Das Schlechteste, was wir jetzt betreiben könnten, ist, an der Überzeugtheit von der Rationalität des Demokratischen rütteln. Wir brauchen uns von der Irrationalität eines dumpfen Systems nicht irritieren zu lassen. Wir müssen den Schein des Rationalen als die hermetische Binnenlogik einer Doktrin durchschauen, die ihrem Urheber immer Recht gibt. Mehr Subjektivität im Scheinkleid des Objektiven ist nicht denkbar.
Es wird auf eine erschreckende Weise deutlich, wie Fakten missbraucht werden. Nicht von „Fake News“ ist die Rede, sondern von „Fake Historics“. Gegenwärtig bei Wladimir Putin, dem russischen Diktator. Er schafft, auf der Grundlage von ihm gedeuteter sog. historischer Fakten zur Ukraine, neue Fakten, von denen er glaubt, sie würden „seinem“ Russland Sicherheit verschaffen, es abschirmen von jeder Bedrohung. Er schafft dabei die Geschichte nicht um. Er gibt ihr, wie es scheint, eine veränderte Bedeutung. Wie macht er das?
Zuerst wird die Geschichte solange beschnitten, bis ein von W. Putin überschaubarer Ausschnitt der Geschichte entsteht. Dieser Ausschnitt, die Lage Russlands nach 1945, wird dann mit der intuitiven Perspektive von Mindereinschätzungen Russlands (B. Obama: Regionalmacht) solange durchforscht, bis die verursachenden Brüche zu Tage treten: der Fall der Berliner Mauer 1989, Erstes Minsker Abkommen und die Erklärung von Alma Ata im Dez. 1991 zur Auflösung der Sowjetunion und die anschließenden Unabhängigkeitserklärungen der ehemals sowjetischen Teilstaaten, die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Diese Brüche und die Osterweiterungen der Nato (vor allem 1999 [Polen, Tschechien, Ungarn] und 2004 [u.a. die Baltischen Staaten]) verstärken ein Bedrohungsgefühl solange, bis für Putin zuletzt zwischen Gefühl und Zustand nicht mehr zu unterscheiden ist. Seitdem entfaltet die Binnenlogik des Systems Putin ihr Gewaltpotenzial. Das führte zu politischen Destabilisierungsaktionen gegenüber der EU und der Nato. 2014 wurde handstreichartig die Krim annektiert. Seitdem schwelt der Konflikt trotz des Zweiten Minsker Abkommens (2015) in den beiden Separatistengebieten Donezk und Luhansk, die seit 21.02.2022 von Russlands Regierung als unabhängige Volksrepubliken anerkannt sind.
W. Putin formte eine hermetische Doktrin auf drei Säulen, der Bedrohung durch die Nato und die USA, die unrechtmäßige Unabhängigkeit der Ukraine sowie anderer ehemals sowjetischer Teilstaaten, die zunehmende Demokratisierung in den westlich gelegenen wie den baltischen Staaten, dem Belarus und der Ukraine. Als die Schutzinteressen Russlands (wovor?) ermöglichende Problemlösung begann er mit der Ausdehnung des russischen Einflusses auf einige ehemals sowjetische Teilstaaten. Die Eskalation des Russlandkonfliktes zum Krieg gegen die Ukraine stellt allerdings einen neuen, indiskutablen politischen und völkerrechtlichen Schritt dar, den allein die russische Regierung und der Präsident zu verantworten haben.
Was im System Putin einer inneren Logik folgt, darf die EU, die USA und alle anderen Demokratien nicht beeindrucken. Logik bedeutet grammatische Rationalität. Mit Grammatik allein gewinnt Sprache keine Beduetung. Rationalität, die in Demokratien sich zum regelgeleiteten Diskurs der Vielen verpflichtet hat, bedarf auch der Inhalte. Sie überzeugt erst dann, wenn Inhalte, Sprechakte und die Grammatik auf einander bezogen sind und übereinstimmen. Es gibt keinen Grund, an der Rationalität des Demokratischen zu zweifeln. Vor allem nicht, wenn undemokratische und diktatorische Logiken sich über geltendes Recht mit schierer Gewalt hinwegsetzen. Zur Demokratie gehört die Macht des Wortes. Sonst bewirkt das Wort kein Tun. Die Diktatur kennt kein Machtwort wie die Demokratie. Zur Diktatur gehört die Gewalt, die sich der Sprache nur bedient, um zu verschleiern und zu verstecken, zu verdrehen und zu propagieren (Vgl. Blog Nr. 55 vom 13.02.2022). Demokratische Macht indes gründet im rational geleiteten Vertrauen auf das Wort. Diktatur erhält sich durch die gewalterzeugte Angst.
Wir haben keinen Grund, an der Demokratie zu zweifeln. Vielleicht wird das gerade auch denen klar, die in den letzten Monaten unsere Demokratie als Zwangssystem darzustellen versuchten, weil die Pandemie die begründete und befristete Einschränkung weniger Verfassungsrechte erfordert. Demokratie unterscheidet sich von unreflektierten und dumpfen Stimmungen durch ihre Rationalität. Deshalb kann Demokratie mit diesen Stimmen das klärende Gespräch suchen, um sie in die Diskursgemeinschaft zurückzuführen. Diktatur bricht Vereinbarungen mit Gewalt und setzt sich mit Waffen über Rechte hinweg. Der einzelne Mensch zählt nichts. Er hat nicht einmal statistischen Wert. Die Statistik der Waffen und Treffer zählt allein. Es macht fassungslos und raubt für einige Momente die Sprache, dass das mitten in Europa passiert.
Ich bleibe von der rationalen Macht des Wortes überzeugt und halte mich an das ermutigende Gedicht „Chance“ von Rose Ausländer (1901 – 1988):
Zum Berg gehn
den Fels herausreißen
aus seiner Lethargie
ihm Flügel zusprechen
Steh auf
aus dem Staub
wirf dein Gewicht
in die Wolken
Diese Chance
gibt dir das Wort
diese Chance
jetzt
Ausländer, R. (1994): Regenwörter. Gedichte. Stuttgart (Reclam), S. 40