Sonntags. Am Nachmittag. Das Geräusch der sich aufheizenden Espressomaschine im Hintergrund. Durchs Fenster fällt späte Sonne ins Zimmer. Die Ruhe, draußen vor der Tür, wird nur unterbrochen durch den Stundenschlag der Uhr im Kirchturm. Eine Idylle.
Eine Idylle? Gerade frage ich mich, was mich unruhig macht. Was die Sonntagsruhe unterbricht. Warum ich die Ruhe um mich herum nicht auf sich beruhen lassen und mich darauf einlassen kann. Mir fällt Augustinus’ (354 – 430) „cor inquietum“, das unruhige Herz, ein. Mir fällt, ist es eine Antwort auf Augustinus?, die stoische „tranquillitas animi“, die Seelenruhe, ein, die Meister Eckart (ca. 1260 – 1327) zur Gelassenheit weiterdachte. „Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du dich findest, da laß von dir ab; das ist das Allerbeste.“ (1979, S. 56) Der Philosoph R. Konersmann macht hier auf den Unterschied zwischen stoischer Seelenruhe und eckart’scher Gelassenheit aufmerksam: „Die Seelenruhe fordert und ermöglicht Weltzugewandtheit, die Gelassenheit verlangt und begründet Weltverweigerung.“ (2015, S. 213) Die philosophische Unterscheidung hilft mir weiter.
In den letzten Wochen war es schwer, der Welt zu entkommen: die Naturkatastrophen wie die Flut im Westen Deutschlands, die Brände in den Mittelmeerländern, die Afghanistankatastrophen, die wieder um sich greifende Coronapandemie, der Wahlkampf. Ich weiß nicht, ob die Liste der Welterfordernisse vollständig ist. Wen und was wählen, beschäftigte mich sehr. Welches Wahlprogramm bietet für mein Verständnis eine schlüssige Schnittmenge politischer Vorschläge und Konzepte an, um zu gestalten, was auf uns zukommt? Ist mein Nachlesen, Zuhören, Abwägen Weltzugewandtheit? Wenn der Prozess der persönlichen Meinungsbildung mit Zuwendung zur Welt verbunden ist, dann müsste er – vorausgesetzt die Deutung der stoischen Seelenruhe durch Konersmann stimmt – allmählich Seele und Geist beruhigen. Zumal, wenn der Schlusspunkt oder genauer das Wahlkreuz gesetzt ist: Selbstberuhigung durch umfassende Information, gründliche Reflexion und begründete Entscheidung. Ich nehme meine Unruhe wahr. Spüre, wie meine Aufmerksamkeit dadurch angezogen wird, was gerade in der Welt passiert oder besser: was ich in den Berichten darüber finde. Ob meine Wahlentscheidung richtig ist?
Also doch Weltverweigerung und damit Gelassenheit?
Was erzählt Meister Eckart in seinen „Reden der Unterweisung“ zur Gelassenheit, die auf „abendliche Lehrgespräche“ zurückgehen, wie er einleitend schreibt (1979, S. 53)? Zum einen rät Eckart, vom „Eigenwillen“ abzusehen: „Darum fang zuerst bei dir selbst an und laß dich!“ (1979, S. 55) Wer in der Welt Frieden sucht, ob in der Nachdenklichkeit, im Handeln oder in seinen Einstellungen zur Welt, bleibt in der Weltbeziehung, die sein Ich bindet. (1979, S. 56) Sich lassen heißt also eine Perspektive finden, die nicht ichhaft ist. Auf meinen Meinungsbildungsprozess angewendet, bedeutet das: Die Wahlprogramme und politischen Äußerungen nicht unter der Perspektive erwägen, was ich für richtig halte, was mich beruhigen würde. Es bedeutet die Betroffenenperspektive einnehmen: Was ist für die Welt wichtig? Für die Interessen der Afghanen? Für das Klima? Für die Menschen in den Flutgebieten? Gehe ich in dieser Perspektive auf, dann wird mir auf einmal die Begrenztheit der Informationen, meines Wissens- und Verständnishorizontes klar. Dann beginne ich, nach anderen Zugängen zu den Themen zu suchen: literarischen, poetischen, künstlerischen, durch die ich von meinem Blick eher lassen kann und von den Betroffenen in den Blick genommen werde. Dabei begegne ich der Begrenztheit, die zu mir als Mensch gehört.
Meister Eckart rät angesichts dieser Begrenztheit zur puren Gegenwärtigkeit: „Nicht also: ‚Ich möchte nächstens‘, das wäre noch erst zukünftig, sondern: ‚Ich will, daß es jetzo so sei!‘“ (1979, S. 65) Der Wille bezieht sich also ganz auf die Gegenwart. „Ich will“ heißt, ich begebe mich in den Augenblick und in das, was darin ist. Ging es vorher um die kognitive Dimension der Betroffenenperspektive, so wendet sich Eckart jetzt der voluntativen Dimension zu: „Dann ist der Wille vollkommen und recht, wenn er ohne jede Ich-Bindung ist“ (1979, S. 66). R. Konersmann sieht darin die „Opferung“ der Selbstbehauptung (2015, S. 213). Das verfehlt, was Eckart meint: Die Betroffenenperspektive ist nicht Opferung, sondern Aufgeben in einer doppelten Bedeutung – und bezieht sich nicht auf die Selbstbehauptung, sondern auf die „Ich-Bindung“.
Aufgeben verlässt im Kontext der Betroffenenperspektive den Bedeutungsraum der Metaphysik. Eckart sieht im Aufgeben der Ich-Bindung die „Entäußerung“ (1979, S. 66) im Sinn einer Ent-Bindung des Willens von den subjektiven Perspektiven. Er wird in dieser Entbindung seiner Aufgabe gerecht, sich auf das einzustellen, was der gegenwärtige Augenblick ihm aufgibt. Er gibt die Anspruchshaltung auf und lässt sich vom Gehalt des Augenblicks ansprechen. Aufgeben bedeutet demnach Entbindung vom Ich und zugleich, was gegenwärtig ist, als Aufgabe zu erkennen, anzuerkennen und sich zu entschieden. Dadurch befreit sich der Mensch von der Macht der Dinge, weil Aufgaben getan und beendet werden – und entbindet sich vom ichhaften Willen, was die Anhaftung an Aufgaben über deren Gegenwärtigkeit hinaus verhindert. Sich den Aufgaben um ihrer selbst und in Gegenwärtigkeit stellen und nicht, weil ich es allen recht machen will, weil ich geliebt werden will, weil ich sie perfekt ausführen will, das erschließt sich als Gelassenheit im Sinne Meister Eckarts.
Meister Eckart zufolge gründet die Gelassenheit darin, dass „das Herz Gottes voll“ ist (1979, S. 62). Wessen „Herz Gottes voll“ ist, läuft weniger Gefahr, sich an die Dinge und das Kreatürliche zu binden. Diese theologische Dimension seiner Mystik sei redlichkeitshalber vermerkt. Eckart überträgt die Gelassenheit, die er in der Willensentbindung vom Ich entdeckte, auf den Gottesglauben, den er nicht als Glauben an „einen gedachten Gott“, sondern als Erfülltsein vom „wesenhaften Gott“ (1979, S. 60) erzählt.
Was ist gewonnen? Das Nachlesen forderte ein Nachdenken, um den Blog niederzuschreiben. Währenddessen kam ich zur Ruhe; denn ich ließ mich auf das ein, was mir in diesen Stunden zur Aufgabe wurde. Die Betroffenenperspektive einnehmen, also offen zu sein für das, was gerade ist, zeigt mir meine Unruhe. Mich bewegen die Informationen, Berichte, die Frage, wen und was ich angesichts all dessen wählen soll. Zu dieser Gegenwart gehört die Unruhe. Und es sind die Einfälle der „tranquillitas animi“ und der Gelassenheit da. Indem ich mich auf alles einlasse, die Unruhe, die Seelenruhe und die Gelassenheit, konnte ich die Betroffenenperspektive einnehmen, mich vom Ichzentrierten entbinden. Nicht die Informationen, nicht die Frage nach der Wahl verschwinden, sondern die damit verbundene Unruhe. In Gelassenheit begegne ich dem Abend dieses Tages.
- Augustinus, A. (1980): Confessiones. Bekenntnisse. München (Kösel)
- Meister Eckart (1979): Deutsche Predigten und Traktate (ed. Quint, J.). München (Diogenes)
- Konersmann, R. (4. Auf. 2015): Die Unruhe der Welt. Frankfurt (Fischer)