Welch’ wunderbares Geräusch, das Rascheln der Zeitungsblätter! Die gerollte Zeitung am Morgen aus dem Türgriff ziehen, der erste Blick auf den Aufmacher während des Wegs in die Wohnung, vielleicht schon das Streiflicht anlesen. Die Kaffeemaschine ist schon heiß. Da liegt sie, die Tageszeitung. Ich mag die kachektisch anmutenden kleinformatigen Ortszeitungen nicht. Eine richtige Tageszeitung muss für mich das beim Blättern schwer zu bändigende Großformat haben, viele Seiten, viele Themen. Ein respektables, vielseitiges Feuilleton und ein nachdenklicher und diskutierbarer Meinungsteil gehören unbedingt dazu.
Seit einigen Monaten verändern sich meine Lesegewohnheiten. Neuerdings gewinnen die Meinungsseiten an Bedeutung. Wohlabgewogene und gut argumentierte Kommentare zum aktuellen Zeitgeschehen lese ich mit wachsender Begeisterung. Denn sie fordern auf, in der Auseinandersetzung mit der vorgetragenen Meinung die eigenen Standpunkte zu überdenken und in pointierten Argumenten zu schärfen. Dann lese ich das Feuilleton, dem derzeit die aktuellen Besprechungen wichtiger Theaterereignisse und Konzerte fehlen. Darauf freue ich mich schon, wenn wieder über Kulturereignisse berichtet wird. Ich freue mich auch auf die Konzertkritiken, die aufregen, weil sie so gar nicht meinen subjektiven Eindruck treffen. Auch das gehört zum kulturellen Leben, das Erleben und die Reflexion darüber.
Zuletzt lese ich dann den Nachrichtenteil. Das ist anders als früher. Da waren die Nachrichten neben dem Feuilleton das Wichtigste. Unter den Nachrichten suche ich, leider immer wieder vergebens, nach Berichten über den Fortgang der Ereignisse, die einmal die Aufmacher und Aufreger waren. Die Halbwertszeit des Interesses verringert sich zunehmend, ist mein Eindruck. Was zwei Wochen lang die Schlagzeilen beherrschte, verschwindet aus den Medien. Schwere, immer noch andauernde humanitäre Katastrophen oder regionale Konflikte drohen so in Vergessenheit geraten. Umweltentwicklungen, die schleichend vorangehen, werden übersehen. Die Auswirkungen von Neuigkeiten aus Wissenschaft und Technologie werden kaum weiterverfolgt. Wer geduldig sucht, findet in der Zeitung meist doch ein paar knappe Nachrichten gegen das Vergessen.
Die Zeitung garantiert eine längere Aufmerksamkeitsdauer als die allzu flüchtige Internetnachricht. Zeitungsberichte nehmen schon physisch viel Raum ein. Sie fordern den Leser auf, ein wenig Lebenszeit in die Lektüre zu investieren. Zeitung ermöglicht dieserart eine andere Form der Teilhabe am Zeitgeschehen als die anderen Medien, die auf der sekundenaktuellen Information in wenigen Sätzen beruhen. Diese erreichen gerade noch das Spontangedächtnis. Schon der Transfer ins Kurzzeitgedächtnis ist fraglich. Dadurch wird Information auf den Augenblick reduziert. Sie veranlassen zuweilen einen so kurzen Focus der Aufmerksamkeit auf die Nachricht, dass jene nur die extrem rasch aufnahmefähigen affektiven Rezeptoren erreicht. Es bleibt allenfalls ein emotionaler Eindruck vom Gelesenen oder Gehörten zurück. Die Fakten erreichen uns kaum.
Wie anders ist das Lesen einer Zeitung. Die in Spalten gegossenen Nachrichten geben der kognitiven Erfassung eine echte Chance. Von vorne herein sind unsere kognitiven Strukturen schon durch den Anblick vieler Zeilen auf einer bedruckten physischen Seite affiziert. Die Aufmacher und Schlagzeilen laden zum Nachlesen dessen ein, was sich ereignet hat. „Lesen“ ist ja nicht nur Verarbeitung von Texten, sondern ist immer auch Lese und Auslese, also Sammlung. Guter Journalismus schafft es, die bewertenden Strukturen mit zu aktivieren – und damit kommt das Gefühl ins Spiel. Zugespitzt: Zeitung bietet Information verbunden mit Bildungsmöglichkeiten an. Durch die langsame Rezeption wird Information mit den vorhandenen Wissenskontexten des Lesers in Berührung gebracht. So entsteht Auseinandersetzung, die der Anfang der Meinungsbildung ist. Im Denken werden die Standpunkte geprüft, gewichtet, verändert. Bildung entsteht. Insofern ist die Zeitung, die gewichtige, großformatige, mit Aufwand erarbeitete, mühsam zu lesen und manchmal noch mühsamer zu verarbeiten. Und sie mutet den einsamen Raum zu. Wer sich in die Seiten einer Zeitung begibt, in der Lektüre versinkt, der macht sich einsam. Insofern ist Zeitungslesen eine Strategie gegen das affektiv getönte Meinen der massenhaften Öffentlichkeit und das falsche, leider bei uns in Mode gekommene Moralisieren, das den intellektuellen Kommentar ersetzt. Der Wiener Philosoph Konrad P. Liessmann (2017, S. 217) findet dazu kantige Sätze: „Letztlich ist der Denkende mit seinem Denken allein. Denken ist die Sache des einzelnen, des Individuums. … Die Tugend des Intellektuellen ist die Einsamkeit, das Netzwerk sein Laster.“ Eine Tugend, die zudem das Leben wertvoll macht.
Liessman, K. (3. Aufl. 2017): Bildung als Provokation. Wien (Zsolnay)