Sehnsucht nach Lebensraum

Sehnsucht ist ein schwer auszuhaltender Zustand, finde ich. Seit etwa zwei Wochen spüre ich sie in mir, die Sehnsucht nach einem unbeschwerten Leben. Das Leben, wie es gerade zu ertragen ist,  erscheint mir beschwert. Es sind nicht so sehr die Regeln, die es beschränken. Eher belastet mich die Monotonie des Alltags. 

Monotonie enthält zwei Wortbestandteile aus dem Altgriechischen: monon, d.h. das eine, und tonos, d.h. die Spannung. Ich lebe in der einen Spannung. Sonst bewege ich mich durch viele Spannungsfelder. Dabei heißt Spannung nicht nur Konflikt. Sie meint auch den in der Logotherapie V. Frankls gebräuchlichen Begriff der „Lebensgrundspannung“. Lebensgrundspannung motiviert, mich zu den vielfältigen Anregungen, den Aufgaben, den Herausforderungen möglichst sinnvoll zu verhalten. Schwierig wird es, wenn die Lebensgrundspannung, der tonos, einförmig wird. Das ist es, was mich beschwert, die Einförmigkeit, die durch die Kanalisierung der Wahrnehmung entsteht. Der Lebensraum ist vorwiegend die Wohnung geworden. Sie ist auch Arbeitsplatz. Einerseits brauche ich die Abgeschiedenheit des Schreibtisches, des Lesestuhls. Denken braucht die ruhige, zugleich angeregte Konzentration. Denken bedarf zuweilen der Bewegung. Die antiken Aristoteliker und die mittelalterlichen Mönche schritten auf ihren Denkwegen durch Wandelhallen und Kreuzgänge. Dichter und Denker der Romantik erwanderten sich ihre Inspiration. Doch von Wandeln, gar Lustwandeln kann gerade nicht die Rede sein. Auf halbe Gesichter blickend, aneinander vorbei huschend, immer auf Abstand bedacht bewege ich mich im Schutz meiner Maske durch die Stadt. Keine einladende Cafébar, kein belebter Platz, wenig Freundliches in den Fassaden. Und in der Flur? Auch da sind die sich anbietenden Wege eintönig geworden. Sie verlangen, ohne gastliche Weile zu Ende gegangen zu werden. 

Eintönigkeit, das ist die andere Seite der Monotonie. Der Bildschirm, das Headset, das Handy sind die monauralen Kanäle der Verständigung, der Lehre, der Seminartätigkeit und der Therapie. Alles ist eintönig. Nichts hallt mehr nach. Wonach ich mich zunehmend sehne, sind die Stimmen im Raum, das Anschwellen und Abebben der Klänge, die Dynamik des Gesprächs, des Zuhörens. In der monauralen Welt, in der wir derzeit reden, werden die Stimmen kanalisiert. Und so wirkt Vieles eher als Gerede und weniger als Gespräch. Derzeit ist spürbar, dass die sog. „Kanaltheorie“ der Kommunikation, der Sender- und Empfängermodus, mit dem realen Gesprächsgeschehen kaum etwas zu tun hat. Physikalisierte Informationsübermittlung ist nicht kommunikativer Dialog und kein Diskurs. Dialog und Diskurs vollziehen sich in der Vieldimensionalität des Gesprächsraumes. Sie beruhen auf präsenter Begegnung in den diversen Räumen, die helfen, die Rede und das Gespräch zu gestalten, die Hall erzeugen, der zum Nachhall der Erinnerung werden kann. Dialog und Diskurs beruhen, wie Hartmut Rosa es beschreibt, auf Resonanz. Resonanz braucht den Raum der Umgebung und den Innenraum des Menschen. Im Headset, über das Kamerabild resoniert kaum etwas. Deshalb erlebe ich den Alltag eintönig. Ihm ist mit den Gesprächsräumen und der Präsenz der Begegnung der Resonanzboden entzogen. 

Immer wieder schleichen sich Bilder vom geruhsamen Verweilen bei feinem Macchiato in einer italienischen Bar, mitten in der Stadt, umgeben von Menschen, die ihr Gesicht und schon allein dadurch Präsenz zeigen, durch meine Träume. Oder es bildet sich der Tagtraum vom Einkehren in einen Buschenschank auf einer Wanderung in meiner zweiten Heimat Südtirol, wenn ich, wenn wir auf einem Weg innehalten, uns niederlassen, den Worten, den Wahrnehmungen und den Gedanken für kurze Zeit einen genussvollen Raum geben. Und dann mit ruhigem Puls, erfrischt und gestärkt den Weg weitergehen. Nach dieser Unbeschwertheit sehne ich mich. 

Das unbeschwerte Leben kommt mir, kommt vielen um mich herum abhanden. Statt dessen kanalisieren uns Politik und Medien in die Monotonie der pandemischen Informationen. Kaum etwas anderes wird zugelassen. Inzwischen scheint es weniger das Verhalten des Virus als die Monotonie unseres Verhaltens zum Virus, die vernünftige, solidarische und disziplinierte Menschen gleichgültig werden lässt. Wenn es nur noch um Infektionszahlen, die kaum mehr vorstellbaren Geldmittel zur Bewältigung der ökonomischen Pandemiefolgen samt allen Verteilungsdebatten, die Impfstoffquerelen  geht, wenn wir eintönig vor allem damit beschallt und bebildert werden, dann stellt sich aus psychologischer Sicht Ermüdung unserer Wahrnehmung und Linearisierung unserer Kognition ein. Eintönigkeit und Einförmigkeit. Woher sollen denn die alternativen Gedanken, Konzepte und Modelle kommen, die uns anregen, mit den gegebenen Umständen anders zu leben? 

Ich bin müde geworden, ständig selbst für die Lebensgrundspannung zu sorgen. Ich bin auch der Monotonie der Information und Politik müde geworden. Die Sehnsucht nach Lebensraum hilft mir auch nicht weiter. Sie vermittelt allenfalls Traumbilder. Wenn ich nur wüsste, wie in den Träumen die latente Hoffnung zu beleben wäre. Hoffnung verleiht die Energie zur Veränderung, zunächst einmal meiner persönlichen, sicher auch der politischen und gesellschaftlichen. Denn Hoffnung verbindet den Menschen mit Zielen, die dem Leben dienen.

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