Es ist eine nächtliche Gestimmtheit im Leben gerade, aus der heraus ich die kleine Sammlung von Gedichten der Lyrikerin Nelly Sachs (1891 – 1970) in die Hand nehme. Ich suche das Gedicht, dem ich zutraue, mich herauszurufen aus der nächtlichen Gestimmtheit. Es fehlt dieser Gestimmtheit jede Romantik und auch das heimelig Bergende. Unruhig fühle ich mich, ziellos in Bewegung, müde und furchtsam zugleich. Tags und nachts bewege ich mich in der Gestimmtheit. Oder begleitet jene mich auf dem Weg durch die gegenwärtige Lebenszeit? Nicht einmal da bin ich entschieden.
„Wenn die Propheten einbrächen
durch die Türen der Nacht“
Mit dieser Zeile bricht das Gedicht in meine nächtliche Gestimmtheit ein. Es gehört seit der ersten Begegnung in der Exegese-Vorlesung zum Alten Testament (AT) zu meinen Lieblingsgedichten. Prof. Dr. R. Mosis, der damalige Alttestamentler an der Uni Eichstätt, trug es in der Vorlesung zu ausgewählten Propheten des AT vor. Welche Sprache im Gedicht, die wie unvermittelt aus Jahrtausenden in die Gegenwart hinein klingt!
„Wenn die Propheten einbrächen“ …
Propheten, „Künder,“ (M. Buber) „berufene Rufer“ (A. Deissler) brechen in die Zeit ein. Sie durchbrechen dabei „die Felder der Gewohnheit, ein weit Entlegenes hereinholend“, wie Nelly Sachs dichtet. Der Propheten bricht eine Bresche in die Zeit des Lebens. Wer den Propheten erlebt, wird in die Gegenwart gestellt. Er wird in die Bresche gerufen, die der Prophet gebrochen hat. Er gerät in seine persönliche Gegenwart.
„Wenn die Propheten einbrächen
durch die Türen der Nacht
und ein Ohr wie Heimat suchten –
Ohr der Menschheit,
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?“
Der Künder vergegenwärtigt. Das ist eine Wesensdimension des Prophetischen. Indem er „ein Ohr wie Heimat sucht“, spricht er dem, der zu hören bereit ist, die Gegenwart zu. Wenn es uns gelänge, das Gehör von seinen zerstörerischen Nesseln zu befreien, dann hörten wir, was die Propheten uns zu sagen haben. Denn die Nesseln entzünden, was ankommt, reizen, fressen es an. Sie verzerren, was unser Gehör erreicht, manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Dann beginne ich nach Erklärungen zu suchen für das, was ich undeutlich oder falsch hörte. Erklärungen, die in die Irre führen, auf Abwege, in die Beunruhigung. Ich wende mich zurück, in dem ich in die Herkunft des Gehörten hinein zu hören versuche. Schon bin ich nicht mehr in der Gegenwart, sondern hafte an dem, was mich aus der Vergangenheit festhält, den ausgetretenen Pfaden von Erfahrungen, die zu Gedankenmustern führen, die das immer Gleiche durchspielen.
„Ohr der Menschheit
du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes
würdest du hören?
Wenn die Propheten
mit den Sturmschwingen der Ewigkeit hineinführen
wenn sie aufbrächen deinen Gehörgang mit den Worten:
Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis
wer will den Sterntod erfinden?“
„Das kleine Lauschen“, das stumpf geworden ist, das sich an das durch die Nesseln im Gehör Entzündete und Verzerrte angepasst hat, das allenfalls das Befinden Störende wahrnimmt, es behindert das Hören. Es macht die Gestimmtheit nächtlich, unbestimmt im Ziel und furchtsam in der Bewegung. Wer schlecht hört, dem fällt die Orientierung schwer.
Der Prophet stellt die Zeit wieder her, in dem er sie mit dem Leben verbindet. Er führt Worte aus dem Leben im Mund, die mein Gehör aufbrechen. Das „kleine Lauschen“ öffnet sich zum Hören – und trifft auf jene unerhörte Frage: „Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis?“ Mich erreichen zwei Worte in der Frage, die mir sogleich zu Herzen gehen, Krieg und Geheimnis. Die Möglichkeit des Krieges in Europa macht mir mehr als Sorge. Sie ängstigt mich. Ich sehe, was mich daran vor allem ängstigt: die Nesseln in den Ohren, die Gesprächsangebote zu Drohungen verzerren, die friedliche Worte entzünden und so auf Taten drängen, die Krieg bedeuten. Nein, ich, viele wollen den Krieg nicht.
Gab ich mich zulange mit dem kleinen Lauschen zufrieden? Worin hab’ ich mich eingesponnen? Wie naiv verwechselte ich Heimeligkeit mit Heimat – schon immer gewarnt durch den Mentor: Wenn sich der Mensch ohne Entäußerung und Entfremdung erfasst und in realer Demokratie begründet, „so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (Bloch, 1976, S. 1628). Vielleicht berührt sich das eine, Heimat in utopischer Bedeutung, mit dem Geheimnis, gegen das wir Menschen Krieg immer wieder führen. Mit unserem Bedürfnis, haben zu wollen statt zu sein? Herzustellen, ins Machbare zu bringen und zu erzwingen, was sich nicht machen und zwingen lässt: eben das Geheimnis an der Wurzel unseres Daseins, meines Daseins. Geheimnis ist nichts Mysteriöses, sondern ist das, wofür der Begriff uns fehlt, der immer alles gleich verfügbar macht. Es ist das, was eben nicht verfügbar im Sinne des Rekonstruierbaren, Herstellbaren, der Bilder ist. Geheimnis scheint das, wofür es die Propheten braucht, die den Gehörgang öffnen für Worte, die wir uns selber nicht sagen können. Für das Unerhörte.
Die Verfügbarkeit, die Bilder, die Begriffe berühren die andere Frage: „Wer will den Sterntod erfinden?“ Kriegführung gegen das Geheimnis, der Wahn, alles in das geschwätzige Wort und das flutende Bild bringen zu können, führt zum Sterntod. Nelly Sachs meint wohl auch den Tod durch den angehefteten Davidsstern. Vielleicht meint sie den Tod unseres Planeten Erde mit. Wir lauschen mit unseren nesselverwucherten Ohren eben klein, focussiert auf das bisschen Wirklichkeit, das wir gerade noch erfassen können. Das ist lebensnormal. Der prophetische Durchbruch spricht gegen alle nächtliche Gestimmtheit eine Wahrheit aus. Er bricht die Bresche. In ihr vergegenwärtigt sich das Geheimnis:
„Wenn die Propheten aufständen
in der Nacht der Menschheit
wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen,
Nacht der Menschheit
würdest du ein Herz zu vergeben haben?“
Das Gedicht entnehme ich aus:
- Sachs, N. (5. Aufl. 1972): Ausgewählte Gedichte. Frankfurt (Suhrkamp), S. 25 – 27
Kontextuelle Literatur:
- Bloch, E. (3. Aufl. 1976): Das Prinzip Hoffnung. Dritter Band. Frankfurt (Suhrkamp)
- Bücher der Kündung (1966, verdeutscht v. Buber, M.). Köln & Olten (J. Hegener)
- Deissler, A. (4. Aufl. 1974): Die Grundbotschaft das Alten Testaments. Ein theologischer Durchblick. Freiburg (Herder), S. 97 – 101