Der folgende Beitrag nahm viel Zeit in Anspruch. Zeit zur Reflexion, die zum Nachlesen anregte, was wiederum neue Zeit für Reflexion einforderte. Deshalb erscheint er erst jetzt. Ich wünsche meinen LeserInnen Geduld und viele nachdenkliche Impulse bei dem langen Gedankengang.
Die Wortsprache liegt, folgen wir Aristoteles, in der Natur des Menschen (Pol 1253 a). Während Tiere schmerz- oder lustvolle Zustände mit der Stimme (phoné) ausdrücken, verfügt allein der Mensch über Worte (lógoi). Worte ermöglichen es ihm, Zusammenhänge auszudrücken, Unterscheidungen zu treffen, Wertungen abzugeben. Insofern sind, ich folge Aristoteles weiter, Menschen befähigt, Gemeinschaften zu bilden, die vom Sinn für das Gute und das Böse, also die Moral, und für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, also für das Recht getragen sind. Werner Hamacher (1948 – 2017), Literaturwissenschaftler und Philosoph, interpretiert diese differenzierten Ausführungen von Aristoteles in einem Text, den er „Dike – Sprachgerechtigkeit“ (Hamacher, 2018, S. 7 – 9) überschreibt: „Der Mensch ist nicht ein Gemeinschafts-, er ist ein Sprachgemeinschaftswesen, und sein Leben ist, anders als jedes andere, ein Leben aus Sprache.“ (Hamacher, 2018, S. 9; ähnlich: Agamben, 2018, S. 31 f.)
Die Sprachlichkeit des Menschen drückt sich in der gesprochenen Sprache aus. Menschen stellten wohl von Anbeginn ihrer Sprachfähigkeit einen Konsens über ihre Wirklichkeitserfahrungen her, indem sie sich das Erlebte erzählten. Diese Erzählungen waren mächtig; denn sie begründeten Lebensgemeinschaften für die, die an der Erzählung teilhatten, weil sie sie verstehen konnten. Die Familien, Sippen- und die Stammeserzählung bildete über den Erzählzusammenhang die Sicht auf die Wirklichkeit aus, in der man lebte. So entstanden regionalisierte Weltbilder. Mit der Zeit wurde, eine wichtige Abstraktion, die Form der Erzählung gleichwichtig zum Inhalt. Der Mythos konnte durch die Formgebung seinen narrativen Kern gegen die Beliebigkeit der Veränderung schützen. Darauf wies Hans Blumenberg (1920 – 1996) in seinem Werk „Arbeit am Mythos“ (1979, S. 40) hin. Der Philosoph zieht daraus einen wichtigen, mehrstufigen Schluss: (1) „Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht.“ (Blumenberg, 1979, S. 40). (2) Furcht ist mit Unwissenheit, Unwissenheit mit Unvertrautsein verbunden. „Auch sehr gutes Wissen über Unsichtbares – wie Strahlungen oder Atome oder Viren oder Gene macht der Furcht kein Ende.“ (ebd.) Nicht was unerkannt ist, hält die Furcht aufrecht, sondern, das, was unbekannt ist; denn das Unbekannte ist namenlos. Wer Namen für das Unbekannte findet, der erst kann davon erzählen. (Blumenberg, 1979, S. 41) So kommt der Philosoph letztlich (3) zu dem Schluss: „Das macht Zeiten mit hohen Veränderungsgeschwindigkeiten ihrer Systemzustände begierig auf neue Mythen, auf Remythisierungen, aber auch ungeeignet, ihnen zu geben, was sie begehren.“ (ebd.)
Was haben diese Gedanken mit Deutschland in seiner derzeitigen Verfasstheit zu tun?
Deutschland baute seit der späten Aufklärung einen nationalen Mythos auf. Die Notwendigkeit dieses Mythos entstand wohl, als sich aus dem Konglomerat der vielen Regionalfürstentümer, aus denen das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ und seine Folgestaaten bis in den Anfang des 19. Jhdts. bestand, über die Verfassungsgebende Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848 die politische Konstitution eines deutschen Staates abzeichnete. (Kinder & Hilgemann, 1971, S. 57) Die Philosophie G.W.F. Hegels, die Kultur der Romantik und das Bildungsbürgertum, das durch den Theologen und Hermeneutiker Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) und den Kulturforscher Alexander von Humboldt (1769 – 1859) stark beeinflusst wurde, begleiteten (befeuerten?) das entstehende politische Gebilde „Deutschland“. Hier dürften die Wurzeln des Narrativs von Deutschland als dem „Land der Denker und Dichter“ liegen. Dieses Narrativ umfasste eine Art ideellen Gründungsmythos, der nach 1945 zum technologischen Mythos „Made-in-Germany“ gewendet wurde. Deutschland galt bis jetzt als ein Land, für das technologische und bürokratische Perfektion das Markenzeichen ist. Der ideelle Teil des Gründungsmythos, das Land der Dichter und Denker, kennzeichnet inzwischen vorwiegend das 18. und 19. Jahrhundert, in dem Philosophie, Literatur, Musik und Architektur eine Blütezeit erlebten, auch deshalb weil die Kultur politische Relevanz entfalten konnte.
Derzeit erleben wir anderes. Wir erleben immer noch die neoliberale Ökonomisierung der Politik und der gesellschaftlichen Prozesse, zuletzt am Beispiel des Lobbyismus im Handel der Schutzmasken. Die Interessen der Industrie, nicht nur der Konzerne, sondern auch der größeren mittelständischen Betriebe beeinflussen die Rahmenbedingungen politischer Exekutive und gesellschaftlichen Verhaltens. Das „Denken und Dichten“ ist längst nachrangig für Deutschland. Philosophen, deren Aufgabe es Hegel zufolge ist, „ihre Zeit in Gedanken zu [erfassen]“ (Hegel, 1978, S. 26), ziehen sich, bis auf einige wenige der jüngeren Generation, in die akademischen Institutionen zurück. Man mag sich zu Markus Gabriels Entwurf „universale[r] Werte für das 21. Jahrhundert“ (2020), der die philosophische Auseinandersetzung mit dem, was die Pandemie an gesellschaftlichen Werten und Verwerfungen zutage fördert, fachlich kritisch positionieren: es ist eine aktuelle, intellektuelle Analyse der Lage. Doch: Wer setzt sich wirklich damit auseinander? Auf wieviel öffentliches Interesse stoßen solche Gedanken? Wer lässt sich in die etwas mühsame Reflexivität des Philosophierens mitnehmen und betrachtet, was sich ereignet, aus anderer als der Managementperspektive? Management, nicht nur in Krisenzeiten, besteht in daten-(nicht fakten-!)basierten Steuerungsverfahren. Bewältigung einer Krise umfasst darüberhinaus die faktische (!) Lebenswelt der Menschen. Bewältigung vollzieht sich im Erarbeiten von Kohärenz der Befindlichkeit, der Hoffnung, der Angst der Menschen auf der Grundlage des Zusammenspiels der immer auch riskanten Freiheit und der in ihrem Freiheitsbezug notwendenden Verantwortlichkeit für einander und das Ganze, das sich daraus fügt. Ich bin mir sicher, dass neben Virologen, Epidemiologen auch Sozialwissenschaftler und Philosophen in die Berliner Verhandlungsrunden einbezogen sein müssen. Dann würden nicht nur die Daten und Zahlen der Pandemie verwaltet, sondern das Leben von Menschen IN der Pandemie mitgestaltet.
In Deutschland ist das lebensweltliche Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortlichkeit seit Mitte der Neunziger Jahre im Sicherheitsstreben aufgegangen. Das erscheint als ein jetzt unübersehbarer Effekt des Neoliberalismus. Wachstum und Umsatzsteigerung sichern einem Teil der Menschen erheblichen Wohlstand – und einem anderen Teil, das ist die sozialpolitische Schwundstufe darin, die Möglichkeiten zum Überleben. Wer es sich leisten kann, versichert rundum seine Lebensweise. Zur Sicherheit gehört die Planbarkeit. Lebensläufe, ökonomische Zyklen, Unterbrechungsmanagement im Krisenfall sollten zumindest als Pläne in der Schublade liegen. Das gehört zu „Made-in-Germany“. Und jetzt, angesichts einer, wie sich zeigt, immer wieder politisch fehlbewerteten Unterbrechung des deutschen Alltags durch die Pandemie, zeigt sich, was keiner beim Namen nennen will: Wir haben uns durch das Sicherheitsstreben selbst gefangen gesetzt. Es war bislang sicherer, Verantwortung an die – vermeintlichen – Instanzen zur Sicherung des Lebens zu delegieren. Dadurch wurde, was uns sichert, auch überaus mächtig. Was zu wenigen Menschen auffiel: Durch die Macht der Sicherheitsinstanzen haben wir uns selbst viel Freiheit genommen. Wenn immer eine andere Instanz statt dem Einzelnen verantwortlich ist, wenn die Sicherheitsmängel dort eingeklagt werden können, dann schwindet die Freiheit, die ich als einzelner nur erhalte, wenn ich auch die Verantwortung dafür übernehme. Die Folge daraus: der Instanzenweg ersetzt zunehmend den Lebensweg. Man betrachte die langwierigen Prozesse, denen Großprojekte in Deutschland unterworfen werden – auch so lebenswichtige Großprojekte wie die Impf- und Testkampagne. Man blicke auf unsere Datenschutzgrundverordnung und zugleich den widersprüchlich großzügigen Umgang vieler mit ihren Daten im öffentlichen Raum. Man betrachte die Bereitschaft, sich jeder Form des Irrationalen zu überlassen, die Übersichtlichkeit und Sicherheit als äußere Ordnung verspricht, und gleichzeitig auf unsinnige Weise gegen eine Handvoll Regeln zu protestieren, die die Ausbreitung des Virus einschränken. Innerhalb eines übersicherten Raumes gibt es keine Nischen, kaum Energie und zu wenig Offenheit für Kreativität, rationale, fragende Diskurse und Phantasie, die nicht mit irrealen Phantastereien zu verwechseln ist. Jene interessenspsychologisch gelenkten Verdächtigungen der Pandemieleugner und sog. Querdenker erscheinen als „partikulare Ideologien“. Deren Absichten sind funktional auf den Vorteil für die eigene Bedürfniszufriedenstellung gerichtet. (Mannheim, 1969, S. 54 f.) Ideologien nehmen Raum ein, indem sie den Raum für Realität wegnehmen. Sie drängen damit die Realität an den Rand der Lebenswelt. Das Verhältnis zwischen sinnvoller Bedeutung und sinnwidriger Deutung kehrt sich damit um. Der Wissenssoziologe Karl Mannheim (1893 – 1947) spricht in dem Fall von „totalen Ideologien“ (1969, S. 60).
Mythen brauchen Raum. Sie nehmen ihn nicht oder besetzen ihn, sondern Mythen stiften ihn. Mircea Eliade (1907 – 1986), Religionswissenschaftler, nennt das den kosmogonischen Akt im Mythos (1984, 25 ff.). Im Erzählen des Mythos wiederholt sich die Bildung der Lebenswelt samt deren Ordnung. Der Raum wird durch das Übertragen des Erzählten in die Wirklichkeit zur Lebenswelt des Menschen ausgestaltet. Auf Deutschland übertragen: Ohne das „Denken und Dichten“ verflacht „Made-in-Germany“ zur sicherheitsfixierten Technokratie. Denn er ersetzt Geborgenheit und „Heimischsein“ durch Sicherheitsmanagement. Der Mythos Deutschland verliert damit seine Überzeugungs- und seine Bindungswirkung. Nach innen wie nach außen. Mythische Erzählungen brauchen aktive Hörer, die aus der Erzählung ihre Verantwortlichkeit und die Freiheit, sie zu verwirklichen, mit ins Leben nehmen. Hans Blumenberg zeigt in seiner „Arbeit am Mythos“, dass die mythische Erzählung auf „Raumgewinn“ (1979, S. 127) aus ist. „Sie nähert sich dem Bedürfnis des dem Mythos zuhörenden Menschen an, in der Welt heimisch zu sein.“ (ebd.) Der Mythos stiftet Geborgenheit in der Lebenswelt des Menschen, in dem er den wahrgenommenen Fakten Namen gibt. Insofern ist, wie Jürgen Habermas das nahelegt, der Mythos zusammen mit der Rationalität für die Lebenswelt des Menschen konstitutiv. (Habermas, 2019, Bd. II, S. 204 ff.) Gerade in der Offenheit rationaler Diskurse, wie sie die freiheitlichen Demokratien kennzeichnen, bedarf es für den Menschen der lebensbergenden Erzählung. Das ist die wesentliche Funktion des Mythos. Philosophische Aufklärung und mythische Geborgenheit beziehen sich auf einander in einem rekonstruierbaren Lernprozess. (Habermas, 2019, Band II, S. 561 f.) Motor dafür sind „die kognitiven Dissonanzen, die durch das Wachsen des Weltwissens erzeugt werden“ (ebd., S. 561). Nur dann fühlen sich Menschen in ihrer Lebenswelt „heimisch“, was ich als vertrauensbasierte Geborgenheit lese, die eine verletzliche Sicherheit vermittelt – anders als die gefangensetzende Sicherheit der „Digitalokratie“ und der neoliberalen Konzepte.
Auf die derzeitige Situation angewendet, heißt das: die Pandemie stellt Deutschland vor eine massive kognitive Dissonanz, was sein Selbstverständnis anbelangt. Der Mythos von „Made-in Germany“ ist deshalb in kritischen Diskursen zu überprüfen, die in die vermeintliche Sicherheit die Bresche der Freiheit brechen. So können wir wieder lernen, nicht für maximale, individuelle Sicherheit, sondern für eine tatsächliche, rationale Freiheit Verantwortung zu übernehmen. Ein Ergebnis dieses Lernprozesses wird sein, dass das Ganze des Lebens sich in Geborgenheit aufheben kann, mit dem steten Risiko, jene zu verlieren und wieder neu aufbauen zu müssen. Nichts ist gänzlich sicher. Ein anderes Ergebnis wird sein, dass es an der Zeit ist, den Mythos „Made-in- Germany“ als falsche Erzählung zu entlarven, solange man glaubt, auf das unbequeme „Denken und Dichten“ verzichten zu können. Gerade dadurch wahren wir die Freiheit UND Verantwortlichkeit im Leben und bewahren wir es als Überleben angesichts schwerster Bedrohungen.
- Agamben, G. (2018): Was ist Philosophie?. Frankfurt (Fischer)
- Aristoteles (5. Aufl. 1981): Politik/Politeia (ed. Bien G.). Hamburg (Meiner)
- Blumenberg, H. (1979): Arbeit am Mythos. Frankfurt (Suhrkamp)
- Eliade, M. (1984): Kosmos und Geschichte. Der Mythos der eigen Wiederkehr. Frankfurt (Insel)
- Gabriel, M. (4. Aufl. 2020): Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Berlin (Ullstein)
- Habermas, J. (2019): Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 2. Frankfurt (Suhrkamp)
- Hamacher, H. (2018): Sprachgerechtigkeit. Frankfurt (Fischer)
- Hegel, G.W.F. (1978): Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werkausgabe, Bd. 7. Frankfurt (Suhrkamp)
- Kinder, H. & Hilgemann, W. (6. Aufl. 1971): dtv-Atlas zur Weltgeschichte. Band 2. München (dtv)
- Mannheim, K. (5. Aufl. 1969): Ideologie und Utopie. Frankfurt (Schulte-Blumke)