Viele Waffen. Schwere Waffen. Alle in die Ukraine. Alle gegen Putin. Das scheint die neue Überzeugung vieler deutscher PolitikerInnen zu sein. Die Möglichkeit, den schleppend grausamen Krieg des russischen Regimes in der Ukraine zu beenden, wird als „eine Frage der Verpanzerung“ (Hilmar Klute, SZ Nr. 92 / 22.04.2022, S. 11) gesehen. Der grüne Politiker Anton Hofreiter kann nicht schnell genug schwere Waffen in die Ukraine bringen. Für Robert Habeck, den grünen Wirtschaftsminister, ist der Pazifismus zu einem „fernen Traum“ geworden (https://www.n-tv.de/politik, am 16.04.2022, 7:05 h, [letzter Zugriff: 16.04.22]). Die Friedensforscherin Claudia Baumgart-Ochse bezeichnet das einstige Motto der Friedensbewegung „Frieden schaffen ohne Waffen“ als „akut naiv“ ((https://www.n-tv.de/politik, am 16.04.2022, 13:02 h [letzter Zugriff: 18.04.2022]). Das Motto spreche der Ukraine schlicht das Recht ab, sich militärisch zu verteidigen.
Die friedenspolitische Idee des Pazifismus kann ideologisch eng geführt werden, indem das Prinzip des vollständigen Verzichts auf Waffen absolut gesetzt wird. Ein naiver Einfluss auf das politische Verhalten der Bundesrepublik im Blick auf Waffen und militärische Einsätze darf jedoch nicht mehr unterstellt werden. Deutschland gehört zu den größten Waffenexporteuren weltweit. Seit dem Engagement in den Balkankriegen 1999 im Kosovokrieg nehmen deutsche Truppenkontigente, zuweilen auch mit robustem Mandat, an sog. Friedenseinsätzen teil. Es war der grüne Außenminister Joschka Fischer, der in heftigen innerparteilichen Diskussionen den Pazifismus einer pragmatischen Reflexion unterzog. Deutschland beruhigte sich damit, seine Parlamentsarmee vorwiegend humanitär zu beauftragen. Das ökonomische Interesse und der damit verbundene Wohlstand, von dem wir in unserem Land profitieren, sollte so auch am Hindukusch verteidigt werden.
Der Angriffskrieg des russischen Regimes auf die Ukraine „hat in Deutschland eine Gesellschaft überrascht, die sich seit Langem in oft öden privatistischen Debatten verloren hat“ (Hilmar Klute, SZ Nr. 92 / 22.04.2022, S. 11). Man denke an die jüngst heftige Erregung angesichts gendergerechter Sprachfindungen zurück oder die querdenkende Empörung über die pandemiebedingten Freiheitseinschränkungen. Der Debattenkern erschien berechtigt, die affektiven Tumulte um ihn herum hingegen äußerst fragwürdig.
Und jetzt, seit dem 27. Februar: die „Zeitenwende“: „Das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw08-sondersitzung-882198, [letzter Zugriff: 23.04.22]) Hat der Bundeskanzler damit nur eine radikal andere Haltung zu Rüstung und damit zur Wehrhaftigkeit der Bundesrepublik gemeint? Dann drückten die gewaltigen Milliardenbeträge, die in Ausrüstung und konkrete Unterstützung der Ukraine fließen, eine Abkehr vom pazifistisch-humanitären Grundton unseres Landes, hin zum wehrpolitischen Militarismus als der naheliegenden Doktrin der Wehrhaftigkeit aus. In diesem Fall hat R. Habeck recht: Dann ist Pazifismus wirklich ein ferner, möglicherweise verkümmernder Traum.
Ja, die Ukraine muss unterstützt werden, militärisch, humanitär, demokratisch. Der Krieg des russischen Regimes ist ein unberechtigter Angriffskrieg, in dem völkerrechtswidrige Verbrechen an der zivilen Bevölkerung in unerträglichem Ausmaß begangen werden. Er dient der zerstörerisch sinnlosen und widerrechtlichen Annexion von Land, das zum Hoheitsgebiet der ukrainischen Nation gehört. Der Krieg ist dennoch auch ein Krieg, in dem Aggressoren und Verteidiger sich destruktiver Waffen bedienen. Es geht aus unterschiedlichen Motiven darum, den anderen zu beschädigen, notfalls zu töten. Immer trifft der Krieg Soldaten, die ermordet, verwundet und gefangen gesetzt werden. Er zerstört den Lebensraum und die Lebenswelt vieler Menschen in der Ukraine. Er bedroht plötzlich unsere europäische Demokratie von außen, nachdem sie in den letzten Jahren leichtfertig, desinteressiert und immer wieder auch gewaltsam von innen ausgehöhlt wird. Er bedroht die Prosperität Europas, die sich in ihrer zweifelhaften Dialektik zeigt, Lebensnerv und Lebensbedrohung gleichzeitig zu sein.
Die Feststellung von Bundeskanzler Scholz zum Krieg in der Ukraine „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“, enthält ein oft übersehenes kritisches, pazifistisches Potenzial: Wir lernen gerade, dass uns jedes Mittel recht ist, wenn es um unsere Sicherheit, d.h. die Planbarkeit, die Prognostizierbarkeit, die weitestgehende Eliminierung des Zufälligen geht. „Im Vertrauen darauf, dass wir das Gute wollen – den Wohlstand, den Fortschritt, das Wachstum, die Gerechtigkeit, die Gleichheit, den Gewinn und die Unsterblichkeit-, riskieren wir die Zukunft dieser Erde.“ (Köhlmeier & Liessmann, 2019, S. 169) Gerade riskieren wir mit dem militnaten Ruf nach militärisch schweren Waffeneinsätzen, aller neuer Bündnismoral zum Trotz, mindestens die Zukunft Europas. Wenn man den politischen Mitteln und den rationalen Diskursen nicht mehr traut, denn müssen eben Waffen entscheiden. Und rasch sind einmal wertvolle Ideen, wie der Pazifismus, zum „fernen Traum“ und als „akut naiv“ erklärt. Am Ende heiligt eben doch der Zweck die Mittel.
Das Dilemma, in dem wir uns befinden, kann ethisch in folgender Frage beschrieben werden: „Was ist verdammenswerter: Jemanden zu unterwerfen oder sich jemandem zu unterwerfen?“ ((Köhlmeier & Liessmann, 2019, S. 73) Es geht in der Frage um eine „moralische Beurteilung von Machtverhältnissen“ (Köhlmeier & Liessmann, 2019, S. 73), zu der uns plötzlich und lebensnah der widerrechtliche Gewalteinsatz W. Putins in der Ukraine zwingt. Was der derzeitige Trend zur Militarisierung als Machtmittel nach der Politik zeigt, ist die – hier wirklich naive! – Bereitschaft, sich der Gewaltanwendung des russischen Regimes zu unterwerfen und mit den gleichen Mitteln zurück zahlen. Dann entscheiden nicht mehr Politiker, sondern Militärs über unsere Zukunft.
Den Differenzpunkt bei aller Notwendigkeit zu entschlossenem militärischem Widerstand setzt ein kritisch verstandener Pazifismus, den ein besonnener General a.d. wie Erich Vad setzt, wenn er warnt, „die Lieferung schwerer Waffen käme einem Kriegseintritt Deutschlands extrem nahe“ (Hilmar Klute, SZ Nr. 92 / 22.04.2022, S. 11). Es sind führende Kräfte der Bundeswehr, die befinden, „dass es gerade nicht die Stunde der Bundeswehr ist, die schlägt“ (Hilmar Klute, SZ Nr. 92 / 22.04.2022, S. 11). Vielleicht ist darin auch die vermeintliche Zögerlichkeit von O. Scholz begründet.
Kritischer Pazifimus beruht auf Mitgefühl. Mitgefühl, achtsamkeitspsychologisch gesehen, verbündet sich mit den betroffenen Menschen und schafft mit ihnen zusammen eine reflexionsfördernde Distanz zu deren Lage. Das ist etwas anderes als Mitleid, das sich mit der Lage des Betroffenen identifiziert und damit jede kritische Distanz unmöglich macht. Betroffenheit durch die im europäischen Kontext unvorstellbaren Gräueltaten Russlands in diesem Krieg, die möglicherweise auch Gräueltaten der verteidigenden Ukraine provozieren, kann ein starkes Motiv für eine neue Sicht der Dinge sein. Sie darf nie zur Denk- und Handlungsform werden, mit der Lage umzugehen. Es ist überaus beruhigend, dass in unserem Land gerade Militärs einen kritischen Pazifismus ins Spiel bringen, wo Politiker betroffenheitsgetrieben agieren. Es ist auch an der Zeit, naive Friedensbewegtheit durch einen kritischen Pazifismus abzulösen. Wo kritische Rationalität ihren Platz behält – und damit ist nicht das neoliberale Denkmuster der unbedingten Wahrung ökonomischer Interessen gemeint -, kann „zentralen Mechanismen kollektiver Unterwerfungsbereitschaft, die auch unter gesellschaftlichen Bedingungen Gültigkeit haben, die weit entfernt scheinen von der historisch kontingenten und überholten Form des Stalinismus“ (Köhlmeier & Liessmann, 2019, S. 75), gegengesteuert werden. Der Zweck, Frieden wieder her zu stellen, heiligt nicht unbedingt jedes Mittel der Kriegsführung. Die Mittel können den Zweck entwerten. Das in rationalen Diskursen auch während der Kriegszeiten zu bedenken, erhält dem Frieden eine realistische Chance. Im Frieden wollen wir doch alle nach diesem ungerechtfertigten Krieg leben. Mit dem Wissen, dass er nicht selbstverständlich ist.
Quellen:
Klute, H.: Eine Frage der Verpanzerung, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 92 / 22.04.2022, S. 11
www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw08-sondersitzung-882198
https://www.n-tv.de/politik vom 16.04.2022
Köhlmeier, M., Liessmann, K.P. (2019): Der werfe den ersten Stein. Mythologisch-philosophische Verdammung. München