Eines meiner Lieblingsgedichte erdichtete Tomas Tranströmer.
Der schwarze Kaffe auf der Terrasse
mit Stühlen und Tischen prächtig wie Insekten.
Es sind kostbar aufgefangene Tropfen,
gefüllt mit der gleichen Kraft wie Ja und Nein.
Er wird aus dem dunklen Café hinausgetragen
und blickt in die Sonne, ohne zu blinzeln.
Im Tageslicht ein Punkt von wohltuendem Schwarz,
Das schnell in einen bleichen Gast ausfließt.
Er ähnelt den Tropfen aus schwarzem Tiefsinn,
die bisweilen von der Seele aufgefangen werden,
Die einen wohltuenden Stoß geben: Geh!
Inspiration, die Augen öffnen.
In: Tranströmer, T. (1997): Sämtliche Gedichte. München, S. 65
Einen Espresso trinken, in der Sonne sitzend, sicher bleich nach Winter und Pandemie, das ist eine Utopie, die mir manchmal in den Sinn kommt. Dabei bereite ich jeden Tag mehrere Espressi. Ich trinke sie manchmal vertieft in meine Forschung, beiläufig beim Schreiben, oft als gemeinsames Innehalten mit meiner Partnerin, zum Ausklang eines guten Essens. Ich trinke den Espresso zu Hause. In den letzten Tagen vermehrt mit der Sehnsucht nach dem Kaffee auf der Terrasse.
Mir gelingt es bis jetzt ganz gut, mit dem gebotenen Rückzug zu leben. In meiner Welt fand ich zu einer Ordnung, die ich mit ein wenig Disziplin auch durchhalte. Meist am Morgen gebe ich meinem Tag eine möglichst klare Struktur, die der oft gemeinsam getrunkene Espresso interpunktiert. Ja, es stimmt schon: der kleine rasch zubereitete Kaffe, meist mit einem Häubchen geschäumter Milch abgerundet, bildet die Satzzeichen in meiner Tagesgeschichte. Zuweilen ist er ein Komma, das zwei Gedankenwelten voneinander abhebt. Manchmal ist er der Doppelpunkt, der einen Vorsatz anhält, um Raum für das Folgende zu öffnen. Öfter am Tag schließt er auch eine Zeit des Tuns ab. Ein Fragezeichen markiert er selten. Eher ein Ausrufezeichen: Jetzt aber mal losgelegt. Am liebsten mag ich ihn als Gedankenstrich. Dann nippe ich ein wenig aus der kleinen Tasse, diesen Punkt von wohltuendem Schwarz, und dehne den Genuss, so dass Weile entsteht. In der Weile entfaltet der Espresso tatsächlich Tiefsinn, öffnet den Raum für das Spiel der Worte, zu denen Gedanken sich gestaltet haben, oder zu Gedanken, die noch nach ihrem Wort suchen. Glück, wenn sich davon in der Seele ein Abbild erhält.
In jenen wunderbaren Espressoweilen, in denen expressiv wird, was vorher nur im Keim angelegt war, denke ich dann an den Philosophen Markus Gabriel, der einen neuen Realismus propagiert, der den „moralische[n] Fortschritt in dunklen Zeiten“ fördern soll. Espresso würde da evidente Tatsache sein, ein braunes Getränk in einer kleinen Tasse. Sein Duft wird zum olfaktorischen Ereignis. Beschreibbar. Der Wert des Ereignisses besteht nach Gabriel darin, ob der Kaffee klimaverträglich, ressourcen-schonend angebaut, transportiert und veredelt wird. Ach, ver-edelt – ist das nun eine moralische Tatsache, also gut? Oder lässt mir nur meine Uninformiertheit über all das Böse am Prozess, bis der Espresso mit nussbrauner Crema in meiner kleinen Tasse duftet, die Vorfreude auf den Genuss? Darf es keine Welt der Metaphern geben, die ich bisher als Vehikel von Bedeutung, wenn nicht Sinn wähnte? Auf den Espresso ist Verlass: er vermittelt Inspiration, die Augen zu öffnen.
Quellen:
- Gabriel, M. (4. Aufl. 2020): Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Berlin (Ullstein)
- Tranströmer, T. (1997): Sämtliche Gedichte. München (Hanser)