Unterbrechung

Auch geplante Unterbrechungen unterbrechen. Angesichts einer Operation am rechten Daumengelenk Ende Mai plante ich eine kurze Unterbrechung meines Epimeleia-Blogs. Die lange Rekonvaleszenz ließ die Unterbrechung zu einer Pause anwachsen. Denn die rechte Hand war in den vergangenen acht Wochen nur bedingt brauchbar. Die schützende und stabilisierende Unterarmschiene behinderte den Alltag erheblich. Eine Erfahrung, die mich zuweilen irritierte; denn ich erlebte selbst, was ich in den letzten zwei Jahrzehnten von einem Teil meiner Patienten kannte: die Auswirkungen einer körperlichen Einschränkung. Das Leben verändert sich dadurch deutlich.

Die FFP2-Maske aufziehen, das Hörgerät rechts einsetzen oder Schuhe binden, das alles war in der ersten Zeit nicht mehr möglich: Ich musste es geduldig trainieren oder Alternativen schaffen. Mehr betraf es mich, nicht mehr alles aus eigener Kraft machen zu können. Bei einem Restaurantbesuch, gerade war es durch die Lockerung der Coronas-Regeln wieder möglich, wurde mir bewusst: was ich bestellt hatte, konnte ich nicht zerkleinern. Es ist gar nicht so einfach, die Partnerin vor den Augen anderer zu bitten, das Essen klein zu schneiden. In meinen palliativ-psychologischen Büchern schreibe ich davon, dass wir meist nicht hilflos sind, auch wenn wir uns so fühlen. Vielmehr gehe es darum, die persönliche Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen und jemand um Hilfe zu bitten. Nach anfänglichen Schammomenten des „Das kannst du nicht mehr“ fühlte es sich gut für mich an, dass meine Partnerin auf ihre Weise Sorge für mein Leben trug. Es ist mit der Zeit eine gute Erfahrung, sich nicht mehr selbst für alles verantwortlich zu halten.

Die Sorge anderer zu zu lassen, lässt Lebensgemeinschaft entstehen. Das kann Neues ins Leben bringen, wenn die Sorge- und Verantwortungsroutinen dadurch unterbrochen werden, dass ich jemand anderen bitte, etwas anstelle meiner zu tun. Auf seine Weise. Wie ungewohnt das für mich ist, daran dachte ich im Restaurant, als ich in bedächtiger Linkshändigkeit das liebevoll zurechtgeschnittene Essen verzehrte.

Allmählich lernte ich, linkshändig in Büchern Wichtiges zu unterstreichen oder heraus zu schreiben. Ich lernte, allein mit der linken Hand am Computer zu arbeiten. Ich begann mich zu fragen, was muss erledigt sein und was kann liegen bleiben. Die Prioritäten zeichneten sich deutlicher ab als in meinem sonstigen Alltag. Ich stellte fest, dass sich jener oft in einem steten Erledigungsfluss vollzieht. Die Aufgaben folgen aufeinander und, wenn eine Lücke entsteht, dann fülle ich sie rasch mit etwas, das dann eben auch erledigt ist. Ein zufriedener Blick auf das, was ich alles abschließen konnte, war selten. Wie oft betonte ich in Seminaren zur Führungsentwicklung die Wichtigkeit der bewussten Wahrnehmung, dass ein Projekt abgeschlossen und eine Aufgabe erledigt ist. „Gönnen Sie sich diesen Blick. Er ist einer der wertvollsten Unterbrechungen Ihres Tuns.“ Das Leben mit meinem Handicap zeigte mir, dass ich das selber viel zu selten praktiziere. 

Genau das bereicherte die Rekonvaleszenz: die kleinen Feiern, wenn ich etwas beendet hatte. Mit einiger Mühe war der Foliensatz für ein Online-Seminar neu bearbeitet. Der gemeinsame Espresso mit meiner Partnerin, das besondere Essen, wenn ich endlich ein Manuskript zu Ende geschrieben hatte, das Glas Wein, als ich ein umfangreich-gewichtiges Buch im Leseprogramm im Rahmen meiner Forschungsarbeit ganz durchstudiert hatte, wurden zu liebevollen Gelegenheiten, das Getane noch einmal zu würdigen und das Vollbrachte zu genießen. Diese Momente des bewussten Abschließens und der kleinen Feier lassen mich jetzt, da mein operierter Daumen zunehmend alltagsbelastbar wird, auf die vergangenen Monate als eine bereichernde Zeit blicken. Mit zum Kostbarsten darin gehören die Phasen reinen Nachdenkens, der Reflexion – ungestört durch Termine, Mails, WhatsApps. Allerdings forderte mich auch immer wieder die Unruhe heraus, wenn die Zeit allzu einförmig verging. 

Meinen Blog legte ich einfach beiseite. Ich hatte kein Bedürfnis, mich mit zu teilen. Es tat so gut, die Gedanken und Einsichten bei mir zu behalten, sie in dem Assoziationsfeld reifen zu lassen, das durch die Lektüre präsent war. So konnte ich in den letzten beiden Wochen, als alles schon ein wenig leichter ging, mit meinem Co-Autor einen uns wichtigen Text abschließen und beim Herausgeber einer Zeitschrift einreichen. Der Beitrag atmet die Ruhe, die Konzentration und die Intensität der Gedankenarbeit, der kleinen Feiern, der Unterbrechung des Alltagsflusses. 

Derzeit kehrt der Alltag mit zunehmender Heilung wieder zurück. Mit diesem Einblick in die vergangene Rekonvaleszenz nehme ich nun auch meinen Blog wieder auf. Ich werde wieder regelmäßig Beiträge einstellen. Was ich mir vornehme, ich will die so wohltuenden kleinen Unterbrechungen beibehalten und pflegen. Sie verhindern die Verstetigung des Arbeitsflusses. Sie öffnen Räume für anderes als das Alltägliche, die Routine und das Gewohnte. Sie lassen Arbeit einfach Arbeit sein. Ich will mir die Denk- und Erlebensräume erhalten, in denen sich das Innovative ebenso wie das Konstitutive und Synthetische entwickeln kann. Auf die feierlichen Augenblicke, die bewusst machen, dass Arbeit ebenso Leben ist wie freie Zeit, freue ich mich. Nicht zuletzt, weil ich mir die Freiheit nehme, Zeit zu haben. Ob es gelingen wird? Sie werden darüber lesen.

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