„Dieses Buch erschien zuerst im Frühling 1990, in diesem wunderbaren politischen Frühling, im Westen. Im Westen und nicht im Osten, wo ich es schon zwei Jahre zuvor beim Aufbau-Verlag abgegeben hatte.“ (S. 5) Es ist ein „altes“ Buch, basierend auf Lesetexten H. Schuberts aus den Jahren 1984 bis 1988. Das ist die erste historische Ebene, die das Buch erschließt. Sie dehnte sich und war kompliziert; denn sie hat mit dem schwierigen Zugang zu dem Material zu tun, das den Texten im 2021 im dtv-Verlag vorliegenden Taschenbuch zugrundeliegt.
Das Material selbst erschließt die zweite geschichtliche Ebene des Buches. Es stellt „zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich“ zusammen, wie der Untertitel ankündigt. Zum Teil lagen die von H. Schubert recherchierten Quellen in den Archiven der DDR, zum Teil in Archiven in Westberlin. Sie erzählt im Abschnitt „Judasfrauen“ die Geschichte der Recherche, in der sie ein kaum erschlossenes Thema verfolgt: Frauen im Dritten Reich, die ohne dringende Veranlassung oder politischen Druck Menschen an die Kreisbehörden oder direkt an die Geheime Staatspolizei verraten. Zuweilen waren die Denunziantinnen zufällige Zeuginnen kritischer Äußerungen gegenüber dem Zustand und der Regierung Deutschlands während des Krieges, manchmal standen sie ihren Opfern nahe, hatten deren Vertrauen erworben.
Das Buch hat eine dritte Ebene, die mit der Profession der Schriftstellerin Helga Schubert zu tun hat. Sie ist ausgebildete klinische Psychologin und hat als solche teilweise hauptberuflich, teilweise im Nebenberuf von 1963 bis 1987 in verschiedenen therapeutischen Kontexten gearbeitet. „Frauen, die andere Menschen durch ihren Verrat töteten. Was waren das für Frauen?“, ist die leitende psychologische Frage der Schriftstellerin in ihren Erzählungen. Ihre Mutter wendet zwei Fragen zum Thema des Buches ein: „Fühlst du dich denn überhaupt befugt, über so etwas zu schreiben?“ (S. 15) Und: „Warum sprichst du eigentlich dauernd von Frauen?“ (S. 16)
H. Schubert antwortet mit einer klaren Intention: „Mich stört die Frauenveredelung: So sensibel, so zart, so kooperativ, so mütterlich, so mitleidig, so kreativ, so authentisch sind wir nicht. Wir sind auch böse und auch gefährlich, auf unsere Weise. Sobald ein Mensch auf einem Sockel steht, möchte ich den Sockel zerschlagen.“ (S. 16) Das ist die vierte Ebene dieses 174 Seiten reichen Buches: Sie setzt die Auseinandersetzung mit den Bedingungen, unter denen bestimmte Bilder von Menschen entstehen und sich performativ auf die kollektive Meinung auswirken. Diese Gefahr der Sockelstellung wächst unter den Verhältnissen in Diktaturen. Die Ideologie zeichnet bestimmte Menschen dadurch überlebensgroß, dass das Menschliche auf wenige erwünschte Eigenschaften verkürzt wird, die dann umso größer erscheinen..
Das Buch ist während der zweiten Diktatur auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert veröffentlicht worden, am Ende der DDR als deutschem Staat in der BRD als dem anderen deutschen Staat. Es beschreibt denunzierende Frauen in der ersten Diktatur auf deutschem Boden, in der Hitlerdiktatur.
Die Erzählungen über die zehn Frauen, die andere durch ihre Denunziation zu Tode oder mindestens in Haft gebracht haben, sind aus meiner Sicht meisterhaft. Der Autorin gelingt ein Stil, den bei aller Sachlichkeit in Wort und Satz eine vorsichtige, detektorische Empathie kennzeichnet. Sie verbindet dazu Schilderung, inneren Dialog bis zur direkten Rede in einer berichtenden Narration, in die feinsinnig Linien psychologischer Anamnese und Analyse einbezogen sind.
Zwei prominente Opfer von Denunziatorinnen in der Lebensumgebung stellt H. Schubert vor. Dr. Carl Goerdeler, der Oberbürgermeister in Leipzig war und zum Kreis um Claus von Stauffenberg gehörte, wäre nach gelungenem Attentat auf Hitler wahrscheinlich Reichskanzler geworden. Helene, „politisch nicht interessiert“ (S. 39), erkannte Goerdeler auf einem Fahndungsfoto zum Stauffenberg-Attentat. In ihrer Jugend begegnete sie wiederholt Goerdeler, der damals Oberbürgermeister in Königsberg war, der Geburtsstadt von Helene, die dort auch arbeitete. Sie bedrängt ihren Vorgesetzten, der ihre Beobachtung für eine Verwechslung hält, Goerderler anzuzeigen. Sie tut es schließlich selbst. Ihr Lohn für die Denunziation: ein Besuch bei Adolf Hitler und eine Million Reichsmark. Zwei Tage nach der Verhaftung Goerdelers fällt sie einige Tage in ein Nervenfieber. „War es die Erwartung, vom mächtigsten Mann im ganzen Land, vom Führer, bald berührt zu werden? An der rechten Hand, die Innenfläche dieser Hand an seiner? … War es der Sieg im Wettlauf: Ich kann besser als ihr alle beobachten, mich besser als Sie, mein Vorgesetzter, erinnern? Ich bin nicht klein und nicht dumm. … Hat sie vom Blut gekostet, das die Mächtigen der Welt an jedem Tag trinken?“ (S. 47 f) Aus diesen Fragen spinnt H. Schubert das Gedankennetz, in dem sich die Deutungen des Lesers verfangen können.
Das andere prominente Opfer einer weiblichen Denuntiation ist der 27-jährige deutsche Nachwuchsvirtuose am Klavier, Karlrobert Kreiten. Seine Verräterin stammte aus dem Freundeskreis seiner Mutter. Auf ihre Hinweise hin wird er vor einem Konzert in Heidelberg festgenommen. „Nach zwei Wochen wurde er ins Gestapo-Gefängnis nach Berlin gebracht und dort seiner Verräterin gegenübergestellt. Was mochte die Frau empfunden haben, als sie in das hungrige und zerschlagene Gesicht des Sohnes ihrer Freundin blickte?“ (S.99) Diese dem Journalismus angenäherte, berichtende und zugleich hinterfragende Sprache H. Schuberts unterstreicht das Groteske der Denunziationen.
Am meisten berührte mich, gerade auch durch die sprachlich meisterhafte Darstellung, die Erzählung „Die Vertrauensperson“ (S. 101 – 141). Es ist der umfangreichste Erzähltext im Buch. Der Nachkriegsprozess gegen Dagmar I., einer in Deutschland verheirateten Schwedin, dauerte fast einen Monat lang. H. Schubert verlässt die berichtende Schilderung. Sie bedient sich, um die Frau und ihre Taten darzustellen, des inneren Monologs der Angeklagten. „Du, mein Richter, bist schön, braunäugig, kindlich. Du willst vermutlich gerecht sein. Höflich bist du, fast zart, mein lieber Richter. Du ähnelst einem der elf, die als meine Opfer gelten, du ähnelst Bruder Paulus, dem Geköpften. Er vertraute mir so. Ich war seine einzige Vertraute. Vielleicht hast du Mitleid mit mir? Ich könnte doch deine Mutter sein.“ (S. 103)
In diesen wenigen, Wort für Wort das Manipulativ der Angeklagten aufbauenden Sätzen, wird wie in einer Opern-Ouvertüre die gesamte Thematik des Prozesses vorweggenommen. Dagmar I. erscheint als histrionische Persönlichkeit. Sie erschleicht, in einer zweckdienlichen Ehe mit einem spröden Gelehrten lebend, das Vertrauen von Menschen mit gesellschaftlichem Ansehen, um sie dann zu denunzieren. Einige ihrer Opfer bezahlten das Vertrauen zu ihr mit dem Tod. „Alle haben sie büßen müssen. Für ihren Hochmut.“ (S. 112) Denn keiner der von Dagmar I. Umworbenen hätte sich aus echtem Interesse mit ihr abgeben. Sie gehörte nie wirklich zu denen, die sie als ihre gesellschaftliche Welt wähnte.
In ihrer Stellungnahme im Prozess erklärt sie dem Richter ihre Unschuld: „Wer mordet, hat Macht. Wer die Macht hat, darf richten. Aber ich habe nichts Böses getan. Ich war machtlos. Der Tod muss sein, der Tod gehört schließlich zum Mord, Herr Richter. Warum macht man sich sonst die Mühe des Mordens? Und es ist eine Mühe. Ein Mord erfordert einen Vorsatz und eine Vorbereitung, das haben sie studiert und mussten es für die Prüfung wiederholen. Und ein niedriges Motiv: Gier nach Geld, Macht oder Sex. Das niedrigere Motiv ist das wichtigste von der Dreieinigkeit. Ein kleiner Fanatismus – er muss gar nicht durchdacht sein – in der Weltanschauung, der Politik, der Religion entschuldigt den Mörder. Der Mörder ist kein Mörder mehr: Ein mildernder Umstand ist da. Aber ich brauche den mildernden Umstand nicht, ich bin keine Mörderin.“ (S. 113 f.) Sie kann alles aus der Warte der gekränkten Persönlichkeit erklären. Ihre Perspektive widerspricht den Aussagen der Zeugen. Sie durchschaute, worin die Einzelnen, die sie kränkten, manipulierbar waren: die Gier nach Geld, nach Macht und Sex. Sie legte es an geeigneter Stelle in geeigneter Form darauf an, dass die Denunzierten sich ihr gegenüber überschätzten und unvorsichtig wurden. Dann gaben sie preis, was Dagmar I. für den Verrat nutzte. Sie, ein Spitzel des Staates ohne Honorar, nur für die Vergünstigung, mehrmals im Jahr nach Schweden ausreisen zu dürfen.
Dagmar I. fasst ihr Plädoyer zusammen: „Ich bin unschuldig. Ich war nur ein Stein. Nur der erste Stein einer Steinlawine. Ich bin eine Gedankentäterin. Nur mit Buchstaben, geschriebenen Worten, soll ich anderen geschadet gaben?“ (S. 140) Gedanken als Anstoß, der zur Verurteilung, zur Bestrafung, zur Hinrichtung führt. Jene scheint so weit vom Anstoß entfernt, dass die Verräterin eine Ursächlichkeit nicht mehr auszumachen vermag. Sie erklärt sich für unschuldig. Wieviele Befehlshaber, Kommandanten, Anstifter in den Kriegen unserer Tage werden sich genau dieser Argumentationsfigur bedienen? „Dieser ganze Aufwand, diese vielen Zeugen. Wegen Beihilfe zu Mord wollen sie mich belangen. Niemals werden sie mich dafür verurteilen können. Denn ich habe nicht beim Morden geholfen. Es sind nicht einmal alle tot, die ich tot haben wollte. … Auf mein Geständnis wartest du umsonst.“ (S. 141)
„Judasfrauen“ verfolgt ein ignoriertes Thema: die Frau als Denunziantin. H. Schubert vermeidet es, die Motive der zehn beschriebenen Frauen vereinfacht über einen Leisten zu scheren. Sie lässt jeder ihre individuelle Motivation. Das Gemeinsame ist, dass das Frauenbild des Dritten Reiches sie alle schützte. Schubert zeigt, dass Frauen eben auch böse und auch gefährlich sein können, auf ihre individuelle Weise und unter dem Schutz der ideologischen Stellung. In der Debatte um Geschlechtsrollendiversität wirft dieses Buch eine wichtige Frage auf: Wie vereinfacht nehmen wir einander wahr, wenn wir nicht ständig und kritisch unsere ideologischen Bilder von einander hinterfragen? Wer intelligent, pragmatisch oder verformt genug ist, der hängt sich solche Debatten wie ein Mäntelchen um, unter dessen Schutz sie oder er die ureigensten Interessen unverhohlen zum Schaden anderer verfolgt.
Wie beendete E. Heidenreich ihre Literatursendung? „Lesen!“
Schubert Helga: Judasfrauen, 2. Aufl. 2021, München, dtv-Verlag TB-Nr.14821 (Alle Seitenangaben im Text bezieht sich auf diese Ausgabe.)