Bitte, geben Sie den Paternalismus auf!

Sehr geehrter Herr Außenminister Kuleba,

„Manchmal ist es günstiger, einem anderen zu helfen und eine kurze Zeit der Entbehrung auszuhalten, anstatt zuhause zu sitzen, Fernsehen zu gucken und nichts zu machen, einfach zuzulassen, dass das Problem letztendlich an die eigene Türe klopft.“(1) Das sagten Sie an die Adresse der Deutschen bei Bild TV, wie heute die Süddeutsche Zeitung zu einer dpa-Meldung berichtet.

Den Stil, in dem Sie und leider auch andere Mitglieder der ukrainischen Regierung, in Ihren Äußerungen gegenüber Europa, dessen Regierenden und der europäischen Bevölkerung pflegen, kann ich nur schwer akzeptieren. Er wird zunehmend unerträglich. 

Ich bleibe zur Veranschaulichung bei Ihrem jüngsten Satz. Er klingt wie aus dem Mund eines Vaters. Sie verkleiden, wie es Väter gerne tun, in Ihrer Abwägung („günstiger anderen zu helfen als zuhause zu sitzen“) einen inhaltlichen Vorwurf in sachliche Sprache. Die Vergleichsform (günstiger als) eröffnet einen scheinbaren Abwägungsspielraum. Den sachlichen Schein daran entlarvt der Inhalt des Vergleiches: Moralisch erwünschtes Verhalten (einem anderen helfen und Entbehrung auszuhalten) wird gegen die bürgerliche Bequemlichkeit (zuhause sitzen, Fernsehen, nichts machen) gestellt. Damit die Kinder die Dringlichkeit des Appells einordnen können, weisen Sie im Folgesatz auf die bedrohliche Folge der Bequemlichkeit hin. 

Der Hinweis auf die Folge, nämlich dass das Problem an die Türe klopft, weil die Kinder „nichts machen, einfach zulassen“, moduliert den Vorwurf in eine moralische Wertung. Sie zeigen uns Nichtentscheidungsträgern, die aus ihrer Sicht zu wenig bereit sind, für die Ukraine aktiv zu werden, wie wir aktiv werden können. Sie verbinden dabei das Helfen, wofür sich Ihr Präsident erst kürzlich wieder ausdrücklich bedankte, mit etwas moralisch Anstrengendem, Entbehrungen aushalten. Das ist eher nicht beliebt, eben weil es um „aushalten“ geht, nicht um „machen“. Flüchtige zu versorgen und Waffen zu liefern ist eben spektakulärer als Preissteigerungen und Verknappungen in einigen Lebensbereichen hinzunehmen. Sie spielen in Ihrer Aussage nicht nur mit dem öffentlichen Ansehen von Tatkraft, sondern vor allem mit der Rangordnung der Wertebreiche. Aushalten im Sinne des entschiedenen, weil sinnmotivierten Leidens an etwas ist ein ranghöherer Wert als die Leistung des Machens und der Tat. Diesen Gedanken trauen Sie, in Ihrer väterlichen – oder eher paternalistischen – Art zu kommunizieren, uns verwöhnten Kindern gar nicht zu. Sie liefern deshalb die moralische Skala in Ihrer oben zitierten Aussage als impliziten Impuls mit. Das erzeugt bei den Kindern Beschämungsgefühle und ein schlechtes Gewissen. 

Ich übersetze Ihre Aussage in die Eltern-Sprache: Ihr Kinder sitzt zu Hause rum, hängt am Fernsehen. Ihr macht nichts und lasst zu, dass das Böse sich in Nachbars Garten breit macht. Ihr solltet endlich aktiv werden, helfen und auch mal aushalten, dass ihr euch einschränken oder anstrengen müsst. Letzteres ist, sehr geehrter Herr Kuleba, nicht – wie Sie euphemistisch sagen- „günstiger“. Es ist das moralisch Erwünschte, auf das Sie hinstoßen wollen. Wenn da nicht der von Ihnen angebotene „faire Deal“ nachgeschoben worden wäre: „Gebt uns alles, was wir brauchen, und wir werden Russland einhegen und in der Ukraine besiegen, damit sie niemals bei euch an die Tür klopfen.“ (Quelle: siehe Fußnote 1) 

Fairness besteht darin, dass das Angebot für beide Seiten realisierbar ist. Fairness setzt nicht nur eine organisierbare Vereinbarung, sondern eine vertrauensvolle Beziehung voraus. Und dann ist das kein Deal mehr. Oder es ist eben nur ein Deal, aus dem man sich bei Gelegenheit wieder herauswinden kann. Ihre Seite des Deals ist „nur“ ein Versprechen. Was an diesem Versprechen aufhorchen lässt, ist das Besiegen Russlands in der Ukraine. Haben Sie also die Überzeugung der Verhandelbarkeit eines Waffenstillstandes, der zu einem Frieden führen kann, aufgegeben? Sind Sie wirklich der Meinung, dass sich ein von Herrn Putin geführtes Russland durch einen Sieg der Ukraine „einhegen“ lässt?

Die Folge dieses „Einhegens“ wird kein Friede sein. Die Folge wäre die angstbasierte Kontrolle Russlands durch militärische und ökonomische Überlegenheit Europas. Abwesenheit von Krieg und Feindseligkeit ist nicht schon Friede, wie I. Kant überzeugend darlegte (2). Friede beruht auf einem komplexen Stiftungsakt, der verbindliches Recht schafft, innerhalb der beteiligten Staaten, zwischen den Völkern und für die gesamte Weltgemeinschaft. Friede setzt also Vertrauen voraus, das sich in Recht ausdrücken lässt. Vielleicht sind mit dem Russland Putins auch nur Deals möglich. Die Europäer jedoch sollten, um an politischem Gewicht zuzulegen, unter einander Vertrauen schaffen.

Paternalistische Einlassungen wie die Ihre, die auf sublime Weise schlechtes Gewissen erzeugen wollen, die das Gegenüber wie Menschen behandelt, die ihre Rationalität und ihren moralischen Sinn dem Wohlleben geopfert haben, sind unangemessen. Auch ich sitze zu Hause und verbringe dort seit dem ungerechten und unverantwortlichen, dem sinnwidrigen und grausamen Angriff Russlands auf die Ukraine, sehr viel Zeit mit Zeitungslektüre, Internetrecherche und Fernsehen zu diesem Krieg. Ich begann mich mit philosophischen Texten zum Frieden zu beschäftigen. Ich versuche, meinen naiven Pazifismus in einen kritischen Pazifismus umzudenken. Ich lese mich gerade wieder einmal in das Thema „Schmerz“ ein, angeregt durch eine Äußerung der deutschen Außenministerin am Dienstag, den 10.05., in der Ukraine: Frau Baerbock wies auf die Notwendigkeit hin, vor allem auch den Schmerz der Menschen im Krieg, ebenso wie die Kriegsverbrechen festzuhalten. Ich weiß, dass Entbehrungen notwendig sind, um nicht nur von militärischer Gewalt gegenüber Russland abhängig zu sein. Ich sehe in den Einschränkungen des Wohlstands eine sinnvolle Form von Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Aber ich mochte es noch nie, paternalistisch behandelt zu werden. Ich lasse mich durch Nachdenklichkeit, die rationale Debatte und auch den direkten moralischen Impuls anregen, wenn mich jemand mit Autorität, menschlicher, rationaler, moralischer, anspricht. Für mich sind Sie mit der – und jetzt bewerte ich bewusst – zuweilen perfiden Hemdsärmlichkeit Ihrer Äußerungen dabei, diese Autorität durch einen nur vermeintlich moralisch autorisierenden Heroismus zu verspielen.

Christoph Riedel

(1) https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-krieg-gegen-die-ukraine-so-ist-die-lage-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220515-99-292553 [Zugriff am 15.05.2022]

(2) Kant, I. (1984): Zum ewigen Frieden (ed. Buhr, M. & Dietzsch, S., Leipzig (Reclam), S. 14)

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