Kazuo Ishiguro – Roman (1989)
Schwer fiel es mir, den Prolog ganz zu lesen. Die gewundene, sich gewissermaßen selbst in den Arm fallende Ausdrucksweise des Protagonisten, Mr Stevens, des Butlers in Darlington Hall, machte es mir nicht leicht.
Darlington Hall ist ein englisches Herrschaftshaus. Seit dem Tod Lord Darlington’s, dem Mr. Stevens als Butler das Haus führte, besitzt der US-Amerikaner Mr Farraday das weitläufige Anwesen. Farraday bietet dem Butler 1953 anlässlich einer längeren Reise in die USA an, sich eine Woche frei zu nehmen. Ihm stehe der Ford Farraday’s zur Verfügung, um ein wenig über’s Land zu fahren. „Der Umstand, dass meine Einstellung zu ebendiesem Vorschlag im Verlauf der darauffolgenden Tage eine Änderung erfuhr, ja, dass die Vorstellung eines Ausflugs in die Westprovinzen in meinen Gedanken einen breiteren Raum einnahm, ist zweifellos – und warum sollte ich das verschweigen – wesentlich dem Eintreffen von Miss Kentons Brief zuzuschreiben, ihrem ersten seit fast sieben Jahren, wenn man die Weihnachtsgrüße nicht mitrechnet.“ (S. 17) So kommt die zweite wichtige Hausangestellte von Darlington Hall ins Spiel des Romans: die leitende Haushälterin. Die Beziehung der beiden „Köpfe“ des Hauspersonals grundiert die rückblickende Erzählung des Butlers wie ein Ostinato.
Der Roman erzählt die Reise des Butlers als Journal dieser sechs Tage. In die konkreten Schilderungen der Reiseereignisse flicht Mr Stevens ausführliche Rückblenden ein, die bis in die zwanziger Jahre des 20. Jhdts. reichen. So erfahren wir von einigen inoffiziellen Zusammenkünften politisch einflussreicher Persönlichkeiten in Darlington Hall. Wir gewinnen Einblicke in das Selbstverständnis großer Butler. Denn wir LeserInnen haben teil an Mr Stevens Gedanken zu Würde und Loyalität, den Grundlagen des Butler-Seins. Mr Stevens gibt in der Geschichte seines Vaters, den er als einen „Butler von erstem Rang“ (S. 70) unter die herausragenden Butler damaliger Zeit einreiht, einen verhaltenen biographischen Einblick. Am letzten Abend eines mehrtägigen, inoffiziellen und internationalen Treffens in Darlington, stirbt Mr. Stevens Vater dort an einem Schlaganfall. Mr Stevens resumiert diesen denkwürdigen Abend: „Dennoch mag man, bedenkt man den Druck, dem ich an diesem Abend ausgesetzt war, der Ansicht sein, dass ich mich nicht völlig überschätze, wenn ich den Gedanken vorzubringen wage, dass ich vielleicht den zahlreichen Anforderungen gegenüber zumindest in bescheidenem Maße eine ‚Würde‘ bewiesen habe, die auch einer Persönlichkeit wie Mr Marshall [ein Maßstände setzender Butler, C.R.] angestanden hätte – oder, was das betrifft, meinem Vater.“ (S. 141)
Zwei solcher Treffen in Darlington Hall sind es, die in elegischer Breite beschrieben werden: jenes von 1923 und ein zweites, völlig anders geartetes, wohl in der Anfangszeit des Dritten Reiches. Die Berichte über die beiden Treffen, das erste zur ökonomischen und politischen Last der Versailler Verträge für Deutschland, und das zweite, in dem ein Treffen des britischen Königs mit Adolf Hitler vorbereitet werden sollte, versöhnten mich mit dem Text. Lord Darlington, ein ehemaliger britischer Außenpolitiker, mit einflussreichen Persönlichkeiten gut vernetzt, hatte auf Reisen nach Berlin die dortige schwierige ökonomische und soziale Lage in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wahrgenommen. Seinen außenpolitischen Standpunkt gegenüber Deutschland unter den Versailler Verträgen hatte er neben den Reisen auch durch die Freundschaft mit dem Deutschen Karl-Heinz Bremann entwickelt: „Ich habe im Krieg für die Gerechtigkeit in dieser Welt gekämpft. Soweit ich das verstand, habe ich nicht an einem Rachefeldzug gegen das deutsche Volk teilgenommen.“ (S. 97) Die überraschende Nachricht vom Suizid seines Freundes Bremann in Deutschland führt zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der dortigen Lage und zur dreijährigen Planung und Vorbereitung der inoffiziellen Konferenz im Jahr 1923. An ihr nahmen britische, deutsche, ein französischer und ein amerikanischer Politiker teil. Der aus meiner Sicht interessanteste Beitrag in der Konferenz ist die Rede des Amerikaners, Mr Lewis. Durch Monsieur Dupont, den französischen Kollegen, offen und schwer angegriffen führt Lewis in seinem Redebeitrag weg vom Inhalt des Treffens hin auf die TeilnehmerInnen und den Ablauf des Treffens: „Sie alle hier, entschuldigen Sie, meine Herren, aber Sie sind nichts als ein Haufen naiver Träumer. Und wenn Sie nicht darauf bestünden, sich in Angelegenheiten einzumischen, die die ganze Welt betreffen, wären Sie sogar ganz reizende Menschen.“ Der Redner wendet sich dem Gastgeber, Lord Darlington, zu: „Was ist er? Er ist ein Gentleman. … Ein klassischer englischer Gentleman. Anständig, aufrichtig, wohlmeinend. Aber seine Lordschaft hier ist ein Amateur.“ (S. 132) Mit diesem Satz macht der Roman, dessen rückblickende Schilderungen sich bisher in der ein Jahrhundert zurückliegenden Welt des britischen Empires bewegen, einen Sprung in die politische Gegenwart. Lewis fragt die Anwesenden, „ob sie eine Ahnung davon haben, wohin die Welt um uns herum sich eigentlich entwickelt. Die Zeit, als sie noch nach Ihrem noblen Instinkt handeln konnten, ist vorbei. Nur scheinen Sie das hier in Europa noch nicht zu wissen…. Sie hier in Europa brauchen Fachleute, Professionelle, die Ihre Angelegenheiten in die Hand nehmen.“ (S. 132)
Es geht in den Ausführungen des Amerikaners um nichts weniger als den jüngst von D. Trump wiederholt geäußerten Vorbehalt gegenüber „Good old Europe“. Das zielt in die hochaktuelle Frage, ob wir Europäer die internationale Geschichte seit 1945 und erst recht seit 1989, dem Fall der deutschen Mauer und damit der beiden politischen Blöcke von Ost und West, wirklich verstanden haben. Haben wir uns zu sehr von der neoliberalen ökonomischen Prosperität Mittel- und Westeuropas leiten lassen? Überließen wir es den USA, weltweit das us-amerikanische Verständnis der Demokratie durchzusetzen, während die EU-Europäer im Schlepptau Deutschlands ihre ökonomischen Interessen verfolgten, einschließlich der Bereitschaft zu unbedingter Rohstoff-Abhängigkeit?
Im Roman erwidert Lord Darlington: „Was Sie als ‚Amateurtum‘ bezeichnen, Sir, scheint mir das, was wohl die meisten unter uns hier immer noch lieber mit dem Begriff ‚Ehre‘ bezeichnen.“ (S. 133) Dieser Satz Darlingtons wirkt wie ein hellsichtiger, kritischer Kommentar der deutschen Außenpolitik unter der Kanzlerschaft A. Merkls: Auch sie beharrte auf dem, was im Roman mit Ehre bezeichnet wird und heute als Eintreten für die Menschenrechte gesehen werden kann. Sie beharrte darauf, solange die wirtschaftlichen Interessen EU-Europas nicht von den Menschenrechten tangiert wurden. Man kann das als „Amerikanisierung“ – oder Professionalisierung? – der europäischen, der internationalen Politik sehen. Lord Darlington fährt in seiner Erwiderung an Mr Lewis fort: „Außerdem, Sir, … glaube ich, durchaus eine Vorstellung von dem zu haben, was Sie ‚Professionalität‘ nennen. Es scheint so viel zu bedeuten, wie ans Ziel gelangen durch Betrug und Manipulation. Es bedeutet, seine Prioritäten nach Habgier und Vorteil auszurichten anstatt nach dem Wunsch, dem Guten und der Gerechtigkeit in der Welt zum Sieg zu verhelfen.“ (S. 133) Liberale Ökonomie statt Ethik?
Es ist tragisch, wie das zweite inoffizielle Treffen, das Mr Stevens aus der Perspektive des Butlers schildert, jenen ehrenhaften Lord Darlington gerade als Opfer der Manipulation seitens der Nationalsozialisten zeigt. Lord Darlington will kein jüdisches Personal mehr in seinem Haus dulden. Mr Stevens entlässt trotz des Protests von Miss Kenton, der Haushälterin, zwei verdiente, jüdische Hausangestellte. Für den Butler ist das der Loyalität und dem Vertrauen in die Urteilskraft des Lord geschuldet. Dieser deutliche Hinweis auf die ideologische Korrumption im Denken des Lord’s verdichtet sich im Anlass jenes weiteren inoffiziellen Treffens in Darlington Hall, an dem der britische Premierminister, der britische Außenminister und der deutsche Botschafter in Großbritannien, Herr von Ribbentrop, teilnehmen. Zugleich ist Mr Cardinal, der Patensohn Lord Darlington’s, im Haus. Er zieht den Butler ins vertrauensvolle Gespräch. „Wenn Sie seiner Lordschaft zugetan sind, sollten Sie sich da nicht Gedanken machen“, fragt der junge Mann den Butler (S. 263). Mr Cardinal, selbst Lord Darlington sehr verbunden, legt dem Butler den Verdacht nahe, Lord Darlington werde unter Benutzung seines Ehrbegriffs durch die deutschen Nationalsozialisten manipuliert: „Einen ganz kleinen Verdacht, dass Herr Hitler durch unserer teuren Freund Herrn von Ribbentrop Seine Lordschaft herumschiebt wie eine Figur auf dem Spielbrett …?“ (S. 264) Dann bezieht sich Mr Cardinal auf die damalige Rede des Amerikaners von 1923: „er deutete auf seine Lordschaft und nannte ihn einen Amateur. … Nun, ich muss sagen, Stevens, dieser Bursche hatte recht.“ (S. 265) Aus der Sicht des jungen Mannes ist Lord Darlington „die nützlichste einzelne Schachfigur“ Hitlers (S. 266) in Großbritannien. Und jetzt werde der Lord dazu missbraucht, den Besuch des Premierministers und des britischen Königs bei Hitler zu vermitteln.
Während dieser aufwühlenden Gespräche versieht Mr Stevens seinen Dienst. Er kümmert sich um die Gäste. Miss Kenton informiert ihn darüber, dass sie zwecks Heirat Darlington Hall verlassen werde. Das ohnehin bedrohte Lebensgerüst des Butlers gerät an diesem Abend, so vermutet es der Lesende, vollends ins Wanken. Für Mr Stevens aber ist es ein Triumph seiner Professionalität. Er war „der entscheidenden Nabe der Dinge so nahe gekommen, wie dies ein Butler nur wünschen konnte“ (S. 270). „Ich sehe kaum eine andere Erklärung für das Triumphgefühl, das mich an jenem Abend erhob.“ (S. 270)
Am letzten Tag der Reise trifft er die frühere Miss Kenton, seit Jahren verheiratet mit Mr Benn. In aller Distinguiertheit des Butlerseins lässt er jenen erschließenden Satz der immer noch Vertrauten stehen. Sie sagt, dass es in der zufriedenen Ehe mit Mr Benn auch trostlose Tage gebe, in denen sie sich „ein besseres Leben, das man vielleicht hätte führen können“, vorstelle. „Zum Beispiel denke ich dann an ein Leben, das ich mit Ihnen zusammen vielleicht geführt hätte.“ (S. 281) Nach kurzer Nachdenklichkeit antwortet er: „Wir müssen beide, wie Sie das schon betonten, für das dankbar sein, was wir haben.“ (S.281)
Ist es das, was vom Tage übrig bleibt? Dürfen wir uns mit der Dankbarkeit für das, was wir haben, zufriedengeben? Sollen wir nicht lernen, dass Werte, Ehre, Ethos uns verletzlich machen? Anfällig für Manipulation und Propaganda? Der anfänglich für mich so mühsame Roman von 1989 gewann ab der Textmitte, also mit dem Treffen von 1923, fast tagesfrische Aktualität: Das Entsetzen von uns, der vermeintlich so kritischen Generation von 1968, als Putin im Februar 2022 rücksichtslos und alle politischen Codices verhöhnend die Ukraine überfiel, steckt noch immer in den Knochen. Die aggressive Abwehr des begründeten Verdachts der Missachtung der Genfer Konvention im Verteidigungskrieg der Ukraine durch deren PolitikerInnen, die Propaganda auf beiden Seiten: die menschen- und kulturverachtende Russlands und die verbissen rechtfertigende der Ukraine, sie zeigen, dass der im Roman apostrophierte Begriff von Professionalität in der Politik zu einer politischen Haltung der Werte, der Ehre und des Ethos leicht in Widerspruch gerät. Wenn Politik auf die Kommunikation des Mechanismus der Machtstrukturen reduziert wird, wenn Politiker nicht zugleich ethische Kompetenz und Reflexion und damit die Verletzlichkeit des Menschlichen kultivieren, dann geben wir Herrn Putin, Herrn Xi Jinping und anderen Autokraten recht. So tragisch, wie es der Roman Kazugo Ishiguras an der Gestalt des Lord Darlington und seines Butlers schildert.
Kazuo Ishiguro (Neuausgabe 2021): Was vom Tage übrig blieb. München (Blessing) – Seitenzahlen im Text beziehen sich immer auf diese Ausgabe.