„Leben im Dativ“ – inspirierende Philosophie

Ist der Dativ der Fall, in dem ich lebe? „Von Anfang an befinde ich mich im Dativ. Mir ist, sagt man, das Leben geschenkt worden, die grundlegende Begebenheit für alle weiteren Ereignisse, das Datum der Geburt.“ (Böhringer, 2021, S. 53) Heute laufe ich Gefahr, vor allem in Daten gegeben zu sein. So gerät leicht das Gefühl abhanden, dass ich mir selbst gegeben bin. Was geschieht mir, wenn ich mich auf diese Weise verliere?

Die Essays, die der Philosoph Hannes Böhringer in seinem Band „Leben im Dativ“ (2021; alle Seitengaben dito) versammelt, gehen von Worten und Wortbildern aus und sie gehen ihnen nach. Sie regen an, im Wort zu bleiben, darin den Gedanken weiter zu spielen. Dadurch ergeben sich einem (Dativ!) Einsichten und Hinsichten, die das Leben in philosophischer Dimension sehen lassen. „Der Dativ des Lebens ist aktiv wie passiv.“ (S. 53). Was mir (Dativ!) in Böhringers Essays aufgeht: Reflektierendes Denken ist leicht. Nicht in dem Sinne, dass es nebenbei zu erledigen sei. Leicht bedeutet: Ich lasse mich nicht von Gedanken erschlagen, nicht von Einsichten erdrücken.  Böhringer vermittelt in seinen Essays die Alternative zum „forcierten Denken (cogitare)“ (S. 60) Bei aller Routine dürfen „die Verwunderung, die Lust auf Überraschungen, das Bewusstsein für die Grenzen des Wissens … nicht verloren gehen“ (S. 60). Sokrates praktizierte Philosophie auf diese Weise in seinen Dialogen. Er ging von einem Thema aus, dem er ein Wort gab, wodurch er das Denken in Bewegung brachte. Darin besteht die Leichtigkeit des Denkens, einfach damit anzufangen. „Die Sprache tropft.“ (S. 78 ff.) So formuliert es H. Böhringer. Die „bildnerische Kraft der Sprache“ – Humboldt nennt sie Energeia – lässt sie überquellen. Bilder entstehen, die aus der Sprache heraus und in die Welt der Gegebenheiten hinein springen (S. 79). „Das Bild ist ein Augenblick im Geschehen“ (S. 79). Deshalb gilt: „Fang einfach an!“ (S. 25) Wer Umwege zum Bild nimmt, riskiert, dass das Bild zäh wird, gerinnt (S. 79). Das Denken wird mühsam und forciert.

„Leichtigkeit adelt das Einfache.“ (S. 33) Das ist die Maxime, die Böhringer seinem Denken und den Texten, die meist aus kurzen Sätzen gefügt sind, unterlegt. Dabei ist sein Denken alles andere als trivial. Hintergründig erschließen sich die Themen der Philosophie, wie Wahrheit und Meinung, Denken und Handeln, Neugier und Vorsicht. Er verweist im Text auf die Autoren und im Literaturverzeichnis auf die Textorte, an denen die Gedanken aufgefunden werden können. Er überfrachtet die Essays nicht mit Gelehrtenwissen. Dadurch bewahrt er den Texten und dem Leser (Dativ!) Leichtigkeit und Beweglichkeit. Um etwas zu finden, sollte ich suchen, losgehen, meinen Lebenswinkel verlassen. „Menschen nisten in Nischen. Sie hocken in der Ecke eines Zimmers, eines Hauses, in einem Winkel des Weltraums (Pascal). … Menschen sind Winkelbewohner. Der Winkel ist exzentrisch. Die Menschen sind exzentrisch (Plessner). Sie drängen in den Mittelpunkt und schauen sich dabei über die Schulter aus der Ecke an.“ (S. 124) Eine eindrückliche, anthropologische Beschreibung des Menschseins in wenigen Sätzen.

In Böhringers Essays gewinnt das platonische „logon didonai“, ein Wort geben, eine einfache Bedeutung. Den Gedanken (Dativ!) ein Wort zu geben, das ist der Anfang des Philosophierens. Diese Beziehung zwischen Wort und Gedanke können das „Geländer am Rande, an der Seite sein“ (S. 113). Es wird nur aus dem Augenwinkel gesehen. Keiner geht nur philosophisch durch’s Leben. Keiner braucht dauernd das Geländer am Weg. Wichtig ist: „Es ist da und bei Bedarf zur Hand.“ (S. 113) Verhält es sich nicht mit der Philosophie, deren Aufgabe nach Platon das „logon didonai“ ist, ähnlich? Bei Bedarf kann ich dem Gedanken ein Wort geben, meinen Winkel verlassen und nach draußen in die frische Luft gehen, wie es Nietzsche tat (S. 22).  Und wenn ich gerade nicht ins Freie komme? „Frisch ist alles da, sentimental, ungefiltert, lebendig. Schrecken, Schmerz wie Glück. Es passiert einfach. Der Witz dabei ist, dass die frische Luft – woher auch sonst? Nichts Besonderes – von draußen kommt. Gott sei Dank sind die Wände undicht.“ (S. 23 f.)

Was heißt also „Leben im Dativ“? Die strategische und systematische Reflexion vollzieht sich im Akkusativ: Ich reflektiere eine Aussage. Ich reflektiere mich. Darin reflektiere ich die Beziehung (Referenz) zwischen der Aussage und mir. So kommt der Dativ ins Spiel. Mit dem Dativ stellen sich die Gegebenheiten (datum) ein: die Aussage und ich, mein Denken wird mir (Dativ!) bewusst. Der Dativ überführt die Logik des Denkens in eine Logik der Gegebenheiten. So kommt das Leben ins Spiel der Philosophie. Lebendiges Philosophieren ist dem Autor (Dativ!), der seit 2012 als Professor em. lebt und an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig Philosophie lehrte, in seinen Essays auf inspirierende Weise gelungen.

Böhringer, H. (2021): Leben im Dativ. Berlin (Matthes & Seitz)

%d Bloggern gefällt das: