Nein, ich frage nicht

In den letzten Wochen, im Spätsommer, standen viele Fragen auf. Fragen zum Klimawandel, zum Wahlergebnis in Italien, zum europäischen und zum deutschen Verhalten in der Energiepolitik, wieder Fragen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine, Fragen zum Wahlkampf in Brasilien, zu den Statements in der UN-Vollversammlung. Von allem wurde und werde ich affiziert, nicht kognitiv zur Argumentation oder zum Verstehen herausgefordert. Ich werde affiziert vom als Kommunikation ausgegeben Getöse der Meinungen. Meine Reaktion: Ich ärgere mich, welche Mühe die Sondierung, die hermeneutische Analyse der Sprechblasen macht, um das Wenige an wirklicher Nachricht des Tatsächlichen herauszufiltern.

Martin Heidegger fasste in seiner berühmten Vorlesung zu den Grundbegriffen der Metaphysik, die er im Wintersemester 1929/30 in Freiburg hielt, die Auseinandersetzung mit der kulturphilosophischen Darstellung der Lage seiner Zeit prägnant zusammen. Erstens in einer hermeneutisch-kritischen Feststellung: „Es besteht ein theoretischer Unterschied zwischen der Darstellung der geistigen Lage und der Weckung einer Grundstimmung.“ (Heidegger 2018, S. 114) Zweitens im Perspektivenwechsel der Fragestellung: „Wenn die kulturphilosophische der Deutung der Lage ein Irrweg ist, dann dürfen wir nicht fragen: wo stehen wir?, sondern müssen fragen: wie steht es mit uns?“ (ebd.; Kursive im Original) Drittens in einer Heuristik: „Wir werden gut daran tun, aus dem, wo wir stehen, zu entnehmen, wie es mit uns steht.“ (ebd.; Kursive im Original) 

Oft besteht die Antwort auf die vielen Fragen, die in den Spätsommerwochen aufstanden, darin, eine Ortsbestimmung vorzunehmen. Die Frage nach dem Standort heißt: Wo stehen wir? Ernüchternd erlebe ich, wie rasch die Positionen gewechselt werden oder durch die Ereignisse überholt scheinen. Neue Anpassungen im Standort sind erforderlich. Die Standortbestimmung „stellt allenfalls das Heutige unserer Lage dar, aber greift uns nicht“, ließe sich Heideggers Kritik von 1929 auf die Spätsommerfragen 2022 anwenden. Den Philosophen stellt die bloße „Dar-stellung“ des Menschen und seiner Lage nicht zufrieden. Sie gelangt „nie zu seinem Da-sein“ (Heidegger 2018, S. 113). Die Versuche, die Lage, auch die geistige Lage angesichts der Spätsommerfragen zu beschreiben, indem Positionen und Stimmungen erfasst werden, treffen das Dasein nicht. Wir hören und lesen stattdessen, welche Rolle wir im Gemenge einnehmen: wir, die Bürgerinnen und Bürger, sollen uns als die Gebeutelten der Lage sehen. Heideggers kritische Frage an die kulturphilosophischen Darstellungen seiner Zeit lässt sich auch an die derzeitigen Beschreibungen und Stimmungsbilder anlegen: „Sind wir uns selbst zu unbedeutend geworden, daß wir einer Rolle bedürfen? Warum finden wir für uns keine Bedeutung, d.h. keine wesentliche Möglichkeit des Seins mehr?“ (Heidegger 2018, S. 115; Kursiv im Original)

Darum geht es also, grundsätzlich bedacht: „eine wesentliche Möglichkeit des Seins zu finden“. Nicht um eine Lösung allein durch einen Abwehrschirm, wenn auch mit noch so beschwörender Geste durch den Finanzminister vorgetragen, nicht nur um das Mantra des „never walking alone“ des Bundeskanzlers, nicht um die qualvoll gewunden vorgetragenen Notwendigkeiten des Wirtschaftsministers. Sie alle weisen uns die Rolle der Gebeutelten zu und halten uns durch die vermeintlichen Wohltaten in dieser Rolle, in der wir dann zur dankbaren Wiederwahl des politischen Personals gebeten werden. Diese Angebote verfehlen uns als Menschen, weil sie uns – im Sinne Heideggers formuliert – nicht ergreifen. Sie nehmen uns das, was uns ausmacht, anstatt es aufzuwerten: die Möglichkeiten, die mit unserem Sein verbunden sind. Ich wage den Begriff der Würde an dieser Stelle. Würde gründet in den Möglichkeiten, die ich als Mensch in meinem Dasein habe. Das macht mich aus; denn in meiner Würde bin ich der Souverän meiner Möglichkeiten und auch, wie Gorgio Agamben dies in der Figur des „homo sacer“ (1995) erarbeitete, meines Unvermögens. Die wesentliche Möglichkeit menschlichen Seins besteht im Vermögen und seinem Unvermögen, ergeben die philosophischen Studien Agambens zu „homo sacer“ (Geulen 2022, S. 102). In diese Richtung ist zu denken, wenn wir uns die eine Frage stellen: Wie steht es mit mir? Bin ich meinem Vermögen der Freiheit und Verantwortlichkeit nahe? Erkenne ich mein Unvermögen, das, was mir in der Lage nicht möglich ist, zu entscheiden, zu verantworten?

Nein, ich frage nicht! Ich frage nicht im Sinne aller Spätsommerfragen, die mir in den Ohren klingen. Nein, ich frage nicht. Ich gehe meinem Vermögen und Unvermögen im Rahmen meiner Möglichkeiten nach.

Quellen:

  • Agamben (12. Aufl. 2019): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Geulen, E. (2022): Was heißt, sein ‚Unvermögen vermögen‘? Fragen von und an Agamben, in:
  • Largier, N. & Lemke, A. (Hg.): Theorien des Möglichen. Berlin (August-Vgl.), S. 87 – 103
  • Heidegger, M. (2018): Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-Einsamkeit. Frankfurt (Vitt. Klostermann)
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