Der Dalai Lama erzählt in einem Interview ein Gleichnis:
„Ohne Wasser kein Leben. Der Tee, den wir trinken, besteht zum größten Teil aus Wasser, aber er enthält noch weitere Zutaten – Teeblätter, Gewürze, vielleicht ein wenig Zucker und – in Tibet jedenfalls – auch eine Prise Salz, und das macht ihn gehaltvoller, nachhaltiger und zu etwas, was wir jeden Tag haben möchten. Aber unabhängig davon, wie der Tee zubereitet wird: Sein Hauptbestandteil ist immer Wasser. Wir können ohne Tee leben, aber nicht ohne Wasser. Und genau so werden wir zwar ohne Religion geboren, aber nicht ohne das Grundbedürfnis nach Mitgefühl – und auch nicht ohne Wasser.“ (Dalai Lama & Alt, F. (2016), S. 16 f.)
Papst Franziskus versucht Tee ohne Wasser zu kochen. Die Entscheidung zum Kölner Kardinal, Erzbischof Rainer Wölki, wie die Entscheidung zum Hamburger Erzbischof Stefan Heße wurden unter Missachtung des „Grundbedürfnisses nach Mitgefühl“ getroffen. Vom Papst werden im laufenden Missbrauchsprozess höchst verantwortliche Funktionäre der römisch-katholischen Kirche im Amt gehalten. Herr Wölki und Herr Heße bekleiden als Funktionäre im System Kirche Schlüsselpositionen. Sie stehen – daran sollte sich der Vatikan und die ihm hörigen Theologen unbedingt erinnern – wie ihre Vorgänger auf den jeweiligen Bischofsstühlen in der apostolischen Nachfolge (Sukzession). Jene vermittelt nicht nur die machtvolle Freiheit des apostolischen Amtes, sondern sie vermittelt auch dessen Verantwortung. Diese Verantwortung wird vom derzeitigen Papst fehlbar und defizitär wahrgenommen. Das vermeintlich entlastende Argument des Papstes, dass der einzelne Funktionär durch Systemdynamik fehlgeleitet oder vereinnahmt worden und ihm deshalb nicht die ganze Verantwortung im Missbrauchsprozess zuzuschreiben sei, geht vom Prinzip der Kollektivschuld aus. Der Schuldzusammenhang des Kollektivs entlastet den Einzelnen vielleicht von der Gesamtschuld. Er entlastet den Einzelnen nicht von seiner persönlichen Verantwortung, schon gar nicht, wenn er ein Schlüsselfunktionär des Systems ist und einen großen Freiraum hat. Mag sein, dass der Papst ihnen nicht mehr die Freiheit des Christenmenschen (Martin Luther) zutraut und den beiden deswegen Verantwortung abnimmt, um sie wenigstens als Funktionäre zu erhalten.
Herr Heße und Herr Wölki haben kraft ihres Amtes die unbedingte, aus ihrer Bischofsweihe resultierende Verpflichtung, im Missbrauchsprozess die Klärung weiter voran zu treiben, weil durch Funktionäre und Mitarbeiter der römischen Kirche an Menschen schwerste Verbrechen verübt wurden. Beide sind diesem apostolischen Auftrag äußerst fehlbar ausgewichen. Insofern sind sie keine „Würden“-Träger mehr. Ihnen gilt die Würde der Menschen, an denen die Verbrechen verübt wurden, weniger als die Würde ihres Amtes. Ebendiese Haltung wurde jetzt durch die beiden päpstlichen Entscheidungen sanktioniert. Dabei haben sie auch die Würde des Amtes längst mit Füßen getreten.
Teeblätter und Teegewürze ohne Wasser behalten ihr Aroma für sich. Sie bleiben krümelig, in sich gerollt, verschlossen. Vertreter der Religion wie die der römisch-katholischen Kirche bleiben ohne Leben und Ethos trockene, verstaubte, unberührte und unberührbare, in sich geschlossene Funktionäre, interessiert vor allem an der Erhaltung ihres Amtes. So wirkt Herr Wölki schon seit langem. Religion bleibt einfach nur spröde Zugabe, wenn sie sich nicht auf das Wasser des Lebens einlässt. Sicher, die Teeblätter und die Teegewürze duften vielleicht ein wenig. Doch aus den Teeblättern entsteht kein aromatischer Tee, wenn sie nicht mit Wasser aufgebrüht werden. Und der Tee wird gerade wegen seines Aromas geschätzt als „etwas, was wir jeden Tag haben möchten“. Aus der katholischen Kirche samt ihren Funktionären und Ritualen entsteht keine lebendige Religion, wenn sie sich nicht auf das Leben einlässt samt seinen Freiheiten und Verantwortlichkeiten, seinem Entscheidungscharakter – und damit seiner ethischen Dimension. Eine katholische Systemreligion will keiner täglich haben. Sie ist schlicht unnötig für das Leben. Denn sie unterstützt die Würde der Lebenden nicht, sondern behindert sie.
Einer viel zu hohen Anzahl von gut glaubenden Menschen wurde durch katholische Würdenträger das höchstpersönliche Wissen um die persönliche Menschenwürde abgeschnitten. Dieselben Würdenträger sind nicht daran interessiert, die Betroffenen dabei zu unterstützen, sich wieder die Zugänge zu der schwerst verletzten Würde zu erarbeiten. Sie lassen die Betroffenen mit deren psychischen und existenziellen Verletzungen stehen. Deshalb ist ein Zug des Gleichnisses des Dalai Lama sehr wichtig: „Wir können ohne Tee leben, nicht ohne Wasser.“ Das Wasser, das Ethos, das von der persönlichen Würde lebt, ist kräftig genug für einen Weg ohne Kirche, ohne Religion. Die katholische Kirche führt sich selbst immer mehr ad absurdum, weil sie einem religiösen Darwinismus huldigt, der unverhohlenen Selbsterhaltung in Amt und Ritual. Dabei können Menschen lästig im Weg stehen, egal wie loyal sie sich zur Kirche verhalten. Das Schlimme daran ist, dass das System Kirche die dabei entstehenden Verletzungen so vieler Menschen in Kauf nimmt. Für den Papst und eine Reihe von Bischöfen scheinen die vom Missbrauch Betroffenen nichts weiter als Kollateralschäden zu sein. Eine Kirche, die Moral nicht mehr auf sich selbst bezieht, braucht niemand. Denn es lebt sich mit reinem Wasser und dem Ethos des Mitfühlens sinnvoller, auch wenn einem zuweilen der gewohnte Tee fehlt.
Dalai Lama & Alt, F. (12. Aufl. 2016): Ethik ist wichtiger als Religion. Wals (Benevento Publishing)