1957. Drei Jahre war ich alt. Von ferne hörte ich morgendliche Marschmusik. Von den Gewerkschaften wurde damals das „Maiwecken“ initiiert. In der Innenstadt Ingolstadts trafen sich die Kappellen zum Festzug mit anschließender Kundgebung auf dem Paradeplatz. Mein Vater nahm mich dorthin mit. Am meisten begeisterte mich die „Große Trommel“. Geduldig hörte ich wohl auch der Politikerrede zu. Trommeln und eine Rede halten waren in den folgenden Tagen meine Lieblingsbeschäftigung. So früh also wurde ich politisiert.
Wie entsteht politische Bildung? Ich hatte Glück. Zeitungslesen, das regelmäßige Hören der Rundfunknachrichten, später die Tagesschau und politische Magazine im Fernsehen, vor allem aber das Gespräch und die Diskussion über das politische Tagesgeschehen, damit war ich seit frühester Kindheit vertraut.
Die erste Wahl, die mich aktiv beschäftigte, war die Stadtratswahl in Ingolstadt 1966. Damals gewann die SPD und stellte den Oberbürgermeister. Ich setzte mich, den Erzählungen meiner Eltern zufolge mit den möglichen Kandidaten auseinander, las Zeitung, stellte tausend Fragen zu Parteien und politischen Funktionen. Ich erinnere mich, dass ich in meinem Zimmer selbstgemalte Wahlplakate aufgehängt hatte. Das Interesse an Politik begleitet mich seitdem.
Schwierig wurde die politische Auseinandersetzung in der Familie mit den 1968-iger Jahren. Im Geschichts- und Sozialkundeunterricht wurde das Dritte Reich besprochen. Wie waren meine Eltern betroffen? Inwieweit waren sie in die Geschehnisse involviert? Wir stritten über die Studentenrevolte. Revolutionäre Politik begann mich zu interessieren. Marxismus, die Spannung von Kapitalismus und Sozialismus, Kommunismus als utopische Lösung der Klassen- und Bildungsunterschiede, solche Themen wurden in politischen Diskussionen mit KlassenkameradInnen, aber auch mit unseren LehrerInnen leidenschaftlich diskutiert. Politik spielte in meiner Gedankenwelt auch während des Theologiestudiums eine wichtige Rolle. „Kirche contra Gesellschaft?“ (A. Gläßer), Befreiungstheologie, Politische Theologie nach Ausschwitz (J. B. Metz) waren bohrende Themen, die sich später in meinem immer auch politisch aufgeladenen Religionsunterricht niederschlugen. Die Kolumnen von Ulrike Meinhof in der Zeitschrift „Konkret“ gehörten zur Pflichtlektüre. Aus diesen bewegten Jahren, zu denen auch der RAF-Terrorismus gehörte, blieb bis heute eine kritische Haltung zu politischen und gesellschaftlichen Prozessen in den USA, blieb die Sensibilisierung für weltweite militärische Konflikte als Folge imperialer wirtschaftlicher Interessen, blieb die Aufmerksamkeit für die sozialen und politischen Verwerfungen in den sog. Schwellenländern und den Anteil der deutschen Politik daran.
Die ökologische Frage kam in den letzten beiden Jahrzehnten neu hinzu, angeregt durch die Mitarbeit in einer Bürgerinitiative zur Reduzierung des Verpackungsmülls. Inzwischen fasziniert mich Andreas Webers Idee des „Enlivenment“ (2016), der Betrachtung der Dinge und Menschen „unter der Perspektive der Lebendigkeit“ (Weber, 2016, S. 25). Er schreibt: „Enlivenment heißt, [die Dinge] wieder ins Leben zu bringen – mit Leben zu erfüllen, lebendiger zu machen.“ (Weber, 2016, S. 25) In der „Lebendigkeit“ verbinden sich Leben, Empfinden und Denken. Das Lebendige widerspricht dem Objektcharakter der Welt und des Menschen. In der Haltung der Lebendigkeit betrachtet wird bewusst, dass Technologie und die sie ermöglichende Form von Wissenschaft das Leben zur Sache macht, zum Gegenstand. Versachlichung ist die Bedingung für formalwissenschaftliche Analyse und letztlich für den technischen Nachbau des Lebens. Mit der Virtualisierung der Technik durch den Transfer in digitale Sprachen entfernen wir uns weit vom Leben. Analyse und digitale Versprachlichung führen zu einer zunehmenden Eliminierung des Subjekts. Digitalität vollzieht sich in einer Grammatik, in der Objekte Objekte regieren. In der Ökonomie werden Objekte zur Ware, die nicht mehr für Menschen gedacht sind, sondern für Konsumenten, denen – zugespitzt – ebenfalls Warencharakter eignet. Vermittelt werden die Konsumenten als Ware mit den Konsumobjekten als Ware durch die sprachlichen Strukturen von Algorithmen, die als „Verben“ der digitalen Sprache fungieren.
Andreas Weber, der in seinen Überlegungen soweit nicht vordringt, setzt dieser neuen Form des Objektivismus, in der aus meiner Sicht Objekte Objekte durch Algorithmen regieren, die Haltung der „Allmende als Wirklichkeitspraxis in der ersten Person“ (Weber, 2016, S. 73) entgegen. Allmendewirtschaft geht davon aus, dass die Natur der Lebensraum aller ist, den alle nutzen und alle hegen. „Lebewesen benutzen das von der Natur bereitgestellte Gemeingut nicht, sie sind vielmehr physisch und psychisch Teil von ihm und auf es bezogen.“ (Weber, 2016, S. 75) Die Allmendehaltung ist wie die Care-Haltung eine Haltung der Umsorge (Weber, 2016, S. 91). Die Sprache der Umsorge geht von einer symmetrischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt aus. Das Verb „leben“ vermittelt zwischen Subjekt und Objekt. Damit wird die prädikative, die beschreibende und urteilende Dimension der Sprache, die letztlich zu einer Objektsprache führt, verlassen. Die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt ist ein fortwährender Akt, in dem alles lebendig bleibt. Weber bezeichnet das – etwas missverständlich – als „poetische Objektivität“ (Weber, 2016, S. 103 f.). Er nimmt damit wohl das aristotelische „poiein“ auf, das „etwas machen und sich formen“ als Handeln des Menschen, der im Handeln die Natur nachahmt (nicht nachbaut!) (Peri Poetikes 1448 a). So sieht Aristoteles auch die Sprache: Sie ist der Akt, in dem sich die Polis, der Lebensraum des Menschen (Politeia, 1253 a) im Kosmos, dem Zusammenhang des Lebens, entfaltet. Sprache ist auch mein wichtigstes politisches Mittel, in Leserbriefen, in leidenschaftlichen Diskussionen, in der Teilhabe an politischen Prozessen.
Ob das jene Kundgebung am 1. Mai 1957 angeregt hat, in der die große Trommel zusammen mit der Rede ein wichtige Rolle spielte?
- Aristoteles (1982, ed. Fuhrmann, M.): Poetik – Peri poetikes. Stuttgart (Reclam)
- Aristoteles (1981, ed. Rolfes, E.): Politik – Politeiea. Hamburg (Meiner)
- Weber, A. (2016): Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Berlin (Matthes & Seitz)