Am 09. Oktober war Welthospiztag. Gut zwanzig Jahre bin ich in der Hospizbewegung aktiv. Ich habe Sterbende sowohl ehrenamtlich wie auch psychotherapeutisch begleitet. Das sind berührende Erlebnisse. Als ein besonderes Privileg empfinde ich es, Menschen durch die letzten Wochen oder Tage des Lebens begleiten zu dürfen, durch die reichen Stunden voller Leben und die düsteren Zeiten des Leidens am hohen Alter und an der Symptomlast schwerster Krankheit. Und durch die vielen Zwischenzeiten, in denen das Leben auf den Tod hin zum Alltag wird. Die Individualität des Menschen drückt sich auch darin aus, wie er sein letztes Leben lebt. Dazu hielt ich in Brixen/IT als Gast der Hospizbewegung in Südtirol im Rahmen der Fachtagung „Würde bis zuletzt“ den Vortrag samt dem anschließenden Workshop: „Sinn im letzten Leben“.
Über die Trauerarbeit kam ich mit der Hospizbewegung in Berührung. Viele Einzelgespräche mit Trauernden, Familiengespräche im Stationären Hospiz und in der ambulanten Begleitung und die langjährige Co-Moderation einer Trauergruppe für Angehörige um Suizid (AGUS e.V.) betteten meine Erfahrungen mit Sterbenden in den Lebenszusammenhang ein, den jene verlassen und zurücklassen. Sterben ist der Abschied vom Leben, von den persönlichen Lebensmöglichkeiten und der gelebten Biografie. Das ist auch ein Abschied aus den Bindungen, den beiläufigen, den freundschaftlichen, den familiären, den lebenstragenden und den intimen. Jeder Sterbende, jede Sterbende weiß, dass sie, dass er Menschen hier im Leben lässt. Die „Hiergebliebenen“, wie sie auch genannt werden, leben mit den Hinterlassenschaften, den Erinnerungen und mit der Zeit auch dem Verblassen der Bilder vom Verstorbenen. Trauer ist der Anpassungsvorgang an das Leben ohne den Gestorbenen.
In Deutschland lautete das Motto des diesjährigen Welthospiztages: „Leben! Bis zum Schluss.“ Ein sehr präsentes Thema ist dabei die Frage nach dem „Assistierten Suizid“. Die deutschen Hospizverbände wollen zeigen, „was Hospizarbeit und Palliativversorgung als gewichtige Alternative zur Suizidbeihilfe zu leisten vermögen“ (https://www.dhpv.de/aktuelles_welthospiztag.html; letzter Zugriff am 08.10.2021). Unbestritten: Moderne Hospizarbeit und Palliative Versorgung, die bestenfalls ineinandergreifen, können das letzte Leben für die Betroffenen und Beteiligten entlasten. Dennoch bleibt der wiederkehrende Wunsch Sterbender, dem Leben selbst ein Ende setzen zu wollen. Nicht immer, weil die Symptomlast völlig überfordert, sondern auch, weil Sterbende eben dieses Leben in seinen oft gravierenden Veränderungen, in seiner massiven Herausforderung an das Selbstbild, in seiner radikalen Beschränkung der personalen Möglichkeiten nicht als ihr Leben akzeptieren wollen. Nicht oft, aber eben immer wieder war genau dieses Akzeptanzproblem Thema meiner psychotherapeutischen Arbeit mit sterbenden Persönlichkeiten. Eben das wird im heftigen, emotional geführten Widerstand der Hospizverände gegen die Möglichkeit des Assistierten Suizides in Deutschland übersehen: Es ist nicht DER Mensch, der leidet und stirbt. Es ist die konkrete Persönlichkeit mit einer individuellen Lebensgeschichte, mit selbstbestimmten Einstellungen zum Leben, mit der Autonomie des individuellen Sinns der Sterbesituation, die mit der Akzeptanz des Lebensabschiedes ringt. Es war für mich in den intensiven, vertraulichen Gesprächen nachvollziehbar, dass für Einzelne die palliative Entlastung die Anpassung an die todesbedrohte Lebenslage nicht verstärkt. Auch die Reflexion des Verlustes, den sie den mit ihnen verbundenen Menschen durch einen Suizid bewusst zufügen, konnte die Entschlossenheit kaum ändern. Die Sinnfrage gegenüber der Lebenssituation blieb entschieden: Der Sinn wird darin gesehen, sich bewusst für den selbst herbeigeführten Tod zu entscheiden und damit ein Leben und Personsein zu beenden, das als sinnwidrig empfunden und angesehen wird. Das Leiden am letzten Leben wird gerade dadurch aufrecht erhalten, dass es nicht beendet werden durfte, sondern auch noch mit palliativer Therapie weitergeführt werden sollte. Mit dem Urteil des Bundesverfassungs-gerichts vom letzten Jahr ist Menschen das Recht auf einen würdigen, auch selbstherbeigeführten Tod ausdrücklich zugesprochen.
Wenn die Hospizbewegung ihrem zentralen Grundsatz folgt, dass das Sterben zum Leben gehört, dann sagt sie damit, dass zum Recht auf das Leben auch das Recht auf das Sterben gehört. Wie das Sterben in Würde gestaltet werden kann, wenn sich ein Einzelner grundsätzlich und intensiv damit auseinandergesetzt hat, dass weiteres Leiden die Würde seiner Person und des Lebens zu vernichten droht, sehe ich sehr wohl als eine hospizliche Aufgabe.
In Deutschland beendeten im letzten Jahr der voraussichtlichen Statistik zufolge 8565 Menschen ihr Leben durch Selbsttötung (https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/07/PD21_327_23211.html, Zugriff am 10.10.2021). Gewaltsam und sicher meist nicht unter würdigen Umständen. Sterbewillige im letzten Leben sind dazu nicht mehr in der Lage. Wenn die Hospizbewegung daran interessiert ist, Sterbenden einen würdevollen Lebensabschied zu ermöglichen, dann gehört – aus meiner Sicht – auch die würdevolle Begleitung beim Assistierten Suizid dazu (Riedel, 2021 a).
Die Hospizverbände stellen in ihrer Argumentation häufig die Tötung auf Verlangen und den Assistierten Suizid neben einander. Die ethische Differenz zwischen der Suizidbeihilfe und der Tötung auf Verlangen besteht genau darin, dass die Tathoheit beim Assistierten Suizid beim suizidbereiten Sterbenden liegt. Die Beihilfe besteht darin, dass die Verschreibung des Medikaments Aufgabe des Arztes ist. Die Tötung selbst bleibt beim Betroffenen. Sie ist seine selbstbestimmte Entscheidung und ein autonomer Akt. In Würde kann der Suizid vorbereitet werden, wenn die oder der suizidale Einzelne den beschränkungsfreien und wertungsoffenen sozialen Raum hat, seine Entscheidung zu prüfen. Er kann, wenn sie, er der Entscheidung sicher ist, bis in den Vollzug des Freitodes durch Menschen begleitet werden, die sich das zutrauen. Das können Menschen aus dem sozialen Nahfeld sein, HospizbegleiterInnen und vor allem psychosoziale Fachkräfte, die umsorgende Unterstützung aller anbieten. So bleibt auch dieses Sterben würdevoll – bis zum Schluß!
Die militant vorgetragene Haltung der Hospizverbände gegen den Assistierten Suizid kann ich nicht nachvollziehen, vor allem nicht auf der Grundlage meiner psychosozialen Fachlichkeit und meiner Erfahrungen mit Sterbenden. Leider drückt sich darin auch etwas aus, was ich in den letzten Jahren zunehmend beobachtete: die Haltung eines Besserwissens, wie richtiges Sterben geht. Sie ist bei immer mehr Hospizbegleitenden, bei Ärzten, auch bei Pflegenden anzutreffen. Wir dürfen, wenn wir hospizlich begleiten und umsorgen wollen, einer sterbenden Persönlichkeit alles anbieten, was in unserer Kompetenz liegt. Was sie für sich und das individuelle Leben braucht, bestimmt sie selbst (Riedel, 2021 b,). Darin besteht Lebensführung bis zum letzten Atemzug. Wer hospizlich tätig ist, der ermöglicht und unterstützt diese Führungsaufgabe. Wer sein Leben selbst zu Ende führen will, weil er sich der Bedrohung durch den Tod nicht mehr gewachsen fühlt, der sollte darauf zählen können, dass er dies würdevoll begleitet tun kann. Insofern erscheint nicht der Widerstand, sondern der Beistand ethisch geboten.
Riedel, C. (2021 a): Assistierter Suizid im letzten Leben und Hospizbegleitung. Ein Plädoyer für die Betroffenenperspektive im Diskurs, in: PPC 50, S. 60 – 63
Riedel, C. (2021 b): Hypercare. Zur Diätetik der Sorgeerwartung in der Hospice Care, in PPC 52, S. 16 – 19