Die USA schaffen sich selbst ab.

Was alle USA-kritischen Demonstrationen, Sit-Ins, Diskussionen der 1970-iger Jahre nicht schafften, erledigen die USA jetzt selbst. Sie schaffen sich mit dem Freispruch Donald Trumps ab. Das Impeachment, die Demokratie erhaltende Notbremse gegenüber Präsidenten, die die Grundordnung der USA verlassen haben und sich gegen sie stellen, greift nicht. Der Zug, den Trump in Bewegung setzte, hat genügend Massenträgheit, um vorerst auch ohne Lokomotive weiter zu rollen, ungebremst und unaufhaltbar. Das wird mit dem Freispruch im Impeachment deutlich. Zugleich haben weite Teile der Republikanischen Partei deren Interessen über die Interessen des Staates USA gestellt. Sie verhalten sich wie Donald Trump. Republicanes first!

Ich fühle mich erleichtert: Endlich sind wir die USA in der Funktion der selbsternannten Schutzmacht der Demokratie los. Ich weiß, das ist subjektiv und vielleicht sogar revanchistisch gedacht. Dennoch: Mit dem Freispruch Trumps beraubten sich die USA gestern selbst des Jahrzehnte währenden und von einer Reihe europäischer Intellektueller schon immer kritisch betrachteten moralischen Hegemonialanspruches, wenn es um Demokratie nach außen ging. Denn im Inneren der USA geht es und ging es bei weitem nicht so demokratisch und moralisch zu. Die Administration Trump legte das vor der Welt offen. Die Administration Biden kann dem im Augenblick nichts entgegenstellen. Die USA durften es im Grunde seit dem Vietnamkrieg schon nicht mehr und dürfen es jetzt erst recht mehr, was sie in das nationale Selbstbild tief einbeschrieben haben: den Wächteranspruch über Demokratie und Menschenrechte erheben, militärische Möglichkeiten dazu hin oder her. Sie haben diesen nicht einmal historisch begründbaren (siehe den Krieg zwischen Nord- und Südstaaten) globalen Moralitätsanspruch, der selbstunkritisch und vermessen war, mit dem Freispruch Trumps endgültig und tatsächlich aufgehoben. Sie sind, ähnlich wie andere militärisch und/oder ökonomisch potente Staaten einfach nur eine Großmacht, die politisch durchsetzungsstark erscheint, weil sie ökonomisch und militärisch die Mittel dazu hat. Die Legitimation dafür haben sie bestimmt nicht mehr. Die USA sind endlich eine Macht unter anderen Mächten, ein Staat unter anderen geworden.

Das fordert aus meiner – laienhaften – Sicht ein politisches Umdenken und eine grundsätzliche Verhaltensänderung der Politik der Europäischen Union. Die kommenden vier Jahre, wenn Präsident Biden sie überhaupt durchsteht, muss – ebenfalls endlich – die europäische Politik neu gedacht werden. Das Neuartige daran ist, dass sie ohne das nahezu blinde Vertrauen auf die USA gestaltet werden muss. Es ist jetzt an der Zeit, alle europäischen Verteilungskämpfe und demokratiegefährdenden Spiele nach innen aufzugeben. Die einzelnen EU-Länder sind gefordert, die diversen nationalen Kompetenzschwerpunkte, die diverse politische Intelligenz und die regionalen Wertvorstellungen in die europäischen Bindungen aneinander zu investieren und so die Europäische Union als das Bündnis der Vernünftigen, umsichtig Kreativen und der politischen Moderne zu etablieren. Die soziale Marktwirtschaft, das Europa der Regionen, die immer noch in den meisten Mitgliedstaaten der EU intakten demokratischen Strukturen und Prozesse, das soziokulturelle Potenzial einer Weltregion mit einer der höchsten historisch gewachsenen Verdichtungen an Rationalität, Wertbewusstsein und sozialer Kompetenz trägt jetzt noch mehr als in den vergangenen Jahrzehnten globale Verantwortung. Die EU bedarf eines zweiten römischen Prozesses der Konstitution, um die mit den genannten Qualitäten und Kompetenzen attribuierte, spezifische Stimme in der weltweiten Politik zu sein. Wir sollten, nachdem wir mühsam und engagiert die Freiheit von den furchtbaren Diktaturen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten, jetzt die Freiheit zur Neugestaltung der europäischen Politik in der ihr bestmöglichen Weise zu unserer Aufgabe machen. Rasch. Ohne Wartezeit. Mit Mut. Kreativ und geistreich. Mit dynamischer Umsicht.

Ich weiß, dass das nicht dem globalisierten Feeling vieler, junger Menschen entspricht, wenn ich – in die Jahre gekommen – gerne und kritisch sage: Ich bin ein Europäer. Was ich mir als solcher wünsche, gerade von den jungen Menschen, dass das globalisierte Feeling das Initiale einer globalisierten Haltung wird. Haltung bildet sich, sie ist nicht gegeben. Sie könnte dadurch gebildet werden, dass alle Generationen ihre Kompetenz in das Projekt Europa einbringen, das sich im Bewusstsein seiner Qualitäten mit den anderen Weltregionen nicht nur ökonomisch, sondern politisch vernetzt. Der Philosoph Ernst Bloch hat dafür die Prozessbegriffe bereitgestellt: Latenz als die schlummernde Verantwortung bringt Tendenzen der Veränderung heraus, die sich zunächst in utopischen Zielen beschreiben lässt. Utopisch ist das, was noch nicht topisch geworden ist, was also noch keinen Ort hat, was aber durch Hoffnung die Energie zur Gestaltung freisetzt. Ich bin dabei.

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