Die innere Ordnung

Immer wieder erlebe ich Tage, in denen mir die Zeit durch die Finger rutscht. Mitten im Tag frage ich mich, was ich erledigt, gemacht, gesprochen habe. Meistens ist es viel Kleinteiliges, wenig Zusammenhängendes – und häufig auch nicht wirklich Wichtiges. Und es gibt Tage, da bringt ein intensives Erlebnis die innere Ordnung ins Wanken. Nach einem intensiven psychotherapeutischen Gespräch am frühen Vormittag fühlte ich mich aus dem Tritt geraten. Ich wusste nicht mehr recht, was ich mit dem Rest der ersten Tageshälfte anfangen sollte.

Heute entschied ich mich für den musikalischen Weg zur inneren Ordnung und setzte mich ans Klavier. Das ist eine der schönsten Seiten meines aktiven Ruhestandes, dass ich mir immer wieder einmal ungeplant Zeit nehmen kann, z. B. um Klavier zu spielen. Schon die Fingerübungen lassen mich ruhig werden. Die Gleichförmigkeit der Übungen, das Wiederholen, das überschaubare musikalische System holen mich in die Aufmerksamkeit. Und dann: Bach. Johann Sebastian. Ich bin kein guter Bachspieler. Die Werke bereiten mir Mühe, wahrscheinlich deshalb weil sie eine strenge Architektur haben, weil überall Ordnung herrscht, in den Themen, in deren Weiterentwicklung, im Contrapunkt und den ruhenden Tönen. In Momenten des „Ich weiß nicht weiter“ empfinde ich die Ordnung in den Werken Bachs als Wohltat. Ich spielte vier Stücke aus den zweistimmigen Inventionen (BWV 772 – 786). 

Die erste Invention in C ist ein sehr übersichtliches, einfaches Stück. Die Themen sind deutlich in der rechten und linken Hand zu verfolgen. Nachdem ich im Stück allmählich sicher wurde, ließ ich mich gewissermaßen durch das Werk führen. Der Schluss-Akkord in C-Dur beschließt in seiner harmonischen Folgerichtigkeit die Bewegung des Themas. Ich lasse ihn einfach ausklingen und genieße die klangliche Reinheit des erst kürzlich gestimmten Klaviers. Dann entscheide ich mich für die siebte Invention e-moll . Die Tempo-Anweisung meiner Notenausgabe ignoriere ich einfach und wähle bewusst ein viel zu langsames. Ich nehme mir Zeit. Ich taste mich durch die Komposition. Die diffuse Stimmung, mit der ich mich ans Klavier setzte, ordnet sich. Auf einmal kann ich vorausschauend spielen, mit Blick auf die nächste Wendung und dann den Orgelpunkt, der den wunderbaren Schluss der Inventionen einleitet. So spiele ich noch zwei weitere Inventionen und werde dabei selbstbewusster, freier, souveräner an der Klaviatur und in mir.

Als ich das Instrument zuklappe, ist es ein Leichtes, die weiteren Aufgaben des Tages in eine Reihe zu bringen. Durch die Musik Bachs kam ich wieder zu meiner inneren Ordnung, wurde ruhig und bereit zur Routine. Noch eine Weile hörte ich in mir den Nachklang einiger Themen, die ich gespielt hatte. Und dann lag meine Aufmerksamkeit ganz bei dem, was zu tun war. 

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