Mein Altern

Es sind die Körperweiser (Riedel & Bögner 2021), in denen sich mitteilt, was wir gerne überhören, übersehen, übergehen. Auch mein Körper setzte für mich so ein Ausrufezeichen. Ich war nämlich drauf und dran, meinen Ruhestand wieder in Berufszeit umzuwandeln. Der Selbsttäuschung gab ich den Namen „aktiver Ruhestand“. Nein, es sollte nicht der „Unruhestand“ anderer Rentner sein, immer mit etwas beschäftigt, ohne Zeit und Ruhe für die Unterbrechung zu haben und dann doch im Fitnessstudio sich stundenlang von Mitschwitzender zu Mitschwitzendem durch zu plaudern. Es sollte ein strukturierter, Forschungsziele verfolgender Ruhestand sein, in dem disziplinierte Recherche und Lektüre sich mit produktiven Schreibphasen und wiederkehrender Dozenten- und Referententätigkeit abwechselte. Aktivitäten eben, die sich an meine beruflichen Tätigkeiten anschlossen – jetzt mit anderem Schwerpunkt und in selbstgesetztem Rahmen. Die Pandemie lud geradezu zu solchem Rückzug in die intellektuelle Innerlichkeit ein. 

Und dann streikten Ende März diesen Jahres mein Herz und meine Lunge. Die Sprache meiner Körperweiser wurde unüberhörbar: Es ist zu viel. Es dauerte mehrere Wochen, bis ich mich langsam und zögerlich auf den von meiner Schwäche, Mattigkeit, Ermüdbarkeit, Erschöpfung gewiesenen Weg der Selbstaufmerksamkeit begab. Ich kenne die Beschwerden aus meinem Beruf, als Therapeut und als Betroffener. Doch jetzt? Im Ruhestand, nach einem guten Jahr des Rückzugs aus jeglicher Behandlungs- und Beratungstätigkeit. nach dem Ende der Lehrtätigkeit an der Hochschule? Es dauerte, bis ich einsah, dass ich es auch ohne stetige berufliche Verpflichtungen schaffte, Arbeitsstrukturen aufzubauen, durch die ich mir mehr abverlangte, als gut ist für mich. Keiner verlangt von mir, ein 900 Seiten dickes, schwieriges philosophisches Werk innerhalb einer bestimmten Zeit durchzuarbeiten, also wichtige Quellenangaben zu verifizieren, mich in Quellentexten der argumentativen Kontexte des Autors zu versichern, zu exzerpieren und gleich kritisch zu kommentieren. Wissenschaftlich-forschende Lektüre eben. Keiner verlangt von mir, täglich eine bestimmte Anzahl von Textseiten zu produzieren, nicht als Entwürfe, sondern möglichst nah an der Druckreife. Daneben verfasste ich noch eilig den einen oder anderen Fachartikel, optimierte meine Kursunterlagen oder erstellte neue Workshops. 

Es war einfach zu viel für mich. Denn in den Ruhestand einzutreten, dafür gab es ja gute Gründe, die mit mir persönlich zu tun hatten. Längst verlangten intensive Arbeitsphasen deutlich verlängerte Regenerationszeiten. Längst sah ich es nicht mehr ein, mich in den beruflichen Arbeiten an widersinnige Bedingungen von Auftraggebern anzupassen – oder mich für undurchdachten Schwachsinn eines Arbeitgebers einzusetzen. Ich wollte die Ruhe, die Unbeschwertheit und die Zeit haben, mich dem zu widmen, was ich für sinnvoll hielt. Ich wollte meine Fähigkeiten und meine Energie für meine persönlichen Projekte einsetzen, ausschließlich und ohne Verhandlungen. So hatte ich mir meinen Ruhestand vorgestellt: in Maßen wissenschaftlich aktiv, in mein Klavierspiel investieren, mich lustvoll fit zu halten, immer wieder einigen Referentenverpflichtungen nachzugehen  und für die wenigen wichtigen Menschen im Leben erreichbar zu sein. Die Pandemie brachte einiges durch einander. Und ich selbst auch, wie meine Körperweiser erzählen. Eines hatte ich nämlich bei alldem übersehen: mein Altern. 

Der Ruhestand bezieht ja seinen ureigenen Wert daraus, das Leben so zu gestalten, dass dessen Grundspannung den faktischen Kräften angepasst ist. Das ist leicht geschrieben und doziert, verlangt in der persönlichen Verwirklichung einige Aufmerksamkeit für jemand, der einem der nächste ist, den man jedoch gerne übersieht: Aufmerksamkeit für mich selbst. Wie verändere ich mich? Wie verändert sich mein „Wertgesichtsfeld“ (Böschemeyer o.J., S. 155)? Wie verändern sich mein Energiehaushalt und meine Kräfte? Was in mir und an mir braucht sorgsame Zuwendung, Pflege? Welches Verständnis bringe ich mir entgegen, vor allem für das, was ich anders erlebe, als ich es gewohnt bin? Welche neue Gewohnheiten darf ich einfach gut heißen? Wie heißen meine „zweiten Pfeile“ der Selbstabwertung (Hanson & Mendius 2012, S. 68 f.), weil ich nicht mehr so bin, wie ich mich sehe?

Altern hat nichts mit Verschlechterung zu tun. Es bedeutet, dass sich einiges und immer mehr Gewohntes verändert. Manchmal nehme ich auch Schaden: das Herz, die Lunge. Das können dann Körperweiser sein für das, was ich ändern sollte – nicht dringend oder schnell, sondern in der meinem Zustand angemessenen Zeit. Lernen eben, allmähliche Einübung von neuen Anpassungen, die zu veränderten Passungen führen: Es gelingt mir – noch nicht oft genug, aber immer häufiger – auch „faule“ Tage einzulegen. Ich nehme dazu den sanften Druck meines Körpers wahr, der signalisiert: Eine Pause tut dir gut. Nicht beschäftigt beschäftige mich dann mit dem, was ich auch gern mag: Zeitung lesen, meine Fotoamera in die Hand nehmen, in aller Ruhe Brot zu backen oder auch im Internet zu surfen, einfach so, ohne Rechercheabsicht. Und beim Radfahren nicht nur Kilometer zu fressen, sondern auch schöne Ecken zu sehen und in mich aufzunehmen. Es ist fein, mir Zeit für ein ausgiebiges Telefonat für einen der wichtigen Menschen in meinem Leben zu nehmen. Und manchmal gelingt es mir, mir etwas zu gönnen, was ich als junger Mensch gut konnte: einfach in meinem Lieblingsstuhl sitzen und nur da zu sein. Das ist es, was ich mir wünsche, wieder besser zu können, weil es einfach und gut ist. Darum gönne ich es mir, nur da zu sein. Immer wieder einmal.

Böschemeyer, U. (o.J.): Herausforderung zum Leben. Lebenskrisen und ihre Überwindung. Hamburg (Books on Demand)

Hanson, R. & Mendius, R. (4. Aufl. 2012): Das Gehirn eines Buddha. Die angewndte Neurowissenschfat von Glück, Liebe und Weisheit. Freiburg (Arbor)

Riedel, C. & Bögner, F. (2021): Embodied Care. Teil 1 u. 2, in: Praxis Palliative Care Nr. 52 und 53 (Praxisbeilagen)

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