Heute erlebe ich mich immer wieder bedrückt. Auf der Suche nach Anlässen dafür fallen mir Überschriften ein wie „Wiedersehen mit der Wirklichkeit“, „Endlich eine Ahnung von Normalität“, „Wieder rauskommen und rein in die Wirklichkeit“. Ist die Pandemie denn keine Wirklichkeit? Welche Normalität wird denn geahnt? Ist das Leben mit den Coronamaßnahmen nicht auch eine Normalität, nicht auch ein Alltag? Ich verstehe das Aufatmen angesichts der Lockerungen, die Freude, durch belebtere Innenstädte zu gehen, das Bedürfnis nach dem freien Blick, die Lust, die Enge wenigstens ein paar Schritte weit und eine Zeit lang zu verlassen. Doch der Alltag der Pandemie, das Leben auf Distanz, die Akzeptanz der Regeln und Maßnahmen, die Vorsicht bei Kontakten bleibt. Machen wir uns da nichts vor.
Was mir zu denken gibt, ist das Suggestiv einer Normalität des „Weiter so wir vorher“. Dies verbindet sich mit der Tendenz, die Realität der Pandemie durch die Erklärung zum zeitlich begrenzten Ausnahmezustand zu relativieren. Sicher, auch die Corona-Pandemie wird einmal Geschichte sein. Ein Faktum der Vergangenheit, der Bewertung aus einer anderen Gegenwart zugänglich. Dazu ist es allerdings zu früh. Viel zu früh. Denn noch leben wir in der Pandemie. Sie ist keine Vergangenheit, auch wenn wir so zu tun beginnen, als ob wir dem Leben mit dem Sars-Cov-II-Virus für eine Woche Urlaub entkommen könnten. Niemand hat unsere Lebensorte von dem Virus befreit. Das Infektionsrisiko bleibt. Wer aus der Urlaubswoche zurückkehrt, kehrt in das Homeoffice, in Inzidenzunsicherheiten, in einen nach wie vor schutzbedürftigen, reglementierten Alltag zurück. Unser Leben wird ein Leben mit der Betroffenheit und den Folgen durch das Virus sein. Die Trauer um Verstorbene wird durch die Lockerungen nicht leichter. Das Leben mit Long-Covid-Symptomen wandelt sich durch Urlaubsmöglichkeiten nicht zu einem Kuraufenthalt. Die Verunsicherungen von Kindern und jungen Menschen können sich bei manchen trotz veränderter Begenungsmöglichkeiten zu Ängsten auswachsen. Und die Traumatisierungen durch nähebedingte Übergriffe in Familien und anderen Lebensgemeinschaften lösen sich nicht einfach durch ein paar Kita-, Schul- oder auch nur Spielplatzbesuche auf.
Ich weiß, das wirkt wie mit dunklen Farben über den Silberstreif am Horizont gepinselt. Niemand hat jedoch etwas davon, wenn er nur noch in die aufgehende Sonne starrt, um nicht die Wolken am Himmel zu sehen, die es immer geben wird. Sein Blick wird dadurch genauso beschädigt wie durch das mehrstündige Starren auf den Bildschirm. Es gibt keine Wirklichkeit neben der Wirklichkeit. Dieses Leben ist, wie eine Psychotherapiekollegin so treffend formulierte, das einzige, das wir haben. Ein anderes haben wir nicht. Wir werden uns, psychohygienisch klug, mit diesem Leben und allem, was sich ihm ereignet, arrangieren müssen. Die Pandemie hat das normale, selbstverständliche „Weiter so“ unterbrochen. Krisen unterbrechen das Gewohnte und Vertraute. Damit umzugehen, dafür haben wir die Wahl. Die Krise kann ignoriert werden. Es gibt immer noch Menschen, die leugnen die manifesten Symptome durch Umdeutung. Das Vermeiden der Konfrontation mit den Unterbrechungssymptomen, die Flucht in eine scheinbar heile Welt ist eine andere Möglichkeit. Beides ändert nichts an der Tatsache, dass vieles Unerwartete, Unvertraute und Ungewohnte auf den Menschen in der Krise zukommt. Irritierend dabei ist, dass einige der bewährten Verhaltens-, Denk- und Handlungsmuster sich als stumpf gegenüber der Pandemie erweisen. Das löst zuweilen Angst vor dem Ausgeliefertsein in der Lage aus. Mindestens wird durch die unangenehmen Erfahrungen, dass Bewährtes nicht zur Lösung taugt, Stress erzeugt. Und wenn es der psychisch belastende Stress des erfolglosen „Mehr desselben“ ist. Wie also überleben in der Krise?
Wo es keine Lösungen gibt, bedarf es, das ist eine bewährte psychotherapeutische Strategie, der Einstellungsarbeit, um Bewältigung der krisenhaften Lebenslage zu ermöglichen. Bewältigung ist etwas anderes als Lösung. Lösungen versuchen, ein Problem aufzulösen und es dadurch – wörtlich – los zu werden. Das Problem wird beseitigt. Bewältigung verfolgt eher das Ziel, mit einem Problem so leben zu lernen, dass sich die Belastungen und schädlichen Wirkungen in Grenzen halten. Bewältigungsstrategien rechnen auch mit Rückschlägen, sind auf situative Veränderungen hin anpassbar. Anders als Lösungen orientieren sie sich weniger an der Veränderung der Lage, sondern vorwiegend an der Erarbeitung kreativer, innovativer Einstellungen zur Situation. Einstellungsarbeit eignet sich hervorragend in Krisen, deren äußere Faktoren nur schwer zu beeinflussen sind. So eine Krise ist die Pandemie. Einer kann sich immer ändern, das ist der Mensch, der in der Krise lebt. Unter drei Bedingungen: Der Betroffene ist veränderungsfähig, veränderungsbereit und veränderungswillig. Veränderung hat mit Lernen von Neuem, Unvertrauten und Ungewohntem zu tun. Jede Lernsituation ist ein einmaliger und einzigartiger Versuch, sich in einer Situation verändert zu verhalten, ihr mit neuen Gedanken zu begegnen und anders als vertraut zu handeln. Misslingt der Versuch, beginnt der Lernprozess von neuem. Ohne auf den letzten oder die zurückliegenden misslungenen Versuche zu schielen. So verhindern wir zusätzlich zum Erlernen von Neuem demotivierende Verhängnisketten von Misserfolgen.
Einstellungsarbeit gegenüber der pandemischen Krise bedeutet,
- Differenzierung DER Krise in DIE Krisen durch Unterscheidung und Analyse der Betroffenheiten und der Beteiligungen
- Ernstnehmen, dass die Krise nicht lösbar ist, sondern bewältigt werden muss, d.h.anzuerkennen, dass das Virus bleibt
- an Einstellungen zu arbeiten, die es ermöglichen, die Krisenaspekte der Pandemie dadurch in das Leben zu integrieren, dass die persönlichen Werte, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu einer produktiv-gelassenen Lebensweise mit der Lebenslage führen
- Ziel: Gestaltung der Lebenswelt mit (Gelassenheit) und auch trotz (Revolte) der Pandemie statt Lageorientierung
Die Pandemie samt ihrer Folgen wird damit in das derzeitige Leben integriert. Sie gilt nicht mehr als Sonderfall oder Ausnahme der Normalität, sondern als Teil der Realität unseres Lebens. Insofern und nur so kann das Chancenpotential der Unterbrechungen entdeckt und genutzt werden. Auf diesem Weg und nicht nur den Lockerungseskapismus wird das Leben wieder zur Normalität.