Blick und der gleichmögliche Entwurf zu dem, was ist, ergänzt die Wahrnehmung des Wirklichen um die Formen der Vorstellung davon. Dadurch verdeutlicht Literatur eher die Komplexität der Wirklichkeit, als sie zu vereinfachen.

Komplexitätsreduktion ist die Funktion des Mythos. Er bringt in seiner Erzählweise ein komplexes Geschehen in eine rituell nachvollziehbare Form. Vor der Achsenzeit versuchten Mythen die Vorhandenheit der Welt, der Sippe, der Traditionen darzustellen, ohne komplizierte Theorien aufzugreifen. (Eliade, 1984) Wer dem Mythos folgend die erforderlichen Riten vollzog, empfand sich in seine Umwelt eingeborgen. (Genepp, 2005) Die modernen Narrative führen wieder Mythisches mit sich. Sie erleichtern durch ihre Komplexitätsreduktion das Verständnis der überkomplexen Wirklichkeit, in der wir uns vorfinden. Mythen, auch zeitgenössische, sind dadurch gefährdet, dass die Vereinfachung mit der Realität verwechselt wird. So können Verschwörungstheorien entstehen, die sich durch ihre Übervereinfachung konträr zur Wirklichkeit bewegen und Anhänger der Realität entfremden.

Auf eine dritte Form des Narrativs sei vollständigkeitshalber hingewiesen, die zweckgebundene Marketingerzählung. Die werbepsychologischen Einkleidungen von Produktinformationen dienen dem ökonomischen Interesse. Die marketinganaloge Selbstdarstellung in Bewerbungen oder öffentlichen Auftritten gehört auch zur Zweckerzählung.

Die literarische Erzählung von Christine Wunnicke regt dazu an, sich die unterschiedliche Funktionen zeitgenössischer Narrative genau anzuschauen – und den modernen Mythen durch Literatur zu begegnen. Denn jene lenkt unseren Blick im Mittel der Erzählung immer wieder auf die Komplexität der Lebenswelt und erweist sich als Orientierung in der Unübersichtlichkeit des Wirklichen. Zuweilen beruhigt es auch, sich der bergenden Energie der mythischen Erzählung zu überlassen. Beide tun einander gut: die Literatur und der Mythos, um klarer zu sehen, was ist Dichtung und was ist Wirklichkeit.

  • Wunnicke, C. (2020): Missouri. Berlin (Albino)
  • Eliade, M. (1984): Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Frankfurt (Insel)
  • Van Genepp, A. (3. Aufl. 2005): Übergangsriten. Frankfurt, New York (Campus)
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