Ich bin an einer Infektion mit dem Sars-Cov-II-Virus erkrankt. Nach 10 Tagen, seit Freitag, den 08. Juli 2022, ist die Virenlast laut PCR-Test nicht mehr zwingend ansteckend. In den kommenden fünf Tagen soll ich nach wie vor Kontakte in geschlossenen Räumen vermeiden und außerhalb der Wohnung eine FFP2-Maske tragen. Spannenderweise wäre ich arbeitsfähig, in geschlossenen Räumen, im Kontakt mit KursteilnehmerInnen, PatientInnen.
Ich fühle mich nach wie vor krank. Die deutlichen Symptome sind abgeklungen. Ich lebe jedoch in bleierner Müdigkeit und Mattheit. Jeder Morgen verlangt eine langsame Anpassung an den Tag. Nicht, dass ich keine Motivation hätte; jedoch fordert mich jedes Tun, ob im Schwerpunkt kognitiv oder physisch, so sehr, dass ich nach kurzer Zeit erschöpft bin. Hinlegen und schlafen, so würde ich am liebsten mehrmals am Tag regenerieren. Immer wieder Atemnot, Schwindelgefühle bei raschen Bewegungen, fast keine Ausdauer, aber auch Schwierigkeiten mit der Konzentration, mit der Merkfähigkeit, erschwerte Wortfindung, Flüchtigkeit im Zuhören und eine wahrnehmbar reduzierte Fähigkeit der Selbststeuerung, damit lebe ich, seit das Virus in mich eingedrungen ist. Das sog. „Freitesten“ ist ein Euphemismus, der suggeriert: Wenn keine bedeutsame Virenlast mehr nachweisbar ist, dann bist du gesund. Das erweist sich als Irrtum. Die Lebensfähigkeit erscheint mir erheblich eingeschränkt. Das Leben ist gerade durch den Eindringling, den Fremden, das Virus, mühsam geworden.
In seinem grandiosen Essay „Der Eindringling. Das fremde Herz“ reflektiert der französische Philosoph Jean Luc Nancy (2000) seine Selbst- und Weltbeziehung nach einer Herztransplantation. Da ich derzeit nicht über die Energie zu einer originären Reflexion meines Zustandes nach der Infektion mit Sars-Cov-II verfüge, adaptiere ich einige wenige von Nancys Gedanken auf meine Lage.
Das Virus ist ein Eindringling. Es kommt ungefragt, ungebeten, nicht eingeladen. Es ist ein Fremder und bleibt, auch wenn es sich einzelner Teile meiner DNA bemächtigt, ein Fremder. Das Virus wird nicht „heimisch“ (Nancy 2000, S. 7). „Sein Ankommen ist in jeder Beziehung immer noch ein Eindringen. Es kann sich auf kein Recht, keine Vertrautheit, keine Gewöhnung berufen, im Gegenteil: es ist eine Störung, ein Aufruhr im Innersten.“ (Nancy 2000, S. 7) Was Nancy über das neue, ihm fremde Herz, das in ihm schlägt, schreibt, lässt sich in anderer Tonart auch auf das Corona-Virus modulieren. Das Virus begegnet mir und ich erkenne es nicht. Ich will es nicht aufnehmen. Ich schütze mich durch Abstand, Maske und Hygiene. Es dringt trotzdem in mich ein. Es besiedelt die Schleimhut meiner Atemwege. Es benützt meinen Organismus als Lebensort, an dem es sich vermehren kann. Es macht mich zum Wirt und damit zum Handlanger, um das Eindringen in andere Menschen vorzubereiten. Zunächst stehe ich dem Geschehen ohnmächtig gegenüber.
Die Vorhandenheit der Viren ist fremdes Leben in mir. Sie löst Prozesse des eigenen Widerstands aus. Eines meiner lebenswichtigen Organe, das Immunsystem, wird aktiv, wehrt den Eindringling ab. Es lässt das Virus den Fremdkörper bleiben, der es ist. Fieber, Schmerzen, Schwäche, das ganze Elend meines Menschseins muss ich erleben. Auf einmal werde ich in den Prozess des biologischen Lebens aufgehoben mit dem Ziel, zu überleben. Und: ich werde nicht gefragt. Es geschieht. Mein Körper organisiert, abseits meines Wollens, ein Überleben, das ich dann zu führen habe. Ich fühle mich elend.
Was heißt „elend“? Das aus dem Althochdeutschen stammende Wort „elilenti“, im Mittelhochdeutschen dann „ellende“, ist verwandt mit dem griechischen Wort allos und dem lateinischen alius, anders, fremd. Der „Elende“ ist der Fremdling, der an dem Ort, wo er sich gerade befindet, keine Heimat hat und damit keinen Schutz (Etymologisches Wörterbuch. Band 1, 1989, S. 349 f.). Wer sich in seinem Elend wahrnimmt, ist sich selber fremd geworden. Er fühlt sich aus sich selber „ausgesetzt“ (Nancy 2000, S. 47). Das erlebe ich in jedem Corona-Test: Ich teste mich, um zu erfahren, wie sich der Eindringling in mir verhält, ob er mich noch in vollem Umfang nützt oder ob meine Immunabwehr ihn bereits zu kontrollieren beginnt. Ich setze mich dem objektiven Messen aus, um den immunologischen Abwehrerfolg zu verobjektivieren. Die Zeit zwischen Eindringen und Abwehr aber erleide ich. „Das Leiden ist das Verhältnis zwischen einem Eindringen und seiner Abwehr.“ (Nancy 2000, S. 41)
Dieses Leiden ist mein Leben mit dem Prozess von Eindringen und Abwehr. Ich bin es, der dieses Leid spürt, erträgt, aushält. Bin ich es wirklich, frage ich mich immer wieder, oder hat mich das Virus meiner selbst entfremdet, mich ins Elend vertrieben? Mir scheint, dass hier die existenzielle Frage aufbricht, in der der Infizierte sich als Kranker erlebt. Ich leide an dem fremden Virus und zugleich an dem Prozess der Abwehr: Ich erlebe Schmerzen. Ich habe keinen Appetit mehr. Ich fühle mich erschöpft, matt und müde. Ich bin für mich selbst verändert durch den Eindringling. Ich bin zum Wirt geworden für das fremde Virus. Deshalb gehört es zu meiner Verantwortung, andere vor mir zu schützen. Ich gehe in Quarantäne, unterbreche den Alltag, verändere mein Weltverhältnis. Das wirkt sich auch auf mein Selbstverständnis aus. Ich bin mit mir und einer reduzierten Lebenswelt allein. Kann meine Immunabwehr mein Leben schützen? Welches Leben? Solche Fragen erschließen mir Freiräume.
Ein Freiraum besteht in meinem verantwortlichen Leben mit dem Fremden in mir. Ich biete meine Selbstwirksamkeit auf, um meiner Verantwortung gerecht zu sein, andere vor der Wirkung des ungewollten Eindringling zu schützen. Meine Freiheit besteht in der Selbstbeschränkung durch Quarantäne. Es ist ein psychisch anspruchsvoller Prozess, in meiner Schwäche Verantwortung dafür zu übernehmen, was mir ungefragt widerfahren ist. Den persönlichen Freiraum einschränken zu sollen, um andere nicht in dieselbe Lage zu bringen, in der ich bin. Es geht in meinem Abwehrprozess um den Schutz des Lebens anderer und mein Überleben. Es geht um einen verantwortlichen Verzicht, der dem Leben dient, indem ich mein Leben beschränke.
Längst ist deutlich, dass das Infektionsgeschehen nur ein Teil des Krankseins ist, das das Leben bestimmt. Ist die Infektion abgewehrt, verändern sich die Symptome. Der Eindringling wird kontrolliert. Ich darf mich wieder einmischen in die Außenwelt. Doch kehrt allein damit die Vertrautheit mit mir und meinem Leben zurück?
Der Körper braucht seine eigene Zeit, um aus der Abwehr des Fremden wieder zum organismischen Alltag zurückzukehren. Es bedarf wohl einer eigenen körperlichen Sicherheit, damit leben zu lernen, dass die Antikörper, das immunologische Gedächtnis an den Eindringling ab jetzt für lange Zeit dableiben. Ich werde mich inzwischen daran gewöhnen, dass der Eindringling eine Weile von meinen Kräften lebte. Es ist auch meine Energie, mit der ich das Virus abwehrte, unter Kontrolle brachte. Das Überleben ist gelungen. Ist der, der überlebte, derselbe, der vorher einfach lebte? Worin habe ich mich verändert?
„Von Schmerz zu Schmerz, von Fremdheit zu Fremdheit ist – bin „ich“ am Ende nichts als ein dünner Faden.“ (Nancy 2000, S. 45) Am einen Ende ist er angebunden an die Erinnerungen, die Vergangenheit, an den, der ich einmal gewesen bin und immer noch bin. Das andere Ende ist offen. Darin besteht die Freiheit meiner Existenz. Ich kann es an jeden gegenwärtigen Augenblick binden, den ich so in meinen Lebensfaden einbinde. So werden die vielen Gegenwärtigkeiten zur Wirklichkeit des Lebens. Etwas an der Fremdheit des Eindringlings nehme ich in mich auf: die Antikörper, die Erinnerung an den Schmerz, das Gedenken an mich während der Zeit des Elends.
Ich lebe mit Covid. Das ist der Unterschied zum rein philosophischen Versuch, wie ihn z.B. Giorgio Agamben (2021) vorlegte. Er warnt vor der biopolitischen Macht des Ausnahmezustandes der verschiedenen pandemischen Gesetzgebungen, die unbemerkt zur Regel werden können (2021, S. 38 ff.) Durch die Infektion und das daran sich anschließende Kranksein ist das Coronavirus nicht nur eine abstrakte Möglichkeit, sondern ein „Teil meines In-der-Welt-seins“ (Agamben 2021, S. 150) geworden. Es ist mir nicht ganz gelungen, während der Quarantäne „angemessene Vorkehrung zu treffen, ohne mich jedoch in Panik zu versetzen“ (Agamben 2021, S. 151), da ich meine Kräfte, auch die Kraft zum Denken, meine Konzentration und die Selbstverständlichkeit der Worte schwinden sehe – nicht wissend, wie vollständig ich mich erholen werde. Die Furcht davor, dass ich nach den ersten Altersschüben in einer nächsten Schwundstufe meiner selbst zu leben habe, hat nichts gemein mit dem „Ohnmächtig-sein-Wollen gegenüber dem Ding, das Furcht einflößt“ (Agamben 2021, S. 148). Ich erlebe es auch nicht als „Gegenteil vom Willen zur Macht“, wie Agamben an der Stelle weiter raisoniert. Die Ohnmacht kann ich nicht wollen. Sie stellt sich ein, wenn das Fremde ungefragt in mich eindringt und dort Prozesse auslöst, die zunächst durch den Körper zum Überleben hin gesteuert werden, das ich als Möglichkeit ergreifen kann – ebenso wie das Ableben, wenn die Abwehr versagt. Das ist meine Freiheit und meine Verantwortung, ein human verstandener Wille zur Macht: leben oder sterben.
Quellen:
Agamben, G. (2021): An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Wien (Turia+Kant)
Nancy, J.L. (2000): Der Eindringling. Das fremde Herz. Berlin (Merve)
Etymologisches Wörterbuch des Deutschen ( 1989; ed. Pfeifer, W.). Band 1. Berlin (Akademie Verlag)