Warte mal – schnell!

Sie dürfte einmalig sein, die Verbindung des Wartens mit dem Adverb „schnell“. „Schnell warten“ können Menschen, sprachlich gesehen, vermutlich nur in Deutschland. Inzwischen ist das Warten pandemiebedingt für uns alle eine neue Seinserfahrung geworden. Und wahrscheinlich für viele Menschen immer noch gewöhnungsbedürftig. 

Der Philosoph Ralf Konersmann veröffentlichte 2017 ein „Wörterbuch der Unruhe“, das auch einen Essay über das „Warten“ enthält. Konersmann beginnt den Essay mit folgender These:  „Warten, so die Standardwahrnehmung, ist leere, verlorene, sinnlos verstreichende Zeit. Wir erleben das Warten als Entzug und erzwungenen Aufschub. Der Zeitstrom ist blockiert, es geschieht nichts und schon gar nicht, was wir erwartet haben. Das Warten ist eine Enttäuschung.“ (S. 226) Ich gehe davon aus, dass die meisten Menschen Vielem an der These zustimmen werden. Warten ist unangenehm. Warten ist enttäuschend. Wirklich immer?

Während des Wartens vergeht Zeit. Etwas genauer formuliert: Es vergeht Zeit, ohne dass wir bemerken, dass etwas in der verfließenden Zeit geschieht. Ist es der Sinn des Wartens, uns rein zeitlich dem Erwarteten näher zu bringen? Wer ein Buch bestellt hat, der bekommt einen Termin genannt, an dem es abgeholt werden kann. Dann ist das erwartete Buch da. Heißt warten also, die Zeit zu überstehen, die zwischen einem Wunsch und seiner Verwirklichung verfließt?

Die Empfindung des Wartens entsteht dann, wenn Zeit vergeht, ohne dass etwas geschieht. Dem Ziel des Wartens kommt der Wartende, wie es scheint, kaum näher. Was erwartet wird, tritt gerade noch nicht ein. Das kann Warten spannend machen oder auch unerträglich. Ich erlebe das, wenn ich einen Zeitschriftenbeitrag verfasste und die Veröffentlichung zugesagt ist. Die Zeit zwischen Zusage und Erscheinen ist manchmal voller Vorfreude. Ich bin gespannt auf die Resonanz auf meine Gedanken. Meist warte ich dann nicht bewusst, sondern lebe in der Vielzahl von Ereignissen und Tätigkeiten weiter. Zuweilen ist das Warten auf das Erscheinen des Beitrages unerträglich. Nämlich dann, wenn ich zu einer aktuellen Debatte etwas beisteuern möchte, oder, wenn die Argumentation von etwas Neuem überzeugen will. Dann überwiegt das Gefühl des Wartens alles andere im Leben. Dann kann ich etwas kaum erwarten. Wenn doch jetzt die Zeit rascher verginge, wenn ich jetzt „schnell warten“ könnte!

Konersmann spricht einen dazu interessanten Aspekt des Wartens an: „Die Verbindung zum Trubel der Welt ist durchtrennt, und wir fühlen uns ausgeschlossen.“ (S.226) Wir erleben, dass wir für die Dauer des Wartens nicht dazugehören. Das Warten bringt den Wartenden in eine eigene Zeit, die sich aus dem allgemeinen Zeitfluss löst. Er fühlt sich „abhängt“, wie wir umgangssprachlich sagen. Die allgemeine Zeit vergeht – und bei ihm rührt sich nichts. Er kommt dem Erwarteten nicht näher. Manchmal scheint sich das Ziel des Wartens sogar noch zu entfernen. Warum soll ich jetzt noch warten? Es ist es nicht sinnvoller, das Warten, die scheinbar angehaltene Zeit zu verlassen und in den allgemeinen Zeitfuss zurückzukehren, auch wenn das Ziel des Wartens dann verloren geht. Diese Erfahrung des Wartens ist mit der Enttäuschung verbunden, dass alles Warten dem Erwarteten nicht näherbringt. Die Zeit des Wartens erweist sich als sinnlos zugebracht. 

Das Sinnlosigkeitsgefühl vergeblichen Wartens breitet sich derzeit im Leben vieler Menschen aus. Die Verbundenheit des persönlichen Lebens mit der vormaligen Normalität des Weltgeschehens löst sich zunehmend auf. Die Sorgen um Beruf, Betrieb, Familienfrieden, Gesundheit verstärken sich durch ergebnisloses Warten zu Ängsten. Das anfängliche Leben im Lockdown wurde zunächst noch nicht als belastend erlebt. Denn wir konnten mit der Arbeit zuhause, im Zusammensein der Familien, in der Beruhigung des Alltags durch das Wegfallen vieler Zeitdiebe die Wartezeit im ersten Lockdown einigermaßen gut überbrücken. Jetzt fällt es vielen Menschen schwer, immer länger unter diesen bedrückenden Bedingungen zu warten, bis Privat-, Familien- Schul- und Berufsleben sich normalisieren. Jede weitere Woche des Wartens verstärkt das Sinnlosigkeitsgefühl, macht ungeduldig und ärgerlich. Die Angst davor, dass die Pandemieprozesse sich als unkontrollierbar herausstellen könnten, greift um sich. Denn wäre ja alles Warten umsonst gewesen.

Und es wird deutlich, dass „schnelles Warten“ eine trügerische Redewendung ist. Warten dauert. Die Dauer wird unerträglich, wenn dass „Wofür“ des Wartens, sein Zweck abhanden kommt oder von anderen, erwartungsfremden Zwecken überlagert wird. Das deutet an, dass Warten weniger mit der verstreichenden Zeit als mit dem Einzelnen selbst zu tun hat. Der Zweck des Wartens ergibt sich nicht aus der Wartedauer, sondern hängt mit der Erwartung des Wartenden zusammen. Jener empfindet sein Warten solange als sinnvoll, wie er damit rechnet, dass sich das Warten lohnt. Wenn die Normalisierung des Lebens trotz des Lockdowns nicht wie erwartet eintritt, dann scheint das Warten umsonst. 

Ralf Konersmann mutmaßt, dass „das Warten eine Kunst sein“ könnte. Sie bestehe darin, „dem Wartenmüssen mit einem Wartenkönnen zu begegnen“ (S. 229). Was zeichnet – gerade jetzt am vermutlichen Ende des Lockdowns – die Kunst des Wartens aus? 

Die Kunst des Wartens hat, wenn sie echte Kunst sein will, mit Kreativität zu tun. Kreativ ist der Mensch dann, wenn er beginnt, seine Lage aus verschiedenen Perspektiven anzuschauen. Dabei geht es darum, den Tunnel, der den Blick nur in eine Richtung zulässt, zu verlassen. Das ist aufgrund der Gewohnheit, sich als Einzelner mit den Vielen zu vergleichen, anstrengend. Hört jemand auf, sich mit den anderen zu vergleichen, öffnet er sich der Möglichkeit, seine Lage aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die psychische Grundlage dafür sind zwei Fähigkeiten. Zum einen können wir uns nahezu immer Alternativen zum Gelebten vorstellen. Ob wir sie mental entwerfen oder in Tagträumen erspüren, es geht zunächst darum, den Tunnel wenigstens mental zu verlassen und sich auf die Lebenswelt, in der immer wieder Tunnel vorkommen, einzulassen. Vom Leben aus auf den Tunnel blicken! Dadurch stellen wir eine Verbindung zwischen unserem gesamten Leben und der einzelnen Lebenslage her. Wir stellen, was uns gerade bedrückt, gefangen hält, belastet, in seinen ursprünglichen Kontext zurück: unser Leben. Wir lernen, wieder zwischen diesem Leben jetzt und unserem Leben überhaupt zu unterscheiden. Die andere Fähigkeit besteht darin, sich in den Blick anderer Menschen auf mein persönliches Leben hineinzuversetzen. Dann schaue ich mein Leben buchstäblich mit anderen Augen an. Es ist klug, dabei die Perspektiven nicht nur bester FreundInnen oder der LebenspartnerInnen einzunehmen, sondern vielleicht auch mal mit dem Blick eines entfernteren Menschen, von PflegerInnen in Covidstationen, von Menschen, die beengt leben, von Flüchtigen aus anderen Kulturen, die mitten in die Pandemiesituation angekommen sind, von lebensklugen Menschen auf das eigene Leben, die persönliche Ungeduld, die individuelle Enttäuschung, die um sich greifende Verzweiflung, die Isolation hinzuschauen. Die unterschiedlichen Hinblicke öffnen für neue Verhaltens- und Verstehensmöglichkeiten der persönlichen Situation. Wir entdecken, dass Leben umfassender ist, als ich es mir zu sehen angewöhnt habe. Aus der Vielfalt der Sichtweisen lassen sich momentane Gefühle zugunsten neu entdeckter Lebensmotivation regulieren. Regulierte Gefühle öffnen veränderte Verhaltensweisen, weil übersehene Freiräume wieder zu Bewusstsein kommen.

Die Kunst des Wartens besteht darin, den Kontakt mit der Welt aktiv wieder her zustellen, das Warten zu gestalten, die Zeit zu nutzen und sich die persönlichen Ziele des Wartens zu vergegenwärtigen. Wenn ich darauf warte, worauf alle warten, dann übersehe ich, wie ich persönlich die im Warten verfließende Zeit zu meiner Lebenszeit gestalten kann. Das Warten verbinde ich dann mit einer Hoffnung und nicht allein mit einem Ziel. Ziele im Horizont der Hoffnung sehen lernen, erleichtert das Warten. Die Illusion der Berechenbarkeit verliert sich. Vielleicht verlassen wir uns gerade jetzt, in pandemischer Zeit zu sehr auf die Berechenbarkeit der Erwartungen und Ziele. Berechenbares motiviert nicht. Was nicht motiviert, versorgt nicht mit Energie. Warten ohne das Hoffnungsmotiv setzt gefangen. In der Hoffnung zu warten, öffnet den Blick für all das, was noch nicht ist, und regt an, mit dem für einen selbst Realisierbaren schon einmal zu beginnen. Vielleicht meinen wir ja das mit dem „Warte mal schnell“: die persönliche Initiative im Zeitfluss zu ergreifen.

Konersmann, R. (2017): Wörterbuch der Unruhe. Frankfurt (Fischer)

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