Frauen: Friedensgestalten im Krieg
Es sind die Frauen im Verteidigungskrieg der Ukraine, die inmitten des mörderischen Geschehens das Gesicht des Menschlichen zeigen: Ecce homo! Sie sind der gequälte, misshandelte und missbrauchte Mensch, das Opfer schlechthin. Sie sind die einsamen Fliehenden, in deren Schutz die Kinder über die Grenzen und in ihnen fremde Länder gelangen. Sie sind die mutigen für den Frieden eintretenden Politikerinnen und Bürgermeisterinnen der Ukraine. Sie kämpfen als Soldatinnen. Wie verhärmt, erstarrt und unbeweglich unbewegt, fast leblos wirken die alten Männer des russischen Regimes gegenüber diesen Frauen der Ukraine.
Die medialen Bilder zeigen viele dieser Frauen auch unter den entwürdigenden Umständen des Krieges in ihrer Würde: als Großmütter und Mütter auf der Flucht, als junge Frauen, die ihre besorgte Angst in die Mikrofone sprechen, die in ihren Städten bleiben oder auf dem Weg außer Landes sind. Sie zeigen und sagen, was sie sich wert sind. Es beeindruckt, über wieviele Politikerinnen auf allen Ebenen des Staates die Ukraine offensichtlich verfügt. Und es beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit sie in diesen Zeiten ihre Aufgaben wahrnehmen.
Der italienische Schriftsteller Alessandro Baricco publizierte 2004 eine Nacherzählung der Ilias Homers. Sie erschien unter dem Titel „So sprach Achill“ in deutscher Übersetzung. Fünf Frauen erhalten darin ihr eigenes, dem homerischen Epos über den Krieg um Troja abgelauschtes Wort: Hekuba, die Frau des Priamos, des Königs von Troja; Helena, die von Paris ihrem griechischen Gemahl Menelaos entführt wurde, was zum Anlass des Krieg der Griechen gegen Troja wurde. Andromache ist die Frau des Hektor, des heldenhaften Sohns des Priamos und Gegenspielers zu Achilles auf der Seite der Griechen. Die Amme, die am Hof die Töchter und Söhne des Königspaars betreute, verfügt über ein intimes Wissen über die Beziehungen am Hof. Und Kassandra, die Seherin, auch eine Tochter des Priamos, die den König vor dem Holzpferd der Griechen vergebens warnte, das als „Trojanisches Pferd“ die Eroberung Trojas einleitete. Diese Frauen geben der Ilias, dem großen Kriegsepos, eine „weibliche Seite“, wie Baricco im Nachwort zur Dichtung schreibt (S. 185). „Oft sind es die Frauen, die den Wunsch nach Frieden direkt äußern. Sie verkörpern, an den Rand der Kämpfe verbannt, die beharrliche und beinahe unerlaubte Hypothese einer alternativen Kultur, die von der Pflicht des Krieges nichts weiß. Sie sind überzeugt, dass man anders leben könnte, und sie sagen es.“ (S. 185)
Andromache, die Frau Hektors, nähert sich ihrem kriegsbereiten Mann und hindert seinen Weg auf das Schlachtfeld. Mit dem gemeinsamen Sohn, „schön wie ein Stern“ (S. 60), stellt sie sich Hektor in den Weg, ergreift seine Hand – und der Krieger bleibt stehen. „Und lächelte. … Hektor lächelte.“ (S. 60), wie die Amme als Augenzeugin berichtet. Andromache ergreift die Hand ihres Mannes. Sie kennt die Grausamkeit des Feindes; denn Achilles ermordete ihre Familie in der Schlacht um Theben: „Hektor, du bist mein Vater, meine Mutter und mein Bruder, und du bist mein junger Gemahl: hab Mitleid mit mir, bleib hier auf dem Turm. Kämpfe nicht auf freiem Feld …“ (S. 60 f.). Hektor legt seinen Helm ab und nimmt seinen Sohn in die Arme, küsst ihn – und geht zur Schlacht. Er stirbt durch die Lanze des Achilles.
„Dein Antlitz war so schön. Und jetzt schleift es im Schmutz mit den schönen braunen Haaren, die jetzt ausgerissen im Staub fliegen.“ (S. 160) Inmitten des jähesten Schmerzes, den Partner für das Leben, den Vater des gemeinsamen Sohnes verloren zu haben, holt sie, die Frau des Getöteten, den Krieger ins Menschsein zurück: „Unter den schwarzen Schiffen bist du jetzt Beute der Würmer, und dein nackter Körper, den ich so liebte, wird zum Fraß der Hunde.“ (S. 160) Andromache klagt von ihrer Liebe, von der Schönheit ihres Mannes und ihrem Begehren nach ihm. Sie klagt von den braunen Haaren, die „ausgerissen im Staub fliegen“. Sie klagt von seinem „nackten Körper, den ich so liebte“. Es ist die menschliche Klage einer liebenden Frau, die ihrem Mann eine andere, strategische Rolle im Krieg angeboten hatte. Sie ist Witwe, in Hektors Haus zurückgelassen im Schmerz.
Die Ilias unterbricht mit der Klage Andromaches die Gewalt des Kampfes mit der grausamen Rollenverteilung von Verlierer und Sieger. Es sind Menschen, Einzelne mit ihrer erzählbaren Geschichte, mit ihrer greifbaren Schönheit und ihrem persönlichen Wert, die im Staub und Schmutz, in der Verwüstung des Schlachtfelds einen namenlosen Tod sterben. Es sind die zurückbleibenden Frauen, die klagend und auch anklagend von der Schönheit und der Liebe, von der intimen Bedeutung der Getöteten erzählen. Diese Erzählungen entbergen das Menschliche im Krieg, dem getraut und auf das vertraut werden kann. Das zu seinem Recht kommen muss. Ohne das ein künftiger Frieden nicht möglich ist.
Weil die Kriegsführenden Menschen sind, grundsätzlich befähigt, zwischen sich und ihrer Pflicht zu unterscheiden, sind sie offen für die weibliche Sicht des Lebens. Baricco nimmt jene Sicht „in den zahllosen Passagen der Ilias [wahr], wo die Helden sprechen, anstatt zu kämpfen.“ (S. 185) Dies verdichtet sich in der berührenden Begegnung von Priamos, dem trauernden König Trojas, und Achilles, dem „höchste[n] Priester der Religion des Krieges“ (S. 187). Priamos macht sich gegen den Rat und die Bitten seiner Frau Hekuba – „Mein Gott, was ist mit deiner Weisheit, für die du so berühmt warst?“ (S. 163) – ins Heerlager der Griechen auf. Er will von Achilles den Leichnam seines gemordeten Sohnes Hektor erbitten. Unbemerkt gelangt er zu Achilles. „Er fiel ihm zu Füßen und umschlang seine Knie. Achill war von Staunen ergriffen, wie versteinert vor Überraschung.“ (S. 167) Die beiden sprechen miteinander, nicht als Sieger und Verlierer, sondern wie die beiden Menschen, die sie jetzt gerade für einander sein können. Sie sehen sich an, weinen mit einander und gewähren sich gegenseitiges Ansehen. „Du hast ein starkes Herz, Priamos. Setz dich hier nieder auf meinen Sitz. Vergessen wir zusammen die Bange, denn das Weinen nützt nichts. Es ist das Geschick der Menschen, im Schmerz zu leben …“ (S. 168). Priamos weigert sich, sich zu setzen: „er wolle den Leichnam seines Sohnes mit seinen eigenen Augen sehen, nur das wolle er, er wolle sich nicht setzen, er wolle seinen Sohn.“ (S. 168) Kurz kippt die Situation in Aggression. Letztlich lässt Achilles aus den Geschenken des Priamos Leinentücher und eine Tunika auf dem Wagen für den Leichnam des Feindes, der für Priamos dessen Sohn Hektor ist. Achilles hebt persönlich den toten Hektor auf den Wagen. Nach dem gemeinsamen Mahl verspricht Achilles Priamos die Unterbrechung des Krieges für die Bestattung und die Ehrung Hektors. „Und dann nahm er meine Hand und drückte sie, und ich hatte keine Angst mehr“, berichtet Priamos (S. 169).
Inmitten des Krieges ist Unterbrechung möglich, um der Ehre, der Würde des Menschen Raum zu geben. Das wird dann möglich, so sehen wir exemplarisch an der geschilderten Begegnung von Priamos und Achilles, wenn die Kriegsführenden sich für einen Moment als konkrete Menschen sehen, im Schmerz, in der Liebe und im Ruhm. Den Ausgangspunkt bilden oft die Interventionen der Frauen, die den verheerenden existenziellen Folgen kriegerischer Gewalt unmittelbar und in allen destruktiven Dimensionen konfrontiert sind. Sie verlieren nicht nur Männer und Söhne, Familienangehörige, Freundinnen und Freunde. Sie finden sich inmitten der Verwüstungen als letzter Schutz für die Kinder und andere Bedürftige. Sie stehen in den Trümmern der bisherigen Existenz, während die Männer kämpfen. Frauen nehmen am Krieg auf andere Weise teil. Sie schultern die Lebenslast, die der Kampf ihnen als Aufgabe stellt: die Trauer, den Schmerz angesichts der menschlichen, materiellen Verluste. Sie werden missbraucht, gequält, gedemütigt, in der höchstpersönlichen Würde angegriffen. Bei ihnen geht es nie um Glanz und Ruhm. Die Frauen stehen für die Würde des Überlebens. Sie trauen dem Leben mehr zu als nur Krieg, Verwüstung und Tod. Deshalb entscheidet sich daran, wie die Frauen mit dem Schmerz des Krieges umgehen, ob der Frieden eine Chance hat.
Ernst Jünger (1895 – 1998) leitet seinen Essay „Über den Schmerz“ (1934) mit folgenden Erwägungen ein: „Der Schmerz gehört zu jenen Schlüsseln, mit denen man nicht nur das Innerste, sondern zugleich die Welt erschließt. Wenn man sich den Punkten nähert, an denen der Mensch sich dem Schmerze gewachsen oder überlegen zeigt, so gewinnt man Zutritt zu den Quellen seiner Macht und zu dem Geheimnis, das sich hinter seiner Herrschaft verbirgt. Nenne mir dein Verhältnis zum Schmerz, und ich will dir sagen, wer Du bist!“ (Jünger, 2015, S. 145) Hekuba, Andromache, Priamos und Achilles erschließen im Epos der Ilias, das von A. Baricco so kunstvoll nacherzählt wird, dem Hörer und Leser ihr Verhältnis zum Schmerz. Dadurch entsteht für wenige Augenblicke Frieden. Es entsteht diese „andere Schönheit“, die Baricco die des Handwerklichen nennt, in seiner Erzählung. Jene ist die, vielleicht utopische, Alternative zum Krieg (Vgl. S. 191).
Der Frieden wirft ein anderes Licht auf die Menschen und die Welt. Er unterschiedet sich wesentlich von der Übereinkunft, durch die wir Europäer in den letzten Jahrzehnten unser Leben sicher glaubten. „Man betrachtet den Krieg als Übel, das man vermeiden sollte, gewiss, aber man ist weit davon entfernt, ihn als absolutes Übel zu betrachten: Bei der erstbesten, in schöne Ideale eingewickelten Gelegenheit wird es wieder zu einer realisierbaren Option, in den Krieg zu ziehen. Man entscheidet sich manchmal sogar mit einem gewissen Stolz dafür.“ (S. 190) – Macht dieser Teil des Resumees A. Bariccos über die Ilias nicht nachdenklich, auch gegenüber dem Stolz der Verteidiger in der Ukraine? Auch sie führen ihren Krieg. Aus dem Verteidigungshandeln wird immer wieder und immer mehr Angriffshandeln. Das fordert die Pflicht zur Gewalt. Beschämen nicht zugleich die Frauen, die Kinder und Angehörige schützen, mit ihnen fliehen, die Trümmer des Lebens aufzuräumen und zu ordnen versuchen, die die Hoffnung auf das Überleben aufrecht erhalten und sich mutig den für uns kaum vorstellbaren Herausforderungen stellen, beschämen sie nicht alle die im Alter erstarrten russischen Männer des Putin-Regimes? Frauen stellen sich in ihrem schieren Menschsein den Kriegführenden in den Weg. Sie werfen ihre Liebe, ihr Vertrauen auf die Alternativen zum Krieg, ihren Glauben an die Würde des Menschen und ihren persönlichen Schmerz in die Waagschale.
Wir sollten neben allen lauten Rüstungsforderungen neuerdings immer auch die weibliche Seite des Krieges ansehen. Die Frauen, gerade auch die in politischer Verantwortung, können diese weibliche Seite stark machen. Denn nur dadurch werden die Kriegführenden in eine Distanz zwischen ihrer Pflicht und ihrem Menschsein gebracht, die die Bedingung der Möglichkeit für den Frieden ist. Denn Frieden ist zuerst Waffenstillstand, dann „eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (…) beständig näher kommt“ (Kant, 1984, S. 56).
Der Weg dahin wird damit zu tun haben, was sich für Baricco darin manifestiert, „den Dingen einen starken Sinn zu geben, ohne sie in das blendende Licht des Todes rücken zu müssen. Sein eigenes Schicksal ändern zu können, ohne sich des Schicksals eines anderen bemächtigen zu müssen; es fertig zu bringen, Geld und Reichtum in Bewegung zu setzen, ohne auf die Gewalt zurückzugreifen; eine ethische, sogar sehr hohe Dimension zu finden, ohne sie am Rand des Todes suchen zu müssen; sich selbst zu begegnen, in der Tiefe von Augenblicken und Orten, die keine Schützengräben sind; Emotionen, selbst die ungeheuerlichsten, kennenzulernen ohne auf das Doping des Krieges oder das Methadon der kleinen alltäglichen Gewalttätigkeiten zurückgreifen zu müssen. Eine andere Schönheit, wenn ihr versteht, was ich meine.“ (S. 190) Vielleicht hat diese andere Schönheit sehr viel mit der weiblichen Dimension des Lebens zu tun.
Quellen:
Zitate nur mit Seitenangabe entstammen
Baricco, A. (2018): So sprach Achill. Die Ilias nacherzählt. Hamburg (Hoffmann & Campe)
Jünger, E. (2015): Betrachtungen zur Zeit. Sämtliche Werke 9/Essays 1. Stuttgart (Klett-Cotta)
Kant, I. (1984, ed. Buhr, M. & Dietzsch, S.): Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1786 – 1800. Leipzig (Reclam)