Ostern

Worum es an Ostern geht? Das Leben zu feiern. So sehe ich das zumindest für mich. Die Feier des Lebens gehört zum Leiden und Sterben am Karfreitag, zum Schweigen des Lebens am Karsamstag. Der Rückzug in die schmerzenden Dimensionen des Lebens und der immer neue Aufbruch in die Feier des Lebens spiegeln sich im Ausdruck „durch’s Leben gehen“. 

Noch einmal blicke ich auf den biblischen Textbestand. Heute interessiert mich jeweils das letzte Kapitel der Evangelien (Mk 16; Mt 28; Lk 24; Joh 20). Es handelt von den Ereignissen der Auferstehung. Dabei fällt auf, dass der Berichtstil, in dem die Leidensgeschichten geschrieben sind, sich auch an den Textstellen durchhält, die die Auferstehung Jesu betreffen. Das erzeugt eine semantische Spannung. Denn die Schilderung passt nicht zum Inhalt. Berichte, Schilderungen beziehen sich auf das, was Sache ist. Ist die Auferstehung Jesu ein Ereignis, das im Bericht unter der Hand zur Tatsache wird? Gründet die Realität des Auferstandenen in der rhetorischen Figur ihrer Schilderung? Lebt Ostern allein vom bekenntnishaften Glauben an etwas, das in dieser Weltrealität nicht vorkommt, dass ein Toter zum Leben aufersteht? 

Was das Leben des als auferstanden bekannten Christus angeht, so lassen sich in den Ostertexten der Evangelien durchaus Unterschiede zur Lebenswelt seiner AnhängerInnen feststellen: Christus erscheint. Sein Erscheinen überwindet die materialen Grenzen von Türen und Mauern, von Distanzen (Jerusalem im Süden, Galiläa im Norden Israels) und die Form der Zeit. Er erscheint gleichzeitig an verschiedenen Orten. Christus ist in seinem Erscheinen für die Menschen nicht greifbar, bis auf Thomas, der ihn berühren darf. Christus ist da und gleichzeitig „auf dem Weg“ zum Vater im Himmel. 

Was in den Texten weiterhin auffällt: Es wird viel gegangen. Die Frauen gehen am Morgen zum Grab. Maria von Magdala läuft zu den JüngerInnen und berichtet von der morgendlichen Begegnung mit Jesus. Petrus und Johannes laufen daraufhin um die Wette zum Grab. Zwei Jünger wandern auf dem Weg nach Emmaus, einem kleinen Ort in der Nähe Jerusalems, und laufen nach der Offenbarung ihres Weggefährten als Jesus zu den anderen JüngerInnen in die Stadt zurück. Wieder andere werden an See Tiberias nach Galiläa gesandt und machen sich sofort auf den Weg. Es scheint, als lösten die Begegnungen mit dem auferstandenen Christus eine Menge Bewegung im Anhängerkreis aus. Leben ist Bewegung. Die Schockstarre der Tage davor löst sich. Die Menschen um den gekreuzigten Jesus machen sich nach der Begegnung mit dem auferstandenen Christus auf verschiedene Wege. Gehen können heißt lebendig sein.

Dem Gehen geht der Philosoph Hannes Böhringer in seinem Essay „Geländer“ (Böhringer, 2021, S. 104 – 117) nach. „Die Menschen schreiten. Auch wenn sie rennen, machen sie Schritte.“ (ebd., S. 106) Menschen kommen also schrittweise voran, gleichgültig, wie rasch sie sich bewegen. „Es macht ihnen darum nichts aus, alles, was sie angehen, nicht sofort auf einen Schlag zu erreichen, sondern beharrlich Schritt für Schritt.“ (ebd., S. 106) Das hat allerdings seinen Preis: „Das Ganze ist immer ein Stückwerk.“ (ebd. S. 106) Auf das Sprachbild des Lebensweges angewendet bedeutet das, dass wir das Leben nicht in einem Schlag, vom Ziel her haben. Leben will Schritt für Schritt erlebt, ereignet, erarbeitet sein. 

Der Weg führt über Höhen und Tiefen. Hierfür bietet Hannes Böhringer die Bilder der Schräge und der Treppe an (ebd. S. 106 f.). Hochzeiten im Leben und Tiefzeiten unterscheiden sich darin, dass der Lebensweg in verschiedenen Ebenen verläuft. Dazwischen liegen Schrägen, die zu überwinden sind. „Stufen machen aus einer Schräge eine Treppe, eine Stiege, die Höhenunterschiede überquert.“ (ebd. S. 106) Die Treppe wird so zum „Sinnbild wie die Leiter für Aufstieg und Abstieg“ (ebd. S. 107). Jetzt steht die Frage auf: Wohin wollen wir auf unserem Lebensweg? „Alle wollen nach oben“ (ebd. S. 107), konstatiert der Philosoph. Wer nach oben gelangt, hat die besten Aussichten. Vielleicht auch darauf, dass die Treppe noch höher führt, zu neuen Plateaus – und schon wird das Bessere, das höher Liegende, zum Feind des Guten, des gerade erreichten Oben. Stimmt es also gar nicht, dass Gehen heißt, sich lebendig fühlen? Heißt Leben nicht vielmehr stetes Steigen nach oben?

„Doch die Kunst ist das Herunterkommen, das Wiederaufstehen nach dem Fall, das Weitermachen im Auf und Ab des Lebens.“ (ebd., S. 107) Jetzt ist es sinnvoll, uns wieder dem Osterereignis zu zu wenden. Jesus erwies sich zumindest seit dem Karfreitagsgeschehen als „heruntergekommen“. Tiefer, als am Kreuz zu enden, war in der vom römischen Recht geprägten Zeit kaum ein Fall denkbar. Wer gekreuzigt wurde, war als Aufständischer gegen den Kaiser Roms und gleichzeitig als Nicht-Römer stigmatisiert. Der römische Bürger (civis Romanus) durfte nicht gekreuzigt werden. Am Ostermorgen stand Jesus wieder auf von seinem Fall. Er stand als der Christus vor und bei seinen JüngerInnen. Mit allen Zeichen seines Heruntergekommenseins, den Wundmalen aus Folter und Kreuzigung. Wer heruntergekommen, gefallen ist, ist gezeichnet. Sein Gesicht ist hohlwangig. Die Haare werden grau oder fallen aus. Der aufrechte Gang wirkt gebeugt. Er scheint gebrechlicher als vor seinem Abstieg. 

Eben das nun zeichnet das Leben aus: Dem Lebenden ist der Weg anzusehen, den er bis dahin gegangen ist, wo wir ihm (wieder-) begegnen. Nicht nur der Gehende hinterlässt Spuren auf dem Lebensweg, auch das Leben hinterlässt seine Spuren an dem, der ihn geht. Da erschließt sich für mich abseits der Diskussion, was man nun von der Auferstehung und dem auferstandenen Christus halten könne, die Feier des Lebens als möglicher Sinn von Ostern. Es ist nicht die Feier der scheinbar Unsterblichen, die immer jung aussehen, sich stets fit geben. Es ist die Feier des Lebens, das die sterblichen Lebenden hochleben lassen. Die, denen wir ansehen können, dass sie schon einiges an Wegen und Schrägen im Leben zurückgelegt haben. Eben jenen, die im Grunde wir alle sind, Ansehen zu schenken, dadurch ihre Resilienz zu stärken, die Fähigkeit, nach dem Abstieg wieder hoch zu kommen, das drückt sich in der Feier des Lebens aus. Wir wissen, dass sie nicht ewig dauert. Wir feiern das Leben dann immer wieder, wenn die Feier uns das Leben erhält und das Aufsteigen aus der Tiefe fördert. Ostern.

  • Böhringer, H. (2021): Leben im Dativ. Berlin (Matthes & Seitz)
  • Zürcher Bibel (2007). Zürich (Verlag der Zürcher Bibel)
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