„Nur eine Politik kann vernünftig sein – nicht, was sie erreichen will; das kann nur gut oder böse sein und liegt außerhalb jeder Wissenschaft.“ (Marcuse, 1975, S. 194)
Ludwig Marcuses (nicht Herbert Marcuses, des kritischen Theoretikers) These kann die Qual der kommenden Wahl erleichtern. Sie enthält eine erhellende Unterscheidung. Sie spricht von der Politik als einem fakultativ vernünftigen Prozess, der wissenschaftlich rekonstruierbar ist. Das angezielte Ergebnis der Politik aber entzieht sich der Wissenschaft und betrifft eine andere Dimension des Lebens: die Moral. Werden Ziele und Ergebnisse von Politik moralisch verstanden, erheben sie eine Geltung, die den Einzelnen, und durch ihn vermittelt, die Gesellschaft und die Welt als Lebensraum betrifft. Die Verhältnisse, die durch Politik entstehen, unterliegen noch einmal der Entscheidung des Einzelnen. Er kann die angezielten Ergebnisse sinnvoll und moralisch verantwortbar affirmieren und umsetzen; dann sind sie gut. Er kann sie sinnwidrig aneignen und die persönliche Verantwortung ignorieren, weil er etwa nur auf seinen augenblicklichen Vorteil sieht und ihn eben nicht in Beziehung zu Mitmenschen, Gesellschaft und Lebenswelt setzt. Dann sind die Ergebnisse böse. Die Einführung der Moralität der Ergebnisse macht die Möglichkeiten und Grenzen der Politik sichtbar.
Politik erscheint im Sinne der These Marcuses als rationaler Prozess, der zu Ergebnissen führt, die der Bewertung durch den einzelnen Menschen anheimgestellt sind. Auftrag der Politik ist es also, den Weg zu Ergebnissen so zu organisieren, dass er beschreibbar, nachvollziehbar und aus Prinzipien heraus verstehbar ist. Insofern ist Politik tatsächlich die Kunst des Machbaren. Sie entwickelt mit Sachkenntnis, kritischer Reflexion und argumentativer Plausibilität das, was als jeweils machbar debattiert werden kann. Es ist die Aufgabe der Politik, Entscheidungslagen vorzubereiten und den Raum für Entscheidungen zu sichern. Was sie nicht beeinflussen kann, und das ist die Grenze der Politik, wie sich die einzelnen Bürger oder deren Stellvertreter im Parlament entscheiden. Ob das Gute oder das Böse in der Entscheidungslage gewählt wird, das kann Politik letztlich nicht beeinflussen. Oder anders: Die Verantwortung der Politik besteht darin, Entscheidungslagen einsichtig, sachgemäß und in einem rational nachvollziehbaren Prozess darzustellen. Was die Exekutive daraus macht, kann allenfalls wieder Gegenstand des politischen Prozesses werden. Die moralische Verantwortung für die Umsetzung bleibt bei denen, die tatsächlich entscheiden und handeln.
Damit wird das politische Dilemma der parlamentarischen Demokratie deutlich: Wir Bürgerinnen und Bürger wählen unsere politische Vertretung in das Parlament. Parlamentarier sind also diejenigen, die in Stellvertretung die Ergebnisse der Politik umsetzen. Die Mitglieder der Regierung sind die Politiker, die Entscheidungslagen organisieren. Immer wieder vermischen sich die parlamentarischen mit den politischen Aufgaben – dann wird die Trennlinie der Verantwortlichkeit unscharf.
Wenn ich also wähle, bestimme ich die parlamentarische Stellvertretung und dadurch vermittelt die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Regierung. Mein Wählen bestimmt mit, wer für mich und in meinem Interesse entscheidet. Ob also die angezielten Ergebnisse der Politik gut oder böse sind. Mein Wählen beeinflusst auch, wer die Politiker sein werden, die die Entscheidungslagen organisieren. Denn die Regierung wird durch die parlamentarische Zustimmung zu einer Kanzlerin oder einem Kanzler in ihrer Ausrichtung festgelegt. Ich als Wählerin oder Wähler trage eine doppelte Verantwortung: einerseits durch meine Stimme die Mehrheitsverhältnisse im Parlament so zu beeinflussen, dass die Ergebnisse der Politik möglichst moralisch verantwortbar sind; andererseits dafür Mitsorge zu tragen, dass geeignete Politiker die Entscheidungslagen, die zu Ergebnissen führen, möglichst sachgemäß organisieren.
Das zugrundegelegt, verbietet sich die Wahl der AfD oder anderer extremisierender Parteien oder Parlamentarier. Sie werden die Entscheidungslagen nicht in der beschriebenen, rationalen Weise organisieren. Ideologie steht in einem ursprünglichen Widerspruch zu wissenschaftlicher Rationalität. Insofern ist eine echte Entscheidung nicht möglich. Es wird mir also – erstens – die Mühe zugemutet, die Wahl- und Parteiprogramme dahingehend zu prüfen, welche Entscheidungslagen sie für die Zukunft erkennen. Zweitens ist zu prüfen, welche rationalen Grundlinien politischer Organisation für diese Entscheidungslagen in den Programmen enthalten sind. Drittens, und so kommen die Wahlkandidatinnen und -kandidaten ins Spiel, werde ich überlegen, wo ich die Passung zwischen Programm und Ergebnisinteresse am deutlichsten sehen kann und wem ich die Vertretung dieser Passung verantwortlich zutraue, so dass die Ergebnisse der parlamentarischen Entscheidungen meiner Intention entsprechen. Dann habe ich moralisch verantwortlich gewählt.
Wahl freilich schafft lediglich wahrscheinliche Mehrheiten und keine garantierten Verhältnisse. Das ist die Freiheit und das Risiko in einer parlamentarischen Demokratie. Immer noch halte ich jene für die beste Möglichkeit, die Ergebnisse mitzuentscheiden und mitzuverantworten, die ich in meinem gesellschaftlichen und persönlichen Leben so umsetze, dass möglichst das Gute, das nicht immer das Beste sein muss, herauskommt.
Marcuse, L. (1975): Nachruf auf Ludwig Marcuse. Zürich (Diogenes)