Werkstattbericht 3

Vor genau einem Jahr veröffentlichte ich den ersten Blog. Inzwischen schreibe ich den 50. Beitrag auf meiner Seite. Zeit für einen Werkstattbericht, in dem ich zurückblicke auf das vergangene Jahr 2021. Rückblicke haben unterschiedliche Funktionen. 

  • Vergegenwärtigung: Sie gehen vergangene Ereignisse noch einmal durch, um sie zu erinnern. 
  • Revision: Sie gehen den niedergelegten Gedanken nach, um manches aus der heutigen Perspektive umzudenken.
  • Stellungnahme: Ereignisse und die Gedanken dazu werden neu, aus der jetzigen Einsicht verändert bewertet.

Wenn ich die Blogbeiträge durchgehe, dann ergeben sich drei Themenfelder. Immer wieder beschäftigte mich das politische oder gesellschaftliche Geschehen. Ob es die Aktualität der Pandemie war, politische Ereignisse in der Blickweite meiner Lebenswelt, die Bundestagswahl oder ethische Krisen waren, durch einiges wurde ich zur Stellungnahme gefordert. Dabei dienen die Beiträge oft der persönlichen Klärung. Was ins Wort gebracht ist, erhält nicht nur grammatische, sondern auch semantische Ordnung. Für mich ist das Schreiben „die allmähliche Verfertigung des Gedankens“ (H. v. Kleist). Daneben stehen Texte, die persönliche Entdeckungen zu den Feiertagen des Jahres formulieren. Auch die seltenen Texte zu literarischen und künstlerischen Entdeckungen zähle ich zu diesen Entdeckungen. Gelegentlich ließ ich an Privatem teilhaben. 

Blicke ich auf die Inhalte, dann geht es oft um die Dialektik von Freiheit und Verantwortlichkeit, die mir persönlich sehr wichtig ist. Ohne in der Verantwortung die Freiräume zu sehen und ohne die Freiheit in der Verantwortlichkeit zu begrenzen, gerät das Leben und seine Welt aus den Fugen. Es gibt Zeiten, in denen die Freiheit nahezu alles ist, in denen zugelassenes Chaos sich in Person und Leben einstellt. Es sind Zeiten der Sinnfindung und Wertorientierung, in denen das Fragezeichen, das Verlassen gewohnter Bahnen, eine gewisse Unbändigkeit in mir und meinem Leben Raum greifen. Die Verantwortlichkeit für Andere, meine Lebenswelt und mich selbst fangen diese Freiheit ein. Ich binde sie dann zurück an die Werte, die für mich wie Prinzipien sind, an die Disziplin im Denken, das den Strukturen im Chaos nachgeht oder neue Strukturen schafft. Hier übernimmt die reflektierende Lektüre eine wichtige Aufgabe. Die Gedankendisziplin wirklicher Philosophie, die ich inzwischen von philosophischer Publizistik unterscheide, oder die Information des meist psychologischen Fachbuchs regen mein eigenes Denken im Sinne der Reflexion an. Sie machen mich nachdenklich. Im Abarbeiten an fremden Gedankenordnungen und -führungen finde ich wieder zum persönlichen Maß zurück. Es besteht in einer sinnhaften Bezogenheit von Freiheit und Verantwortlichkeit aufeinander. Mein Leben wird dann wieder von mir geführt. 

Ein anderer bedeutsamer Inhalt kreist um die Endlichkeit des Menschen und seines Lebens, die Sterblichkeit, das Sterben und den Tod. Er ergibt sich aus der hospizwissenschaftlichen Forschung. Die vielen Erfahrungen mit sterbenden und trauernden Menschen in der früheren aktiven Hospizarbeit und psychotherapeutischen Praxis bilden deren faktische Grundlage. Mir wird es zunehmend wichtiger, wenn ich die Erfahrungen in die Reflexion nehme, sie psychologisch rekonstruiere oder sie psychotherapeutisch aufbereite, die Perspektive der Betroffenheit zu vermitteln. Es geht nicht um das Sterben und den Tod, die Abstraktionen vom persönlichen Sterben eines bestimmten Menschen und der Todeserfahrung einzelner, konkreter Trauernder sind. Meine Überlegungen versuchen den individuellen Lebensraum für Sterbende zu öffnen, indem ich BegleiterInnen, Pflegende und Behandelnde für die existenzielle Dimension der Umsorge zu interessieren versuche. Dabei geht es auch, altersbedingt, um das eigene „memento mori“, die persönliche Sterblichkeit, die alle meine Lebensvollzüge begleitet. Ist es der Rat christlicher Kontemplation, das eigene Tun „sub specie aeternitatis“, unter dem Schein der Ewigkeit, zu betrachten, habe ich mir eine andere Perspektive zu eigen gemacht: das persönliche Leben unter der Hinsicht der Endlichkeit, der Sterblichkeit anzuschauen. Jene ist kein Schein, beruht nicht auf einer transzendenten Wette, sondern ist das factum brutum des Lebens, dessen sicherste Tatsache. Ich werde sterben, ohne den Zeitpunkt dafür zu wissen. Das verändert zuweilen die Bewertungen des aktuellen Denkens und Handelns, das Gewicht, das ich Stimmungen und Gefühlen gebe.

Rückblicke sind wie das Einatmen, um sich und die Lebenswelt in der Gegenwart zu versammeln. Darauf folgt das Ausatmen. Es bringt einen in Distanz zu dem, was im Rückblick vergegenwärtigt wurde. Und es lenkt die Energie des Atems dorthin, wo sie gebraucht wird: für das Leben der nächsten Zeit. Mit dem Wissen, was ich gelebt habe, mit den Bewertungen, wie ich es gelebt habe, schärfe ich meinen Hinblick auf das, was auch mich zukommt, was an Neuem zu übernehmen ist, was weitergeführt werden soll oder muss, was einfach sein gelassen werden kann. Ich werde mir so auch, leider viel zu selten, der Energie bewusst, die ich verausgabte, und, die ich künftig bewusster und gezielter als bisher investieren will. So verfestigte sich in einer Reihe von existenziellen Entscheidungen des letzten Jahres, die nicht in den Blog gelangten, das Gefühl: die Pflicht des Lebens ist meistenteils getan. Was ich gerade lebe und was auf mich zukommt, hat viel vom Kürprogramm des Lebens. Gerade weil vieles unmittelbar zur freien Wahl gestellt ist. Ich kann es leben oder auch sein lassen. In jedem Fall werde ich zufrieden sein.

Ich stelle weiterhin Beiträge in meinen Blog. Ich kann nicht sagen, wie viele es werden, und, ob sie regelmäßig erscheinen. Ich möchte dabei dem Nachdenken über Literatur und Kunst mehr Raum geben. Ich will den politischen und gesellschaftskritischen Kommentar nicht vernachlässigen. Und manchmal, wenn es mir gelingt, nicht nur Nach-gedachtes, sondern Originäres hinzufügen. 

von Kleist, Heinrich (o.J.): Sämtliche Werke. Wiesbaden (Löwit), S. 975 – 980

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