Es ist leider keine Debatte entbrannt über Unfreiheit und Freiheit. Eine wachsende Zahl Deutscher fühlt sich um die Freiheit gebracht. Sie fühlen sich unfrei. Umso lauter, aggressiver und gewalttätiger wird die Freiheit eingefordert. Ein Diskurs findet nicht statt. Dabei ist die Frage zuerst philosophisch. J.G. Fichte (1762 – 1814) pointierte sie: „Welche von beiden Meinungen soll ich ergreifen? Bin ich frei und selbständig, oder bin nichts an mir selbst, und lediglich Erscheinung einer fremden Kraft?“ (Fichte, J.G. (1800): Die Bestimmung des Menschen, Medicus-Ausgabe. Band II, S. 31)
Fichte, einer der begrifflich präzisesten Philosophen der Geschichte, spricht von zwei „Meinungen“. Die eine geht von der Freiheit des Menschen, die andere von dessen Unfreiheit aus. Nehmen wir einmal an: Der Mensch ist unfrei. Das heißt dann, die Intelligenz des Menschen ist so gestaltet, dass sie oder er fremde Gedanken für die eigenen hält. Der Wille ist fremdbestimmt. Die Entscheidungen bestehen Vollzug der einen, vorgegebenen Möglichkeit. Sein Verhalten ist programmiert und sein Handeln mechanisch. Er verfügt über kein Selbstbewusstsein im strengen Sinn. Denn er hat als unfreier Mensch kein Selbst. Er ist gesteuert und weiß nicht von wem und wie. Nach den Motiven seines Verhaltens, seines Handelns gefragt, bleibt ihm die Antwort: Weil es so ist, wie es ist. Oder: Schulterzucken. Ich weiß nicht. Und ganz weit vorgewagt: Wahrscheinlich muss es so sein.
In der Antwort, „wahrscheinlich muss es so sein“ ist ein wenig Distanz zum unfreien Geschehen wahrzunehmen. Da blitzt eine Ahnung davon auf, dass es auch anderes gibt. Dieses andere nun entzieht sich der Regel, dem „muss“. Denn der Unfreie kennt keine Alternativen und, wenn er sie kennt, verwirft er sie. Denn alles, was ist, muss so sein. Richtig ist nur, was sich aus der Abhängigkeit seiner Fremdbestimmung ergibt. So zumindest sieht es aus der Perspektive des freien Menschen aus.
Wer frei ist, hat zunächst ein Bewusstsein des Raumes und der Zeit. Das zeigte Kant (1724 – 1804) in den ersten Analysen des Verstandes in seiner Kritik der reinen Vernunft (Transzendentale Ästhetik, B 33 – 73). Raum als Verstandesform setzt ein Nebeneinander von Unterscheidbarem. Unterscheidbar werden die Raumdinge in der Zeit. Sie ermöglicht, den Raumdingen einen Zeitpunkt innerhalb der Zeitreihe zu zu ordnen. Dasselbe Ding kann sich nicht zur selben Zeit an unterschiedlichen Raumorten aufhalten. Nun fragt die Philosophie, von welchem Standpunkt aus dieser Zusammenhang von Raum und Zeit erkennbar und letztlich wissbar ist? Kants Antwort: Raum und Zeit sind Anschauungsformen des Verstandes. Diese Anschauungsformen kann der Betrachter nicht nur an anderem sehen. Vielmehr sieht er sich selbst in Raum und Zeit. Ihm ist es möglich, Raum und Zeit auf sich anzuwenden. Wie weiß er davon? Nun bewegt sich die Frage weg von der Wahrnehmung zur Logik der Begriffe. Stellt man erneut die Wissensfrage, dann ergibt sich, dass ich als Fragender mit Verstand es bin, der verständig die Notwendigkeit und die Berechtigung dieser Frage einsieht und weiß, dass er sie gerade stellt oder gestellt hat. Er entdeckt sich als Fragenden und zugleich als den, der durch kritische Reflexion auch zu Einsichten findet, die er als seine weiß. Das nennen wir „kritisches Wissen“. Die kritische Einsicht ist durch das Selbstbewusstsein möglich. Kant nennt es das „Ich denke“: „Das: Ich denke, muß alle Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“ (Kritik der reinen Vernunft, B 131 f.) Was der lange, verschachtelte Satz ausdrückt, ist hochinteressant für die Frage nach frei und unfrei.
Die These lautet: Mein Selbstbewusstsein muss alle meine Vorstellungen begleiten können. Hier wird eine Fähigkeit des Selbstbewusstseins beschrieben: Es stellt ein Verhältnis zwischen mir selbst als jemand, der sich etwas vorstellt, und dem her, was ich mir vorstelle. Das Verhältnis ist mir immer bewusst, wenn ich mir etwas vorstelle. Philosophen nennen das Selbstverhältnis.
Die Gegenthese heißt dann: Bin ich mir meiner Vorstellungen nicht bewusst, kann ich nicht entscheiden, ob die Vorstellung unmöglich ist oder zumindest für mich keine Bedeutung hat. Anders gesagt: Ohne Selbstbewusstsein bleibt mir auf die Frage nach dem „von wem und wie“ der Vorstellung nur das Schulternzucken.
Daraus – jetzt überspringe ich ca, 300 Seiten weiterer kritischer Analysen Kants – folgert er, dass Freiheit in einem engen Zusammenhang mit dem Selbstbewusstsein, dem „Ich denke“, steht. Sie ist der spontane Akt des „Ich denke“ im Sinne eines begründbaren, darstellbaren und nachvollziehbaren Wissens von allem, was ich mir vorstellen kann. Selbstbewusstsein und Schulternzucken schließen zumindest, was die Unterscheidung von frei und unfrei anbelangt, einander aus.
Was Fichte, vor einer eigenen kritischen philosophischen Untersuchung, als Meinung bezeichnet, ist bereits durch die Philosophie I. Kants als Ergebnis einer nachvollziehbaren gedanklichen Operation erwiesen. Nun, es ist nicht falsch, selbst eingehend zu überprüfen, was Autoritäten vorgedacht haben.
Wie verhält sich das jetzt mit dem Gefühl einer wachsenden Zahl Deutscher, um die Freiheit gebracht worden, also unfrei zu sein? Von der Unfreiheit kann sich jeder befreien, der bereit ist, kritisch darüber nachzudenken, wie es um sein „Ich denke“ und das damit verbundene Selbstverhältnis steht. Seit dem 18., Jhdt. nennt die Philosophie diesen Prozess „Aufklärung“. Kant hat 1783 den Begriff definiert: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmüdigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Berlinische Monatsschrift Dez. 1784, S. 516)
Sapere aude! Habe den Mut, selbst zu einem Schluss zu kommen, wie die DemonstrantInnen der letzten Wochen zu sehen sind!