Für mich selbst sein

Ist es eine Frage meines Alters? 

Immer häufiger spüre ich das Bedürfnis, für mich selbst zu sein. Damit meine ich nicht das Alleine sein, den ungeteilten Wanderweg oder das stille Kämmerlein. Es ist eher der Wunsch, nicht angesprochen, nicht gesucht, nicht beansprucht zu sein von anderen Menschen. Dazu gehört auch, mit meiner Antwort auf eine Mail oder WhatsApp-Nachricht so lange zu warten, bis es für mich dafür die rechte Zeit ist. Ich nehme meine Abneigung wahr, an etwas teilnehmen zu sollen, sei es an einem Gespräch im Zug oder im Café, sei es an Zusammenkünften und Feiern. Ich will mich zurückziehen können und keinem dafür Rechenschaft schuldig sein.

Ich meine mit dem Bedürfnis, für mich selbst zu sein, mitten unter Menschen einfach da zu sein und auf meine Weise teilzunehmen, angeregt zu persönlichen Gedanken und zum persönlichen Verweilen bei dem, was mir auffällt und mich interessiert. Oder mich zum Lesen, zur Reflexion, ans Klavier, zum Schreiben zurückzuziehen vom Vielen. Gerne lasse ich mich auch von den Skulpturen in der Wohnung gefangen nehmen. In solcher Sammlung komme ich nicht nur auf mich zurück, sondern tauche in die Energie ein, die ein Lesetext oder einer, den ich gerade schreibe, entfaltet. Ich lebe mich in eine Komposition ein, die ich am Klavier zu spielen versuche. Ich lasse mich ein in die Magie der Bedeutsamkeiten, die die Skulpturen entfalten. Und manchmal ist es einfach nur das Sinnieren ohne bewusstes Interesse, ohne beabsichtigtes Ziel, ohne Kristallisationspunkt für eine Gedankenentwicklung, in dem ich bei mir bin.

Tatsächlich ist es zuweilen die wirkliche Einsamkeit, die ich genieße. Keine Menschen um mich, wenig Geräusch, nichts, was auf irgendeine Weise Aufmerksamkeit fordert. Das ist nicht das Alleine sein. Jenes entsteht, weil es keinen gibt, der da wäre, oder weil ich mich selbst nicht auf Menschen zu bewegen kann – oder auch, weil ich in der Fremde bin, in einem fremden Leben, das ich nie so führen wollte. Das alles erzeugt das Gefühl, alleine zu sein. Einsamkeit ist von mir selbst gewählt. Sie bildet sich in der ungestörten und kaum störbaren Zuwendung an das, was mir gerade wertvoll ist, oder auch im Rückzug von dem, was mich zerstreut. Oft ist im Tag so Vieles, zu Vieles, dem mich widmen zu sollen oder gar zu müssen, ich meine. Gerade da kommt die Sehnsucht nach Einsamkeit, nach dem Für mich selbst sein auf. 

Ein wenig hat das Bedürfnis danach, für mich selbst zu sein, schon mit meinem Alter zu tun. Die Aufmerksamkeitslenkung auf das Sinnvolle unter dem Vielen, die Konzentration, bei dem zu bleiben, was angefangen, weitergeführt und beendet werden soll, ist mir allemal und über lange Strecken hin möglich. Erst danach spüre ich, wieviel Energie ich aufwenden musste, damit ich in Aufmerksamkeit und Konzentration verweilen konnte. Immer öfter nehme ich seit einigen Jahren den Wunsch wahr, für mich selbst zu sein zu können und so zu regenerieren. Viel zu oft erlaube ich es mir nicht, obwohl es gerade nach großem Kraftaufwand das Beste wäre, was ich mir gönnen kann.

Ein Zug dieser Einsamkeit ist es, dass mir immer weniger Menschen persönlich wichtig sind. Ich brauchte nie die vielen Bekannte und Freunde. Es waren immer wenige, denen ich mich tief verbunden fühlte. Wenn ich auf meine wichtigste Freundschaft im Leben blicke, dann eignete ihr vor allem anderen der Respekt vor dem Bedürfnis, auch für sich selbst zu sein. Und ich lernte noch etwas: Freundschaften, die sich aus einem gemeinsamen beruflichen oder fachlichen Interesse ergaben, überlebten dieses Interesse oft nicht lange. Denn solche Freundschaften enthalten die Tendenz, sich in der gemeinsamen Sache von einander abhängig zu machen. Es sind nicht viele Menschen, die mir wichtig sind. Meist sind sie auch gerne für sich selbst. Auch das mag eine Folge meines Alters sein, freundschaftliche Bindungen lösen zu können, und ohne Hader zu verstehen, dass sich andere von mir zurückziehen.

Für mich selbst zu sein, ist mir wertvoll. Denn es bedeutet, mit mir sein zu können, und immer wieder, es mit mir auszuhalten. Je wahrhaftiger mir das gelingt, meine ich, umso leichter fällt es anderen, mit mir zusammen zu sein und mein lebenswichtiges Bedürfnis nach Einsamkeit zu tolerieren, vielleicht sogar zu schätzen.

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