Das Afghanistannarrativ, das sich in zwanzig Jahren NATO-Präsenz bildete, ist durch die Bilder aus Kabul paralysiert. Ich meine nicht nur die Bilder der panisch flüchtenden Menschen am Flughafen. Ich sehe auch die Bilder der Taliban, die ihre Existenz vor allem durch das Sturmgewehr begründen. Das Sturmgewehr jedes einzelnen Taliban stellt die Lücken der politischen Erzählungen des sog. Westens über Afghanistan überdeutlich aus. Jetzt blicken wir vor allem auf die Flüchtenden; das ist die ethische Aufgabe der Stunde. Ein zweiter Blick sollte dem gehören, wovor sie fliehen, der Omnipräsenz der Männer mit den Sturmgewehren. Dass sie innerhalb eines Monates DAS Bild Afghanistans geworden sind, lässt sich im Grunde nur dadurch erklären, dass sie in der politischen Erzählung der vergangenen zwanzig Jahren, die sich die Politik zu Afghanistan zurecht fabulierte, keinen semantischen Platzhalter mehr hatten.
Jetzt ist das Sturmgewehr als Exekutionsinstrument der Sharia zurückgekehrt. Wenn der in Koran, der Sunna, dem rationalisierbaren Verfahren des Analogieschlusses verankerte Rechtsprozess der Sharia (Ilmihal, 1998, S. 39) für die Durchsetzung das Sturmgewehr braucht, dann haben die Taliban den Islam samt der Sharia aufgehoben. Das Bild vom Mann mit Sturmgewehr überholt jedes noch so vernünftig scheinende Wort. Ja, das Sturmgewehr als nonverbales Sprachzeichen, entwertet das gesprochene Wort. Das Sturmgewehr spricht für die faktische Gewalt, die sich jederzeit gegen das Leben richten kann, gegen das der anderen wie gegen das eigene. Es ersetzt das Wort des Koran durch die bedrohende, mechanische Gewalt der Waffe. Das Sturmgewehr der Taliban hebt das sorgende, dem Menschen nachgehende und ihm Grenzen setzende Wort des Koran auf. Es bedroht die islamische Theologie des „ungeschaffenen Wortes Gottes“ (Cook, 2002, S. 139), das bei aller Verletzlichkeit sicher nicht das Sturmgewehr zu seinem Schutz intendiert.
Auf welcher juridischen und ethischen Grundlage lässt sich mit Politikvertretern sprechen, deren systemerhaltender Faktor die Angst, deren Symbol das allgegenwärtige Sturmgewehr ist? Das ist die Frage, die das politische Kalkül Europas und Amerikas begleiten muss. Ethisch begleiten muss.
Afghanistan scheint in seiner nationalen Kultur während der vergangenen zwanzig Jahre für uns nicht verstehbarer, nicht einmal nachvollziehbarer geworden zu sein. Möglicherweise hat der NATO-Einsatz samt der Demokratisierungsidee die Fremdheit der kulturellen Gruppen gerade IN Afghanistan noch gefördert. Vielleicht ist es nicht nur, wie in unseren Medien zuletzt zu lesen und zu hören ist, der geringe Sold der afghanischen Armee, der sie in ihrer Aktivität hinderte. Kann es sein, dass die innere Fremdheit IM Land so groß wurde, dass es schlicht kein sinnvolles Motiv für den Einsatz der Streitkräfte gegen die Taliban gab? Kann es sein, dass die Angst, die die Taliban verbreiten, von vielen, längst nicht allen Afghanen in Kauf genommen wird, weil durch sie ein Gefühl von Verbundenheit in etwas Gemeinsamem aufkommt, und wenn es die drohende Angst um’s Leben ist? Ist es das verzweifelte Bild einer existenziellen Verdrossenheit auf das, was die westliche Politik wohlmeinend, aber zutiefst missverstehend der afghanischen Bevölkerung als Staats- und Gesellschaftsform nahebringen wollte? Vielleicht hätte es genügt, die Rahmenbedingungen, vielleicht sogar nur die Räume humanitär zu sichern, in denen die Afghanen selbstbestimmt ihre gesellschaftliche, staatliche und den nationalen Kulturen angemessene Lebenswelt hätten entwickeln können – und so für die Taliban wahrscheinlich viel schwerer zurück gewinnbar geworden wären? Jetzt müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass die einen fliehen und die anderen sich arrangieren werden um eines Zieles wegen: um zu überleben.
- Cook, M. (2002): Der Koran. Eine kurze Einführung. Stuttgart (Reclam)
- Arikan, H. (1998): Ilmihal. Illustriertes Gebetslehrbuch. Köln (Verband der islamischen Kulturzentren e.V.)