Ein halbes Jahr lang Krieg in der Ukraine. Die Wirkungen zeitigen sich nicht nur in Bildern und Berichten. Sie sind unmittelbar im Leben spürbar. Zunehmend mehr Menschen in Deutschland fühlen sich bedroht. Steigende Kosten. Angekündigter Mangel. Der für viele von uns gewohnte Wohlstand gerät ins Bröckeln. Viel zu viele kommen an den Rand des Überlebens in einer reichen, geldverwöhnten Gesellschaft. Was mir gerade zusetzt, ist der Rückzug der Regierung auf Mangel- und Defizitverwaltung. Die stete Anpassung an das gerade noch Mögliche und das demnächst nur noch wahrscheinlich Mögliche führt zur Katastrophisierung der Wahrnehmung. Der Wahrnehmung folgt der mentale Focus auf Gefahren. Gefahren modifizieren das Verhalten in Richtung Reaktion.
Wie reagieren wir passend?, scheint die leitende Frage derzeitiger Politik zu sein. Passend reagieren verbindet das Vermeiden der Ausbreitung von Angst und Konflikten in der Gesellschaft damit, die längst greifbare Schwundstufe des Wohlstands mit dem Versprechen auf ein künftiges „Es wird wieder besser“ zu verbinden. Die anvisierten Mittel sind die immer gleichen: sich einschränken, subventioniert werden und schließlich mehr leisten. Die beredte Zukunftsvorbereitung unseres Landes seitens der Ampelkoalition, die Verjüngung der demokratischen Kultur, die Mentalisierung des Klimawandels als Motivation für die Veränderung der Einstellungen im Wohlstandsverhalten, die Haltung klugen Verzichtens, kurz: die Begabung der Politik und des Bürgerinteresses mit Phantasie, die das Überleben zum Weiterleben wandeln sollte, das alles hat Putins Krieg und die fordernde Verteidigungsantwort der Ukraine darauf in das graue Management der Alltagsdefizite verwandelt, die uns als Kampf um’s pure Überleben verkauft werden.
Putins Krieg bedroht die Phantasie. Denn Phantasie überwindet die Limitationen der Zeit. Sie öffnet Räume, die selten oder nie betreten wurden. Sie fügt zusammen, was durch Management nie zusammengeht. Sie nimmt den Fakten die Erdenschwere, ohne sie zu Fakes aufzublasen. Phantasie ist nicht laut, ist zunächst auch nicht öffentlich. Sie regt sich, schwingt sich schließlich auf, wenn die Angst weicht. Sie sprengt die Enge des Gedankens nicht durch überbordende Affekte. Phantasie keimt behutsam. Sie bewegt sich den Gedanken entlang, indem sie ihnen tiefe Gefühle beimischt: Was wäre, wenn … Die Tiefengefühle grundieren die Gedanken, ohne sich in Begründungsdiskurse zu verstricken. Die Gedanken bewegen sich auf der Spur der Phantasie unbeschwerter, eleganter, kaleidoskopischer als im strikten Diskurs. Fügungen entstehen neben den systematischen Synthesen und bilden sich, bis sie zu Bildern werden, denen zuweilen Utopisches und Visionäres eignet. Die Gedankenverbundenheit der Phantasie hindert sie, zur Halluzination oder zum Delir auszuufern. Phantasie bleibt in der Sprache und im gestalteten Bild. Sie bleibt an Bedeutung gebunden. Phantasie bleibt beschreibbar.
Der Möglichkeiten der Phantasie haben wir uns schon lange vor Putins Krieg beraubt. Die Allgegenwart des Meinens, das immer mehr Menschen für das Faktische halten, ersticken die Phantasie im Keim. Das ist wörtlich zu nehmen. Meinen ist interessengeleitete Beliebigkeit. Fakten lösen sich in Fakes auf. Interesse und Einfluss verbinden sich im Modus des Influencings. In diesem Umfeld ist für Phantasie, wie ich sie gerade beschrieb, kein Raum und schon gar keine Zeit. Denn Influencing erspart den Gedanken und führt direkt zu Handlung, meist zum Kauf oder zum Anschluss an eine Meinung. So erstickt die Phantasie im Keim. Ihr fehlt der Gedanke, an dem sie sich empor rankt.
Putins Krieg bedroht die Phantasie. Das ist der Unterschied zur Allgegenwart des Meinens. Propaganda ist aufklärbar und erklärbar. Influencing nicht. In der Propaganda geht es um die Umdeutung von Fakten. Der semantische Raum bleibt. Auch Propaganda hat eine darstellbare Grammatik, die des Kontrafaktischen. Influencing ist die Verbindung von Meinung und Interesse. Es gibt nichts Kontrafaktisches mehr, weil es auch keine Fakten mehr gibt, von denen sich die Propaganda abstößt. Influencing beruht auf Konstrukten, Fakes, deren Kern Stimmungen sind. Dazu können Gegenstimmungen erzeugt werden. Durch Versprachlichung und Bebilderung werden aus den Stimmungen Meinungen, reine Fakes zum Ziel der Werbung. Dazu können jederzeit Gegenmeinungen erzeugt werden. In diesem Gemenge hat der Gedanke keinen Platz mehr; deshalb fällt Argumentation schwer. Wenn es keine Gedanken gibt, an denen die Phantasie aufkeimen kann, dann ist sie im Keim erstickt.
Putins Propaganda lässt Phantasie zu. Wenn wir das notwendige Management nicht absolut setzen, wenn wir uns durch die Gewalt des Krieges nicht einschüchtern lassen und nur reagieren, sondern eigene Gedanken zum Geschehen entwickeln, wenn Friedensgedanken geäußert werden dürfen und nicht gleich als Naivität und Verrat an der herrschenden Unterstüzungsdoktrin gegenüber der Ukraine abgeurteilt werden, dann erhält die Phantasie eine Chance. Lassen wir uns nicht einschüchtern, sondern leisten wir uns, die wir einmal das Volk der Dichter und Denker waren, die Gedanken, an denen die Phantasie aufkeimen kann, auch die Phantasie vom Frieden. Sie kann in Verbindung mit dem Gedankenkeim die Wahrnehmung wieder über das reaktive Management hinaus weiten. Wir werden dann sehen, wieviel Angst notwendend ist und wieviel Freiheit sinnvoll. Wir kommen wieder in das proaktive Leben, zu kreativen Prozessen mit überraschenden, vielleicht sogar erstaunlichen Ergebnissen. Vielleicht zu einem Dialog, in dem der Frieden wieder eine Chance hat.