Kirchlicher Missbrauch: Verbrechen wider die Menschlichkeit.

Nie mehr wollte ich solche Texte schreiben. Ich habe jedoch die ganze Macht der Institution „römisch-katholische Kirche“ erfahren, als vereitelter Priesteramtskandidat, als abgewiesener Promovent in Kath. Theologie, als entlassene Lehrkraft für Kath. Religion. Schließlich trat ich aus der Kirche aus. So hatte ich zu meinem Frieden gefunden, gerade dadurch, dass die Institution und deren Lehren für mein Leben keine Bedeutung mehr hatten. Ich bin im wörtlichen Sinn Gott los geworden. Mein Leben führe ich dem Verstand und der Vernunft verpflichtet, im Vertrauen auf das Mitgefühl und mein ethisches Gespür.

Nie wollte ich diesen Text schreiben. Denn die Kirche ist mir die Energie des Denkens nicht mehr wert. Schade auch um die verschwendeten Worte dazu …, dachte ich bis jetzt. Was in diesen Tagen durch das Münchener Gutachten zum sexuellen Missbrauch beweiskräftig aufgrund der Aktenlage und durch die Stimmen Betroffener menschlich überzeugend in die Öffentlichkeit kam, das konfrontiert mich mit den persönlichen Erfahrungen, die ich mit zu vielen Vertretern dieser Institution machte. Ich wurde nie von kirchlichen Amtsträgern sexuell missbraucht. Ich musste die Haltung erfahren, die den Missbrauch nachvollziehbar macht. Dass die Ignoranz des Missbrauchs bis in die Funktion des Papsttums reicht, entsetzt mich. Wegen der Haltung der „docta ignorantia“ (Nikolaus von Kues), der bewussten Unbelehrbarkeit. Wie kann der aktuelle Papst vor kurzem Frauen weltweit rügen, weil sie selbstbewusst mit dem Kinderwunsch umgehen, wenn andererseits zahllose in den kirchlichen Ordo geweihte Priester und Diakone sich an Kindern und Jugendlichen vergehen und vom Netzwerk der Bischöfe und Generalvikare gedeckt werden? Wie kann ein Papst vom intellektuellen Niveau eines Prof. Dr. J. Ratzinger Exhibitionismus und öffentliche Masturbation eines Priesters als groben Missbrauch übersehen, weil mutmaßlich keine sexuelle Berührung der Opfer stattfand? Er konnte in vielen Causae, hier nur exemplarisch genannt: Hans Küng und Leonardo Boff (Repräsentant der lateinamerikanischen Befreiungstheologie), fachlich scharfsinnig und in der Folge kirchenjuristisch mit großer Schärfe urteilen und verurteilen. Missbrauch gehört nicht zu den Gegenständen des feinsinnigen Denkers.

Die Kirche betreibt, zumindest in Deutschland und in Rom, im Missbrauchsskandal ihre eigene moralische und organisatorische Selbstaufhebung. Nicht, weil der Missbrauch passierte, sondern weil er kaum verfolgt, weil er vertuscht, verschoben, ignoriert wurde. Das ist moralische Schuld. Schuld zieht Schaden und Schmerz nach sich. Er wird einfach übersehen und in dürren Verlautbaren erstickt. Ist diese bewusste Unbelehrbarkeit vielleicht die rätselhafte „Lästerung gegen den Hl. Geist“, die das Neue Testament für die nicht vergebbare Verfehlung (Mt 12, 31b) hält? Die Ignoranz, die das Verbrechen gegen die Menschlichkeit schützt?

Menschen kamen zu Schaden. Menschen wurden schwerst krank, erlitten Traumen, ringen mit schlimmen depressiven und Angstzuständen, leiden unter Zwängen. Menschen verlieren durch die billigende Schuld der Kirche ganze Bereiche ihrer Existenz. Nicht einzelne. Viele! Was das Ganze aufgipfelt, ist, dass eben sie Menschen sind, die in den christlichen Glauben hineinwachsen, denen seitens kirchlicher Amtsträger bergende, heilende Gemeinschaft versprochen wird, die in jüngsten Jahren ehrenamtliche Dienste in den Kirchengemeinden übernehmen, als MinistrantInnen, als GruppenleiterInnen, als PfadfinderInnen, ChorsängerInnen. Ihr Glaube und ihre vertrauensvolle Beziehung zu einem Amtsträger – denn von Seelsorgern zu sprechen, verbietet sich – wurde manipulativ missbraucht. Dabei nehmen die Missbrauchenden Störungen, ja die Zerstörung von Vertrauens- und Bindungsfähigkeit, des kindlichen Glaubens und des pubertierenden Ringens um die wahrhafte Überzeugung, vielleicht in manchen Fällen sogar des persönlichen Zeugnisses für den Glauben in einem kritischen Umfeld in Kauf. Aus jungen Menschen, die in der Kraft der Gestalterhaltung lebten, werden Opfer. Sie werden der Macht des Triebtäters unterworfen. Sie werden inmitten ihrer Identitätsentwicklung zu einem zweiten geheimen Leben gezwungen. Und dann weggestellt, allein gelassen, auch von der Institution Kirche, die sich mehr um die „gefallenen Brüder“ und den Schutz der sog. „Würdenträger“ kümmert, als sich um die beschädigten jungen Menschen auf ihrem unerhörten Weg des Schweigens, des Unverstandenseins, der Beargwöhnung zu sorgen. So geht es dem Kurienkardinal Ludwig Müller in einer Stellungnahme (21.01.2022) mehr darum, den emeritierten Papst aus dem Angriffsfeld zu nehmen, als die Betroffenen, Leidenden, Zerstörten in Schutz.

Wer in der deutschen und der römischen Institution stärkt die Betroffenenperspektive? Wer spürt, fühlt, denkt sich in die unzähligen Menschen hinein, die den Mut hatten, weiter zu leben, oft auch weiter in dieser Kirche zu leben? Wo ist das Mitgefühl, die Verbündung mit den Opfern der Verbrechen? Wo sehen wir außer den fahlen Entschuldigungen, die nur die Opfer gewähren können, Reue, Buße? Wo sind die Zeichen der beschämten Demut und der Verneigung vor dem Geheimnis derer, die weiterleben mit der Beschämung, der priestergemachten Unterbrechung in ihrer Biographie, der menschenverachtenden Entwertung des jungen Menschen zum Lustding?

Im Ersten Vatikanischen Konzil wurde der Papst als unfehlbar erklärt, wenn er als Lehrer aller Christen in Glaubens- und Sittenfragen eine abschließende Entscheidung fällt und sie als Dogma verkündet. Müsste nicht angesichts des weltweiten schwersten moralischen Irrtums, nämlich Missbrauch seitens kirchlicher Amtsträger als minder schwere Verfehlung einzuschätzen und deshalb zu ignorieren, zumindest der Teil des Dogmas revidiert werden, der die Unfehlbarkeit in Sittenfragen behauptet? Wie kann eine Kirche theologisch für Lebensschutz argumentieren, die vergisst, dass es Menschen sind, die leben? Dass es Menschen sind, die sich gegen andere vergehen? Wie kann eine Kirche ihren Kern, die Seelsorge aufgeben, indem sie die Institution vor den Menschen stellt? 

Nie hätte ich diesen Text schreiben, nie mehr all diese Fragen aufwerfen wollen. Die Vergessenheit der Menschen, denen Lebensbedrohliches, Lebenszerstörendes widerfahren ist, der zynische Blick der Bischöfe und der beiden Päpste an diesen beschämten und misshandelten Menschen vorbei auf die Bewahrung der Institution, veranlasst mich dazu, das nach vierzig Jahren wieder auszusprechen, was ich schon als Theologiestudent sagte: Diese Kirche hat ihre Grundorientierung verloren. Sie taugt nicht für das, was Jesus von Nazareth das Reich Gottes nannte. Denn sie ist zutiefst unmenschlich.

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