Sorge um den Frieden

Die Ukraine wird von Russland militärisch unter Druck gesetzt. Der Truppenaufmarsch Russlands an der Ostgrenze des europäischen Landes bedroht nicht nur die Ukraine. Er löst in Europa Sorge um den Frieden aus. Wenn wir Europäer uns ein wenig Zeit nähmen und nicht nur die Entwicklung der Pandemie focussierten, dann würde uns klar, die Entwicklung im Osten unseres Kontinents gibt Anlass zur Sorge um den Frieden für uns alle. Wir leben sehr selbstverständlich in einem friedlichen Umfeld. Die Balkankriege (1991 – 1999) sind fast schon in Vergessenheit geraten. Zuletzt wurden sie angesichts der Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke (2019) erinnert. Die dschihadistischen Terroranschläge seit 2015 bewirkten nicht die wohl angestrebte Destabilisierung Europas. Deutschland war seit 1945 von keinem Krieg unmittelbar bedroht. Wir haben uns an den Frieden gewöhnen dürfen. 

Was wir jetzt wahrnehmen könnten, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht derart durch die diversen Interessen in der Pandemie gelenkt wäre, ist das Geschenk des Friedens. Jetzt, da er in einer Weise in Frage gestellt wird, die an die Zeit des „Kalten Krieges“ (1945 – 1991) erinnert. Die Eskalationsrhetorik, die in die Beziehung zwischen Putins Russland, der Nato und der Europäischen Union zurückkehrt, erinnert mich deutlich an die sprachlichen Drohgebärden des Kalten Krieges. Die beiden Bündnissysteme, der Warschauer Pakt unter Führung der damaligen Sowjetunion und die Nato mit deren Führungsmacht USA, hielten einander um den Preis eines unglaublichen atomaren Wettrüstens in Schach. Jährlich veröffentlichte das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI den Overkillfaktor des immer weiter wachsenden Nuklearwaffenarsenals. Overkill beschreibt, für wieviele Vernichtungen der Erde der Bestand an Atomwaffen ausreichen würde. Es ist eine der großen politischen Leistungen der neunziger Jahre, durch umfassende Vertragswerke, durch die Wiedervereinigung Deutschlands, durch die Erweiterung der EU eine Stabilisierung der damaligen Weltordnung eingeleitet zu haben. Der nach den Balkankriegen stabile Frieden in Europa, die Annäherung der europäischen Union, der USA und Russlands gehörten zu den Garanten dafür. 

Das scheint seit einigen Jahren Vergangenheit zu werden. Derzeit sind wir mit einer deutlichen Veränderung der politischen Weltordnung konfrontiert, die der ökonomischen nachfolgt. Die Dependenzen der europäischen und US-amerikanischen Wirtschaft von den ostasiatischen Staaten wie China, Korea, Taiwan, Vietnam, Indien zeigten sich überdeutlich durch die Pandemie. Der erhebliche globale, zunehmend politische Einfluss der asiatischen Wirtschaftsnationen, die auch kriegerische Konkurrenzen um wichtige Ressourcen im westasiatischen und afrikanischen Raum austragen, scheint mitverantwortlich für die Flüchtlingsbewegungen. Die Tendenzen zur Renationalisierung und Repatriotisierung in Europa dürften dadurch begünstigt werden. Die Rede ist immer wieder von der „Festung Europa“. Keine zielführende Entwicklung, wie jetzt der neuerliche Ukraine-Konflikt zeigt.

Was mich daran irritiert, ist die Art und Weise, wie europäische Länder sich zu dieser Lage verhalten. Vielleicht ist es Diplomatie, vielleicht ist es einfach Unschlüssigkeit. Denn auch die Politiker haben sich daran gewöhnt, im Marketingstil zu agieren. Entweder es wird in inhaltsleeren Phrasen beschworen, dass es schon nicht so schlimm kommen wird. Oder man wagt markige Worte, wie die Unantastbarkeit der osteuropäischen Grenzen und den Verweis auf schwerwiegende Folgen, falls Russland erneut den Respekt vor dem Staatsgebiet der Ukraine aufgibt. Bei mir bleibt ein schales Gefühl: Wird Europa, wird die Nato zu diesen Worten stehen – oder bemüht man sich der „Kalte-Krieg-Rhetorik“ in der Hoffnung auf die alte Wirksamkeit? Sind auch diese Worte Hohlformen? Sind Hohlformen wirksam?

Uns allen sollte jetzt klar sein, dass Frieden eben nicht selbstverständlich ist. Er ist eine Folge des guten Willens vieler Beteiligter. Er ist vor allem eine Wirkung demokratischen Bewusstseins, zu dem für uns Europäer das Zusammenspiel der Staaten in der Europäischen Union gehört. Dieses Zusammenspiel erscheint oft all zu leicht: ziemlich offene Grenzen, die Freizügigkeit, ein starker Wirtschaftsraum, der den Wohlstand aller fördert. Dieses Zusammenspiel ist auch mühsam und fordernd: Wie weit geht meine persönliche Bereitschaft, in schwierigen Lagen zugunsten des europäischen Zusammenhaltes auf Gewohnheitsrechte zu verzichten? Probleme nicht vorwiegend durch „Brüssel“ verursacht zu sehen? Über die Nabelschau „Made in Germany“ hinaus die Überlegenheit mancher europäischer Nachbarn z.B. in der Digitalisierung des Gesundheitswesens anzuerkennen und folglich von ihnen zu lernen? Bin ich bereit, den europäischen Wirtschaftsraum wirklich auch als politischen Raum anzuerkennen und vor allem auch als gemeinsamen Bildungsraum? Wer sich wirklich informiert und nicht nur medialen Meinungstrends hinterher läuft, wer offen ist für das Andere, Neue, Unterbrechende und Ungewohnte in einem so kulturreichen Gebilde wie der EU, wer die nationalen und europäischen Wahlen ernst nimmt, wer alle Menschen im europäischen Lebensraum willkommen heißt, der pflegt das demokratische Bewusstsein und dadurch den Frieden. Der trägt dazu bei, dass Politiker es wagen, auch einmal unpopulär zu sein und sich differenziert zu äußern – und nichtvorwiegend politisches Marketing zu betreiben. Frieden ist nicht marketingfähig. Frieden für uns alles setzt unser aller Ethos voraus. Wer ethisch denkt, dem ist bewusst, wieviel für den Erhalt des Frieden reflektiert, gelebt und gewagt werden muss. Frieden fordert demokratischen Mut.

Die Veränderung der politischen Weltordnung bedarf der Veränderungsreflexion des Wertesystems und der damit zusammenhängenden Güterordnung. Sie bedarf eines in Wertvorstellungen und der zugehörigen Bildungsbereitschaft begründeten europäischen Selbstbewusstseins und des Mutes, es auch auszusprechen. Und nicht nur des Starrens auf ein Virus.

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