Karsamstag

Jesus starb am Nachmittag des Karfreitag am Kreuz. Nach der Kreuzigung wurde der Leichnam in aller Eile, bevor das Paschafest begann, notdürftig einbalsamiert und in ein Felsengrab gelegt. Das berichten, mit unterschiedlichen Attribuierungen, die vier Evangelien des Neuen Testaments. Der Evangelist Mattäus weiß: „Es waren dort [am Grab] Maria aus Magdala und die andere Maria; die saßen dem Grab gegenüber.“ (Mt 27, 61) Behalten wir das Bild: zwei Frauen sitzen am Grab. Sie halten Totenwache.

In diese Szene hinein greife ich einen Traum auf, den Jean Paul (1763 – 1825) in seinem Roman „Siebenkäs“ unter dem Titel „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ (Paul, 1976, S. 641 – 645) schildert. Im Traum antwortet Christus auf die Frage der anderen Toten: „ist kein Gott?“ (ebd., S. 643), dass keiner sei. Die Suche nach Gott in allen Welten, in den Wüsten des Himmels war ergebnislos. Der Ruf des Christus „Vater, wo bist du?“ bleibt ohne die erwartete Antwort. Christus spricht weiter: „Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich.“ (ebd., S. 643) In tiefster angstvoller Erschütterung fragen die Toten: „Jesus! Haben wir keinen Vater?“ Der Christus „antwortet mit strömenden Tränen: Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“ (ebd., S. 643)

Das gewaltige Bild, das Jean Paul noch weiterführt und letztlich im sich lichtenden Traum wendet, könnte ein Interpretament der Gefühle sein, die die am Grab Jesu sitzenden Frauen hatten. Das Bild greift die Verwortung des Todesschreis Jesu bei Markus und Mattäus (siehe Beitrag „Karfreitag“) auf und spitzt sie zu: „Vater, wo bist du?“ Nirgends ist der Vater zu finden. Die Welt ist leer. Die Ewigkeit macht sich über sie her und käut sie wieder. Das ist der metaphysische Aspekt des Textes. Der Mensch, das Leben ist nicht nur unbehaust, sie sind auch Nahrung der Ewigkeit. Dieser tote Christus wird sich im lauten Tosen des versinkenden Kosmos bewusst: „Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls.“ (ebd., S. 644) Das All ist eine Totengruft. Die Lebenswelt ist ein dauerndes Versinken. Der Mensch neben Christus ist ein „Armer“, dessen „kleines Leben der Seufzer der Natur oder sein Echo [ist]“ (ebd., S. 644). Mit dem Tod gerät die Welt aus den Fugen und das Leben wird in seiner Zufälligkeit, als Echo eines Seufzers der Natur sichtbar. Die Ordnung ist aufgehoben und damit der Halt, den Welt und Leben voraussetzten. Ist es das, wozu der Zustand von Welt und Leben, den Jesus seinem Jüngerkreis als Reich Gottes in Aussicht gestellt hatte, sich nach dessen Tod entpuppt? Ist der Tod Jesu für seine JüngerInnen eine Ent-täuschung, die die gemeinsame Utopie als tote Illusion entlarvt? Oder ist das eine metaphysische Überfrachtung der einfachen menschlichen Trauer über den Verlust eines lieben Menschen?

Greifen wir jetzt das biblische Bild auf: die beiden Frauen, wie sie am Grab des Jesus von Nazareth sitzen. In der Sachlichkeit des Mattäustextes klingt die Stille nach, die nach der hektischen Beisetzung des Leichnams eintritt. Jetzt, nachdem der Leichnam seinen Platz gefunden hat, und der Rüsttag zum Paschafest übergeht, sind die Frauen regungslos. Es ist die Zeit, in der die letzten Eindrücke des ohnmächtigen Lebensausklangs des Mannes, dem sie sich anvertraut hatten, als Bilder vorüberziehen. Nichts von dem, was bis zum Tod am Kreuz war, gilt noch. Das Leben schweigt. Dieses Schweigen ist auszuhalten. Stumm und regungslos. Die Stille am Grab ist etwas anderes als die Geräuschlosigkeit. Sie ist ein anderer Lebensraum als der des Alltags, mit seinem Tun und seinem Erleben, den Bewertungen und Urteilen. Diese Stille öffnet den Raum, in dem kein „Bergend-Gründendes“ (M. Seckler) erreichbar ist. Kein Halt, an dem sich eine, einer einhalten kann. Kein Grund, der eine Ordnung begründet, die Orientierung gibt. Ein Raum, in dem die Frage aufsteht, ob sich je wieder einem, der sich als Halt und Grund anbietet, trauen lässt? 

Hier begegnen sich die beiden Szenen, die der Frauen am Grab und die des Traums bei Jean Paul: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“ (Paul, 1976, S. 643) 

Eine, leider in der katholischen Kirche kaum mehr berücksichtigte, weise Regel erklärt den Karsamstag zum Tag ohne jede Liturgie. Der Mensch lebt diesen Tag, ohne sich am Bewährten und Vertrauten oder auch nur am Gewohnten fest- und einhalten zu können. Eine Zumutung eigentlich: es gibt solche Tage, in denen das „Bergend-Gründende“ oder der Ansprechbare einfach abhanden gekommen ist und das Leben schweigt. Solche Tage haben etwas Grausames, wie sich das bei Jean Paul ausdrückt. Sie bringen auch die regungslose Stille mit, wie sie die beiden Frauen am Grab erleben. Halten wir es aus, wenn das Leben schweigt?

  • Paul, J. (1976): Werke in drei Bänden. Band 1. München (Hanser)
  • Zürcher Bibel (2007). Zürich (Verlag der Zürcher Bibel)
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