„Der größte Wunsch der Menschen sei es, der Welt deutlich zu machen, welche Verbrechen passiert seien und wie groß der Schmerz sei.“ So greift die Süddeutsche Zeitung eine Äußerung der Außenministerin A. Baerbock während des Besuches am 10. Mai 2022 auf. (https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/baerbock-in-der-ukraine-die-bilder-e877423/) „Wie groß der Schmerz sei“, diese Worte wiegen schwer; denn sie leiten die Aufmerksamkeit auf das, was wir gerne übersehen: den Schmerz der Menschen in der Ukraine.
Es kommt nicht von ungefähr, dass wir den Schmerz ignorieren. Byung-Chul Han geht in seinem Essay „Palliativgesellschaft. Schmerz heute“ (1. Auf. 2020) der in unserer Gesellschaft verbreiteten „Algophobie“ nach, die er als „eine generalisierte Angst vor Schmerzen“ definiert (Han 2021, S. 7). Abgesehen davon, dass eine generalisierte Angst in klinisch-psychologischer Sicht gerade keine Phobie darstellt (ICD 10 F 40 (Phobische Störungen) und F 41.1 (generalisierte Angststörung)), sprechen die Analysen der Einstellung zum Schmerz durchaus für die These, dass in der europäisch-westlich geprägten Gesellschaft die „Passivität des Leidens … keinen Platz in der vom Können beherrschten Aktivgesellschaft“ (Han 2021, S. 10) hat. Die „Negativität des Bruchs, die schmerzt“ (Han 2021, S. 13) wird vermieden. „Konflikten und Kontroversen, die zu schmerzhaften Auseinandersetzungen führen könnten, wird immer weniger Raum gegeben.“ (Han 2021, S. 7). Letztlich setzen wir uns durch das Ignorieren des Schmerzes in der „Hölle des Gleichen“ gefangen (Han 2021, S. 13). Widerspruch, Reibung, Schwäche, Erschöpfung werden auf vielfältige Weise, oft in digitaler Form (Han 2021, S. 64 f.) ummantelt, immer mit dem Ziel, das Leben schmerzlos zu machen. Die Abwesenheit des Schmerzes ist vermeintlich das Glück der Behaglichkeit (Han 2021, S. 81). „Die Hölle des Gleichen ist eine palliative Wohlfühlzone.“ (Han 2021, S. 52)
Nun bricht in diese gesellschaftliche Gesamtlage der schonungslose und brutale Krieg des russischen Regimes gegen die Ukraine ein. Er schafft Unsicherheit, Zerstörung und Leid. Menschen sterben. Viele erleben den Verletzungstod nächster Menschen, Verstümmelung und Vergewaltigung, die Vernichtung der Lebensgrundlagen und die Verwüstung des Lebensortes. Viele fliehen, um zu überleben. Die Menschen in der Ukraine leiden gewaltigen Schmerz. Wie gehen wir politisch und gesellschaftlich damit um?
Einerseits machen wir den Krieg informell unmittelbar verfügbar. Wir können die Medienbilder und Kommentare auf allen Kanälen immer und immer wieder betrachten und anhören. Die Tatsachen wandeln sich dadurch langsam und unmerklich in Information über Tatsachen um. Durch die medialen Wiederholungsschleifen wird Information zum Kommentar und letztlich zu Talkinhalten. Der Schmerz, den die facta bruta auslösen, löst sich in der Talkrunde auf – und die menschliche Reaktion auf den Schmerz unterbleibt.
Walter Benjamin (1892 – 1940), der kulturkritischer Denker, beschrieb in einem kurzen Text „Erzählung und Heilung“, wie Menschen mit dem Schmerz anderer umgehen: Die Mutter setzt sich ans Bett und erzählt dem kranken Kind Geschichten. Ein Bekannter erzählt Benjamin von der „sonderbaren Heilkraft, die in den Händen seiner Frau gelegen habe. Von diesem Händen aber sagte er: … Es war, als ob sie eine Geschichte erzählten.“ (2011, S. 469) Sprechen und Berühren, das sind menschliche Verhaltensweisen zum Schmerz anderer. Benjamin reflektiert dazu: „Bedenkt man, wie der Schmerz ein Staudamm ist, der Erzählströmung widersteht, so sieht man klar, daß er durchbrochen wird, wo ihr Gefälle stark genug wird, alles, was sie auf diesem Weg trifft, ins Meer glücklicher Vergessenheit zu schwemmen. Das Streicheln zeichnet diesem Strom ein Bett.“ (Benjamin 2011, S. 469) Flüchtige aus dem Kriegsgebiet werden bei ihrer Ankunft umarmt und sie werden angesprochen. Die Hilfsbereitschaft ist enorm, wenn der Schmerz der Menschen unmittelbar begegnet. Was aber ist mit dem Schmerz derer, die in der Ukraine bleiben?
Einerseits machen wir den Krieg informell unmittelbar verfügbar. Das fördert die Solidarität mit den Menschen, die in ihrer Not auf uns zukommen und sich uns anvertrauen. Andererseits stellt sich die Frage: Wie begegnen wir dem Schmerz der Geflüchteten? Wie begegnen wir dem Schmerz derer, die in der Ukraine bleiben?
Was auffällt, ist ein unglaublicher politischer Rüstungsaktivismus. Es irritiert schon, wie plötzlich auch politisch Verantwortliche der Parteien, die sich bisher mindestens friedensorientiert gaben, ungeheure Beträge für Rüstungsgüter mobilisieren. Noch mehr irritiert, dass das Thema der Waffenlieferungen und der militärischen Unterstützung zu affektiv aufgeladener Getriebenheit führt, vor allem bei PolitikerInnen, die die Kriegsorte der Ukraine besuchten. Aktivismus ist auch eine Form der Schmerzignoranz, wenn er vorwiegend durch die Bewältigung der subjektiven Betroffenheit motiviert ist. Aktivismus verdeutlicht unser mangelndes Vermögen, uns dem Schmerz zu stellen. Aktiv glauben wir, über den „Staudamm des Schmerzes“ (W. Benjamin) hinweg zu kommen. In all den kommentierten Aufregungen jedoch fehlt die Erzählung dessen, was die vielen Menschen im Krieg wirklich betrifft. Der Schmerz am Leben, den die vielen physischen, mitmenschlichen und sicher auch ideellen Wunden wachrufen und aufrecht erhalten, ist in allem Gerede nicht hörbar. Es entsteht keine lindernde Erzählströmung, die den Staudamm Schmerz durchbricht, weil kaum jemand zu diesen Erzählungen bereit ist. Dann für den Erzählenden wäre die entschiedene Wahrnehmung des Schmerzes, das Sich-dem-Schmerz-Stellen, der Ausgangspunkt seines Erzählens.
Was also ist der Schmerz, dass wir ihn ignorieren?
Schmerz tritt bei körperlichen, psychischen und sozialen Verletzungen auf. Er macht auf sie aufmerksam. Zuerst wird verspürt, dass eine Verletzung eingetreten ist. Dann wird die Aufmerksamkeit auf das am Menschen gelenkt, was verwundet ist. Der Schmerz aktiviert also die Selbstwahrnehmung. Wer Schmerz erlebt, ist in seiner ganzen Person davon betroffen. Er fühlt sich geschmerzt. (Kuhl 2010, S. 476 f.) Häufig tritt der Schmerz gemischt mit Angst auf (Aulbert 2007, S. 250). Die Angst warnt vor Bedrohung. Der Schmerz macht auf die erfolgte Verletzung aufmerksam. Er wird durch Angst verstärkt, wenn von der Verletzung eine innere Bedrohung für den Betroffenen ausgeht. Es geht jetzt um Schutz des verletzten Menschen.
Die äußerst verknappte Beschreibung des Schmerzes darf nicht darin täuschen, dass die Schmerzforschung bis heute das Phänomen Schmerz nicht definieren kann. Vor allem die existenzielle Dimension des Schmerzes erscheint allein mit biologischer und psychologischer Forschung kaum zugänglich zu sein. „Der Schmerz ist offenbar mehr als nur ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis. Als Gegenpol zum Wohlbefinden und als verbindendes Gefühl mit anderen führt er uns durch die Welt. Unser Umgang mit dem Schmerz erzählt etwas darüber, wie wir zur Welt stehen, welche Werte wir leben, wie es um uns bestellt ist. Jedes weitere Schmerzerlebnis verändert dieses Bild.“ (Albrecht 2016, S.45) Schmerz ist veränderbar. Er ist dynamisch.
Menschen aus dem Kriegsgebiet sprechen kaum über ihren Schmerz. Schon gar nicht vor der Kamera und ins Mikrophon. Sie erzählen von den Toten in der Familie, im Freundeskreis und in der Nachbarschaft. Der Lebensort hat sich zum Sterbeort verändert. Sie erzählen vom Verlust des Zuhause, das von Bomben, Brand oder Soldaten verwüstet wurde. Der Lebensraum wurde zerstört, während das Leben im Bunker oder durch Flucht bewahrt wurde. Sie erzählen von Durst und Hunger, vom Wegbrechen medizinischer Behandlung, von notdürftig behandelten Verletzungen. Der vertraute Leib als das Eigene (Blumenberg 2020, S. 770 ff.) wird entstellt und fremd, auch für den Fremden verfügbar gemacht. Es zieht sich, achten wir auf die Erzählungen, mehr als Unterbrechung, es zieht sich ein Riss durch das Leben und die Lebenswelt der Betroffenen. So sehr das Leben lieb ist, so fremd wird es im Krieg vor sich selbst. Das ist Schmerz.
Martin Heidegger (1889 – 1976) fand dafür die Sprache: „Doch was ist der Schmerz? Der Schmerz reißt. Er ist der Riß. … Der Schmerz ist der Unter-Schied selber.“ (Heidegger 1979, S. 27) Im Schmerz erlebt der Einzelne den Unterschied, das, was sein Leben bis zum Schmerzanlass vom Leben im Schmerz unterscheidet. Er erlebt, dass sein Erleben des Schmerzes, so fremd er sich im Schmerz auch werden mag, nicht mit dem Schmerz des anderen austauschbar ist. Der Anlass für den Schmerz mag vergleichbar sein, der Verlust lebenswichtiger Menschen, des Zuhauses, der Sicherheit, der Perspektive. Der Schmerz darüber ist höchstpersönlich. Insofern unterscheidet der Schmerz die Menschen und verbindet sie zugleich: „Der Schmerz umgreift gleichsam unser Leben und fordert uns beständig neu heraus. Es ist viel, was der Schmerz von uns verlangt.“, sagte der hochbetagte und sehr lange mit Schmerzen lebende Philosoph Hans G. Gadamer (1900 – 2002) in einer Vorlesung zwei Jahre vor seinem Tod (Gadamer 2010, S. 27).
Die Herausforderung des Schmerzes ist zunächst eine persönliche: „Unbedingt erforderlich ist es, den Mut nicht aufzugeben, ganz egal wie groß der Schmerz sein mag.“ (Gadamer 2010, S. 27) Schmerz appelliert aber auch an den Mitmenschen, dem Geschmerzten mit Mitgefühl und helfend zu begegnen. Beider bedürfen Menschen im Schmerz, des Lebensmutes, der zuweilen auch die Schwermut sein kann, der dem Geschmerzten Stand verleiht (Heidegger 1979, S. 235), und des Mitgefühls der anderen, die darin zu Mitmenschen werden.
Um zu erfassen, „wie groß der Schmerz sei“, wie A. Baerbock es sagte, müssen wir uns dem Schmerz stellen. Der Schmerz braucht, zu Sterben und Tod gehörig, wieder Raum in unserem Leben und in unserer Gesellschaft. Auch das gehört zu einem kritischem Pazifismus: Wenn wir uns dem Schmerz der Ukrainer verschließen, werden sie nur als militärisch gerettete „Untote“ überleben (Han 2021, S. 81), nicht als Individuen mit einer höchstpersönlichen Leidensgeschichte. Wir entwickeln nicht das Gefühl einer achtsamen Verbundenheit mit ihnen, das jedem Ukrainer fühlbar macht, dass sein Schmerz von uns ernst genommen wird. Dass das heroische Verhalten sich gelohnt hat, weil auch der Schmerz sein darf. Der Schmerz, mit dem das frische Grab ausgehoben und das neue Haus zum Leben gebaut wird. Der Schmerz, der das Feiern begleitet und in dem die Trauer lebt.
Wir müssen uns auch unserem eigenen Schmerz stellen, damit wir verstehen, dass sich aus der Rolle des Beteiligten am Krieg rasch die Betroffenheit durch den Krieg entwickeln kann. Was schmerzt mich an dem, was Menschen in der Ukraine durch den Krieg erleben? Wozu fordert mich mein Schmerz auf? Halte ich ihm stand, auch wenn es noch lange dauert, bis die Waffen schweigen? Wir werden festen Stand brauchen, die Schwermut, um den Schmerz dieses Krieges mit zu tragen. Wir werden viel Mut brauchen, um den Schmerz wieder mit dem Leben „zu verwinden“. „Nichts läßt den Schmerz am ehesten erträglich werden als das Gefühl, es geht mir etwas auf, mir fällt etwas ein. Es gibt ja immer ein ganzes Arsenal Unerledigtes, das wir zu verwinden trachten. In diesem Sinne ist der Schmerz eine große Chance, vielleicht die größte Chance, endlich mit dem ‚fertig zu werden‘, was uns aufgegeben ist.“ (Gadamer 2010, S. 27)
- Aulbert, E. (2017): Psychische Grundlagen von Schmerzempfinden, Schmerzäußerung und Schmerztherapie, in: Aulbert, E., F. Nuack, L. Radbruch (Hg., 2. Aufl. 2007): Lehrbuch der Palliativmedizin. Stuttgart (Schattauer), S. 250 – 258
- Albrecht, H. (2016): Schmerz. Eine Befreiungsgeschichte. München (Droemer)
- Benjamin, W. (2011): Gesammelte Werke II. Frankfurt (Zweitausendeins)
- Blumenberg (2. Aufl. 2020): Beschreibung des Menschen. Frankfurt (Suhrkamp)
- Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. (Hg., 10. Aufl. 2018): ICD 10. Internationale Klassifizierung psychischer Störungen. Kapitel V (F). Bern (Hogrefe)
- Gadamer, H.G. (2. Aufl. 2010): Schmerz. Heidelberg (Winter)
- Han, B.-C. (3. Aufl. 2021): Palliativgesellschaft. Schmerz heute. Berlin (Matthes & Seitz)
- Heidegger, M. (6. Aufl. 1979): Unterwegs zur Sprache. Pfullingen (Neske)
- Kuhl, J. (2010): Lehrbuch der Persönlichkeitspspychologie. Göttingen u.a. (Hogrefe)