Zum Tod des inspirierenden Theologen Hans Küng
„Hat die Kirche eine Zukunft?“ So fragt Hans Küng, der am 06.04.2021 in Tübingen starb. Die Frage stellt er im Epilog zu seinem Buch „Die Kirche“. Es erschien in erster Auflage 1967, zwei Jahre nach dem 2. Vatikanischen Konzil. In der Zusammenfassung seiner Argumentation findet sich die Antwort: „Sie hat eine Zukunft, weil sie in der Welt eine Gegenwart hat.“ (1977, S. 571) Damit formuliert H. Küng die Intention seines gesamten theologischen Werkes und Wirkens: Es geht darum zu zeigen, wie die Kirche sich selbst vom Christusereignis her versteht und wie sie aus diesem Verständnis heraus in der Welt präsent ist. Kirche ist für den Theologen nicht ein Gegenentwurf zur Welt, sondern ist ein Geschehen in der Geschichte der Welt. (1977, S. 15) Insofern nimmt Theologie als Wissenschaft in der Kirche immer auch Aufgaben für die Welt wahr. Sie kann längst „keine Totalerklärung der Wirklichkeit anstreben“ (1974, S. 77). Vielmehr gilt für den Theologen: „Je mehr der Theologe von dieser Welt weiß, durch die Naturwissenschaften, die Psychologie, Soziologie, Philosophie und … die Historie …, um so besser wird er seine theologische Aufgabe erfüllen können.“ (1974, S. 78 f.) Wie die Kirche in die Welt ordnet sich die Theologie in den Kontext der Wissenschaften ein. Sie geht von der spekulativen zur argumentierenden Theologie über. (1970, S. 315 ff.)
Wie fühlte sich der Kontakt mit einem der weltweit bedeutendsten Theologen an?
Auf dem Weg zum Sonntagsgottesdienst in der Tübinger Johanneskirche, eine Straße überquerend, quietschten plötzlich Autobremsen. Kurz vor mir kam ein PKW zum Stehen und ein sichtlich entsetzter Hans Küng kurbelte das Fenster herunter und entschuldigte sich. Er bat mich, nach der Eucharistiefeier noch einmal auf ihn zu zu kommen. Er lud mich zu sich nach Hause auf einen Theologenkaffee ein. Da saß ich nun, Theologiestudent im 6. Semester, mit dem damals weltweit bekanntesten Theologen beim Kaffee. Er erzählte kurz von seiner Forschungsweise und bald befanden wir uns in einer spannenden Diskussion zum Argument der Wette bei Blaise Pascal. An diesem Nachmittag begegnete ich einem weltoffenen und vor allem an dem Menschen, der ihm da gegenübersaß, interessierten Wissenschaftler ohne jegliche professorale Allüren. Diese Begegnung prägte mein theologisches Studium ähnlich wie die Begegnung mit Ernst Bloch mein philosophisches Reflektieren.
Allein aufgrund der persönlichen Begegnungen betraf mich die Nachricht vom Tod Hans Küngs. In der geschilderten Begegnung erlebte ich ihn als unglaublich scharfsinnigen und geradezu universell interessierten, argumentierenden Denker. Argumentation und Disput prägten auch seine Vorlesungen und Seminare. Hans Küngs Theologie vollzog sich in Argument und Engagement. Er versuchte der Kirche, die er ökumenisch begriff, einen selbstverständlichen Ort im Geschehen der Welt zu geben. Kirche leitet aus ihrem christologischen Bezug einen Auftrag für das „Humanum“, das Menschliche ab. Sie ist der Anwalt „der königlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (1977, S. 564). Seine Theologie entwarf Formen der engagierten Teilhabe am Menschsein unter dem Aspekt, was Religion zu einem gelingenden Leben beitragen kann. Insofern betraf seine theologische Kritik immer die Kirchen- und die Weltlage. Das eine war für ihn ohne das andere nicht denkbar. Küngs Programmbegriff dafür war seit 1990 „Weltethos“.
Das „Projekt Weltethos“ bereitete sich als Arbeit an einem „grundlegenden Orientierungswissen“ (1990, S. 13) bereits in den 1970-iger Jahren vor. Der programmatische Gedanke, dass der Frieden in der Welt mit dem Frieden zwischen den Religionen eng verbunden ist, erscheint aktueller denn je. Religionen können die „planetarische Verantwortung“ als eine „Verantwortung der Weltgesellschaft für ihre eigene Zukunft“ (1990, S. 52) auf ihre spezifische Weise des Gottesbezuges von Mensch und Welt bewusst machen. Sie verweisen aus einer theologischen Perspektive darauf, dass der „Mensch sein menschliches Potential für eine möglichst humane Gesellschaft und intakte Umwelt anders ausschöpfen“ (1990, S. 53) muss als bisher.
Hans Küng, der in der Kritik „seiner“ Kirche die Unterbrechung des ausschließlich Traditionellen und Hierarchischen in ihrem Selbstverständnis voranzutreiben versuchte, ließ sich durch die scharfen Gegenreaktionen der Katholischen Kirche nicht irritieren. Er verfolgte nachdrücklich sein Ziel, einem humanen, von der Idee der Menschwerdung Gottes geprägtem Menschsein Geltung zu verschaffen. Dass er dabei nicht nur Mitglied dieser Kirche, sondern auch Priester in dieser Kirche blieb, beeindruckt mich bis heute.
Mit ihm ist ein inspirierender akademischer Lehrer, ein Theologe von außerordentlichem Format, ein Aufklärer im philosophischen Sinn des Begriffs und ein wichtiger Kritiker der römischen Kirche gestorben. In seinem Weltethos-Projekt überlebt seine wache und kreative Intellektualität, seine Freude am umfassenden Diskurs und sein engagiertes Interesse am Menschen.
- Küng, H. (1970): Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena eine künftigen Christologie. Freiburg, Basel, Wien (Herder)
- Küng, H. (2. Aufl. 1977): Die Kirche. München (Piper); Erstauflage: 1967
- Küng, H. (4. Aufl. 1974): Christsein. München, Zürich (Piper)
- Küng, H. (2. Aufl. 1990): Projekt Weltethos. München (Piper)