Die vier Passionserzählungen der Evangelien des Neuen Testaments sind anschauliche Berichte, die sich in den drei Deutungen des Todesschreis Jesu zuspitzen. Die beiden Verwortungen der drei synoptischen Evangelien des Markus (abgek.: Mk), Mattäus (Mt) und Lukas (Lk) orientieren sich an Psalm 22 und 31 des Alten Testaments. Für das Sterbewort Jesu nach Johannes (Joh), dem vierten Evangelisten, legt sich eher ein außerbiblisches Vorbild nahe. Es könnte aus dem Umfeld der Gnosis stammen, jener Philosophie der Antike, die große Popularität besaß. Sie lehrte einen Erkenntnisweg, der durch seine mystische Dimension in einen Heilsweg überging. Das Johannesevangelium wurde durch die historische Bibelkritik immer wieder im Umfeld gnostischer Vorstellungen vermutet.
Jesu Todesschrei, den er in seine Atemzüge legte, bedurfte aus der Sicht der biblischen Autoren der Verwortung:
Mk 15, 34 und Mt 27, 46: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Lk 23, 46: Ps 31, 6: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“
Joh, 19, 30: „Es ist vollbracht.“
Die Deutungssätze erschließen unterschiedliche Dimensionen, in denen das Leiden und Sterben Jesu von Nazaret gelesen wurde. Ich gehe den biblischen Deutungen kurz nach.
Mk und Mt greifen die Klage des 22. Psalms auf: Dort ruft der Betende nach Gott, der ihm nicht antwortet. Der Betende scheint enttäuscht, wenn er an Zeiten denkt, in denen Gott die Rufe seines Volkes sich tätig zuwendend beantwortete. Das Vertrauen dieser Zeiten muss vom Beter für sich selbst wiedergewonnen werden, in dem er seine Biografie rekapituliert. Wird der Todesschrei Jesu aus der Sicht des Psalms mit Worten gedeutet, dann drückt sich darin die Enttäuschung, vielleicht sogar das Entsetzen Jesu aus (Moltmann, 1973, S. 139). Seine Botschaft vom Reich Gottes gründete im unbedingten Vertrauen auf Gott – und der Künder endet schwerst leidend und sterbend am Kreuz (Moltmann, 1973, S. 143 f.). Das Leben endet – im Sinne der jüdischen Theologie – mit dem Tod. Die Toten sind aus Gottes Machtbereich ausgeschieden; sie haben kein Gottesverhältnis mehr und sind aus der Bundeszusage Gottes an sein Volk gefallen. (Wolff, 2074, S. 160 f.) Das ist auch das Ende der Reich Gottes Verkündigung Jesu. Wenn Jesus stirbt, fällt er aus der Gegenwart Gottes, den er seinen Vater nannte, und hebt damit seine persönliche Botschaft auf: „Nahegekommen ist das Reich Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1, 15) Dieser Blick auf das Verkündigungsleben Jesu erklärt die Verzweiflung: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Die Glaubwürdigkeit seines Lebenswerkes steht mit dem Rückzug Gottes im Tod auf dem Spiel.
Lk verwortet den lauten Ruf Jesu mit dem 31. Psalm: Der Beter dieses Psalms erlebt Gott als den „Bergend-Gründenden“ (Seckler, 1972, S. 76). Jesus schreit nicht, sondern ruft mit lauter Stimme nach dem Vater, in dessen Händen er sich voller Zuversicht geborgen weiß. Dem Tod ist das offene Entsetzen davor genommen, dass das Leben einfach endet. Er ist sich seines Vaters sicher und sieht sich auch im Tod im Gottesverhältnis geborgen. Jesus vertraut auf Gott, dem er seinen Geist, sein Lebenswerk, die Kündung des Reiches Gottes anvertraut.
Joh findet selbst ein letztes Wort Jesu: Es ist vollbracht. Jesus vollzieht die Prophetie der Schrift, das, was zu tun ist auf dem Weg der Erkenntnis. Dem Todeshandeln Jesu fehlt im Unterschied zu den drei Synoptikern jede äußere Spannung. Jesus selbst ist es, der die Dramaturgie des Handelns bestimmt: Er nimmt vom Essigschwamm, spricht das Vollendungswort, neigt das Haupt und stirbt. Das Sterben ist Handeln dessen, der um seine Heilsaufgabe weiß. Der Tod kommt nicht über ihn, vielmehr vollendet Jesus im Tod sein Leben (Bultmann, 1968, S. 521 ff.). Darin ist die jüdische Todesvorstellung vollständig aufgegeben. An dessen Stelle tritt bei Joh eine geschichtstheologische Dimension, in der Jesus in seinem Todeshandeln den Prozess des Leidens an sein Ziel bringt: Im konkreten Sterben Jesu kommt die Geschichte in ihre – im Sinne Hegels gedachte – Aufhebung. Insofern ist das gnostische Verstehensmuster des Wortes Jesu zu seinem Lebensabschluss nicht ganz von der Hand zu weisen. (Bultmann, 1968, S. 523; Anm. 2)
Für mich war die Beschäftigung mit der existenziellen Dimension der Leidensgeschichten und insbesondere des Sterbens Jesu seit der Einsicht im Theologiestudium essenziell, dass die Passion Jesu, das Karfreitagsgeschehen, dass die Zeit des Totseins Jesu bis zu den Szenen am Ostermorgen der Kern des christlichen Glaubens sind. Bis heute, auch wenn ich seit langem keinen Glauben im religiösen Sinn mehr damit verbinde, interessieren mich die biblischen Texte zu diesem Geschehen.
In psychologischer Perspektive spiegeln sich in den drei Verwortungen der letzten Äußerung Jesu drei unterschiedliche Bewertungen von Leiden und Sterben im Bezug zum Leben. Es interessiert hier nicht die Entwicklung der theologischen Hermeneutik dieser Äußerungen. Es geht auch nicht um eine Deutung im Sinne „psychologischer Verhaltensgesetze“ (Frör, 1968, S. 346) oder „in der Gestalt emotionalen Nacherlebens“ (Frör, 1968, S. 346). Es geht darum, dass die Stimme Jesu (phoné) in der Deutung der Evangelisten zu ihrem Wort (lógos) kommt.
Die narrative Dimension erscheint mir interessant, in der die drei Verwortungen drei Erzählkerne bilden, an denen die persönliche Leidensgeschichte anknüpfen kann. Dabei kommt eine für das „letzte Leben“, in dessen Umkreis Leidenserzählungen höchst bedeutsam werden, wichtige Dimension des Narrativen in Blick: Erzählungen vom Leben und Leiden „hatten und haben immer auch eine soziale Komponente“ (Ritz-Schulte & Huckebrink, 2012, S. 58) In den Leidensgeschichten drückt sich nicht nur das Verhältnis des Einzelnen zu seiner konkreten Leidenslage aus. Sie lassen den Hörer am erlebten Leid und dessen Wirkung im Leben des Leidenden teilhaben. Der Zuhörende vernimmt, welchen Ort der Sterbende seinem Leiden gerade im Zusammenhang seiner Lebensgeschichte gibt. Der Sterbende drückt in der Erzählung seiner Leidensgeschichte aus, inwieweit er seine schwere Krankheit, sein hohes Alter als „Zeit für das Leben“ (Riedel, 2017, S. 54) sehen kann.
Da begegnet der Hörende der verzweifelten Klage, in die sich zuweilen auch Anklage mischt: Angesichts des nahegekommenen Todes erscheint das Leben und das Leiden darin als grundlos (Warum?), in der Grundlosigkeit auch als haltlos (mein Gott!), in der Haltlosigkeit in abgründige Einsamkeit eingetaucht (verlassen). Das Ich, der Authentizitätskern der Persönlichkeit und des Lebens, ist seiner Grundlagen entkleidet. Es scheint nichts zu geben, was noch als etwas Gründendes zu erkennen wäre. Es scheint keiner da, der Geborgenheit vermittelt. Der Tod steht in seiner radikalen, das Leben vernichtenden Art vor dem, der seine letzten Atemzüge lebt.
Ein anderer Klang eignet dem lukanischen Narrativ. Der Sterbende hat einen, den er jetzt, im letzten Atem ansprechen, mit Namen nennen kann (Vater). Der Ansprechbare ist zugleich einer, dem Handlungsmacht zugetraut wird, der nicht nur da ist, sondern auch handelt (deine Hände). Auf den Ansprechbaren ist Verlass. Er ist der Bergende, dem sich der Mensch (mein Geist) überantwortet (ich lege). Der Sterbende und der Ansprechbare befinden sich in einer vertrauten Bindung aneinander, die im Tod bleibt. Der Tod verliert sein radikales Vernichten. Er wird zum Akt, zum vertrauensvollen Hingeben des Sterbenden und zur verlässlich-mächtigen Gegenwart des Ansprechbaren. Das Leben scheint im Tod geborgen.
Das menschliche Vollbringen steht im Mittelpunkt des johanneischen Sterbewortes. Es gibt keinen Ansprechbaren wie bei Lk. Auch die vernichtende Präsenz des Todes ist durch das Vollbringen des Lebens in dessen Deutung mit aufgenommen. Der souveräne Mensch geht aus eigener Kraft in den unausweichlichen Tod. Er bringt dabei die Fülle des Lebens mit. Der Tod erscheint so als letzter Akt des souveränen Lebens. Nicht der Tod nimmt dem Menschen das Leben, sondern der Mensch beschließt sein Leben in eigener Macht. Dieser Zustand des souveränen Lebensbeschlusses ist Tod.
Die biblischen Autoren erzählen von möglichen Sterbeweisen und darin auch von letzten Haltungen dem Leben gegenüber. Sie erzählen vom fragend-skeptischen Menschen, vom vertrauensvollen Menschen und vom Menschen als Souverän. Die Verwortungen der wortlosen Stimme Jesu sind von griechischer Rationalität beeinflusst. Sie erfassen im Tod des Nazareners den Tod des Menschen. Karfreitag.
- Bultmann, R. (19. Aufl. 1968): Das Evangelium nach Johannes. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
- Frör, K. (3. Aufl. 1968): Wege zur Schriftauslegung. Düsseldorf (Patmos)
- Moltmann, J, (2. Aufl. 1973): Der gekreuzigte Gott. München (Kaiser)
- Riedel, C. (2017): Psychological Care am Lebensende. Stuttgart (Kohlhammer)
- Ritz-Schulte, G. & Huckebrink, A. (2012): Autor des eigenen Lebens werden. Anleitung zur Selbstentwicklung. Stuttgart (Kohlhammer)
- Seckler, M. (1972) Hoffnungsversuche. Freiburg, Basel, Wien (Herder)
- Zürcher Bibel (2007). Zürich (Verlag der Zürcher Bibel)
Die Skulpturen im Foto sind Werke des Bozner Bildhauers Andrea Bianco. In der Werkschau während der Sommerausstellung 2020 in Schloss Prösels (Südtirol) wurden die drei Skulpturen zu einander in Beziehung gesetzt.